KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
Montag, 10. Mai 2010, 14:24
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Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne und Schwerkraft
196. Kolumne
Der nachfolgende Text ist eine Zusammenfassung meiner Reflexionen zur Lyrik und Poesie im allgemeinen, darunter sind auch einige Abschnitte, die für KV entstanden.
KEINE BOJEN AUF HOHER SEE,
NUR STERNE UND SCHWERKRAFT
Gedanken für Daria Einbacher
1.
Der Schreiber ist beim Schreiben allein.
Jeder hat seine Art zu schreiben, er gibt sich selbst die Regeln. Er geht von sich aus und von der Welt. Der Autor macht sich im Schreiben kollektiv. Das Kollektive geht durch ihn hindurch - das ist dann gelungene Literatur.
Es ist die Crux vieler, nicht nur junger Autoren, dass sie allzu oft Tagebuchtexte schreiben, Weltschmerzmonologe, und darin ihren Beziehungsjammer ausgießen. In manchen Fällen geht das gut, nämlich wenn die Texte ins Allgemeine streben. Dafür ist eine gute Sprache Voraussetzung und die Abstraktion vom eigenen Ich in einem allgemein gültigen lyrischen oder epischen Ich, also durch Gestaltung, die von mir selbst weitgehend ab-sieht.
Wichtig ist der metaphorische Kern und seine Vernetzung mit der Welt. Der Lyriker muss sich in die Welt begeben. Er darf nicht träge sein und nur im Kopf leben. Seine Gedichte sollen Protokolle des Lebens sein, die Welthaltigkeit heißt aber nicht einfach nur: Ich. Oder: Ich und mein Weltbild. Es ist so leicht und bequem, im Ich-Tümpel zu baden. Es ist aber unmöglich, in so einem Tümpel ins Meer hinauszuschwimmen.
So haben wir auf der einen Seite die larmoyanten bis selbstverliebten Monologisten, auf der anderen Seite die Tempo- und Tageslyriker und die lyrischen Auskotzer.
Selbstdisziplin ist eine wichtige Voraussetzung für eine dichterische Entwicklung, dazu gehört natürlich Geduld und das Aushalten des Scheiterns.
Ich rede - das dürfte klar sein - nicht vom Texter just for fun (davon haben wir viel zuviel), sondern von dem Schreiber, dem es wirklich um Literatur geht und der nicht das lesen oder schreiben will, was er ohnehin schon kennt: Die Befindlichkeiten von ungezügelten Jammerlappen, die ihre Ich-Probleme zum Maßstab ihrer Weltbetrachtung machen.
2.
Am meisten bewirken die Werke für andere Werke.
Was sie für den einzelnen Leser bedeuten, weiß jeder nur für sich. Ich halte es mit Schopenhauer: Dass die Kunst uns tröstet in der Schwere unseres Seins. Nur sie vielleicht gibt uns einen Sinn für unsere Existenz. Von der Ruhe der Bilder geht ein Sturm in uns aus.
Ich bewerte die Wirkung meiner Texte nicht hoch, aber ich will wenigstens, dass die Leser neue Aspekte der (analog) erlebten Wirklichkeit erkennen können. Simulation? Nein. Übertreibung? In der Form, in der Bildlichkeit oder Symbolik ja, aber inhaltlich nie. Ich erlebe die Welt im kleinsten Maßstab immer als Kosmos: Schwer, und sinnlos ohne mein Zutun. Ich will Ironie, Humor, Scherz und Spiel meiner Texte nicht abstreiten, ich bin nicht gegen Unterhaltung, wenn die (verdeckte) Intention nicht verspielt sein will. Und doch sind alle diese Sageweisen zugleich ganz ernst gemeint.
3.
Was ich will
Ich will ein Kompendium meiner Welt-Anschauung schreiben, und da ich die Welt bin, ein Kompendium meiner selbst: Als Theater, als Spiel mit der Welt, also mit mir.
Und doch stehe ich auch in einem Leben, das ich nicht bin, in dem ich werde. Und was ich nicht werden kann, spiele ich in meiner Sprache.
Ich lebe eine unio mystica mit meinem alter ego, also mit der Welt in mir und außer mir: Ganz werden, ganz sein in der Metamorphose von Fragment zu Fragment. Das Fragment ist das Atom des Ganzen. Dabei ist mein spielendes Ich absolutistisch stark: Ich leite mich von mir selbst ab.
Mein Über-Ich ist Spielball des starken Ichs. Die Herrschaft des Es will ich nicht. Ich will die absolute Herrschaft des Ich, die eine intersubjektive Vernunftherrschaft des Einzelnen über sich selbst ermöglicht. Erst solche Ichs, die eine Herrschaft des Über-Ichs nicht benötigen, geben die Freiheit, eine mündiger lebbare Außenwelt zu erschaffen.
Die interne Affirmation meines Ichs (ich, Gott, bete mich an) ist die dialektische Voraussetzung seiner Aufhebung. Die Synthese ist nicht die Herrschaft eines Über-Es, sondern die Erhebung meines Unter-Ichs zu einem Ich der freien Mit-Ichs, um mich freier und reicher zurückzuerlangen.
Der dialektische Eskapismus ist eine weitere Voraussetzung, die eigene, und dann die Wir-Geschichte zu gestalten.
Mein höchster Wunsch ist Selbsterschaffung als Gegenbewegung zur Welt, wie sie mir widerfährt und mich verwundet.
Das Schreiben hat immer auch eine therapeutische Dimension, als Trost und heiteres Spiel mit mir und der Welt.
In der Tat, das ist die größte Aporie, zugleich der größte innere Widerspruch in (m)einem Leben: Zu wünschen, dass die Welt gebessert und der Tod besiegt werde, und insgeheim zu hoffen, dass sie ungefähr bleibe, wie sie ist, weil ich ohne Verletzung, ohne Todesgewissheit gar nicht leben, also gar nicht schreiben könnte. Ich könnte mich sonst nicht gebären, und mir bliebe unbewusst, dass sich die Welt in mir erschafft.
Ich will diese Widersprüche dialektisch begreifen, weil ich muss, und nur so, in einem ernsten Spiel, kann ich sie erleiden, er-leben, er-tragen und aufheben. Ich bin ein gesalbter Sisyphos.
Das doppelte Aufheben von These und Antithese, diese von Hegel geschaffene Denk-Bewegung, ist meine formale Religion.
4.
Splitterstaub
Dichten ist verbale Boulimie nach lexikalischem großem Fressen.
Und das Stärkste ist, dass wir alle so angefangen haben, und dass sogar davon etwas in uns bleibt: Dieses Überlebenwollen im Werk und in der Kommunikation mit anderen.
Der Lyriker ist der individualistische Versucher des kollektiven Bewusstseins.
Lyrik, die formalen Bindungen ausweicht, ist deswegen nicht wahrhaftiger. Wahrhaftigkeit kann sich auch in formaler Bindung behaupten und erzeugen lassen.
Es bleibt abzuwarten, ob eine Renaissance formal traditionell geprägter Lyrik wirklich präsent ist und Bestand haben kann. Vielleicht ja, weil fortgesetztes Jandln, Dadaisieren, Prosaisieren und Konkreteln längst in Sackgassen führte.
Es bleibt auch abzuwarten, ob Rückbesinnung auf Handwerkliches den Kunstbegriff und das Kunstgefühl erweitern hilft, oder ob es Haltsuche bedeutet in haltloser Zeit.
Das Sonett hat zerebrale Gefahren, öffnet narzisstische Fallen, ist also eine Art didaktisches Extremum.
Zeigen dass kann darf nicht sein, leicht muss das Sonett in seiner Schwere sein!
Das Richtige ist kein Maßstab, der genügt.
Der handwerkliche Akzent in der Literatur darf nicht zu scharf sein, so sehr heute Handwerkliches zu fehlen scheint. Handwerkliches Können wandelt sich außerdem. Heute sind es nicht Silben, Metrum, Reime. Die gegenteilige Wichserei im extrem langweiligen Experimentierexperiment ist auch nicht das rechte Maß der Kunst. Heutzutage ist im Grunde nur der Einzelfall beurteilbar.
Visuelle Poesie: Hier gelingt die schnelle Interpretation der Polyvalenz aus der Instant-Packung, da hat Pierre Garnier die Pop Art endlich in die Text-Sphäre reingezogen.
Die Syntax der Sprache wird weitgehend ersetzt durch eine Grammatik für Augen.
Konkrete Poesie: Da geht der Strich auf den Strich.
Wie sähe Poesie aus, in der alles sich verbindet: Eine Art visuelle Wortmusik?
(Die Idee des Gesamtkunstwerks auf minimalistischer Ebene.)
Was die Mixtur der Künste angeht, so ist jedes Gesamtkunstwerk-Streben und jedes Teilkunstwerk-Experiment in Ordnung. Aber ich befürchte, so mancher allzu platte Teil und die alles rettende und fliehende Ironie, dieser ganze nach innen umgestülpte
Hedonismus-Krampf, führen dazu, dass die Programme viel besser sind als ihre Inhalte, dass oft das Programm schon der ganze Inhalt ist, also kein Inhalt.
Nicht so leicht heute in der neuen Geniezeit aufzutauchen und nicht gleich wieder unterzugehen. Wer heute etwas sein will, muss schon als Legende anfangen, und die Legende muss sich bei näherer Betrachtung als rostfreier Stahl erweisen. Aber so war das schon immer, nur die Mittel (die Medien) ändern sich.
Manchmal denke ich, unser Denken hat doch recht viel zu tun mit der Quantenmechanik. Wir kombinieren alle Möglichkeiten der sprachlichen Elemente - in einem logischen Grobrahmen, wo Freiheit Zufall ist oder Zufall Freiheit, und die Rückkoppelung (Reflexion) eine Ahnung vom Ganzen, eine Art Transzendenz by doing.
Wir sind gar nicht im Käfig, sondern umgekehrt!
Das Quantensystem reflektiert sich nun selbst, es würfelt sich selbst und wird umgekehrte Messapparatur, es existiert also durch sich selbst, es ist sich selbst transzendent, könnte man sagen, und solche Absurdität von Autopoiesis ironisiere ich.
An der physikalischen Weltanschauungskatze hänge ich, da die Quantenmechanik viel mit meiner Lebensanschauung zu tun hat, sowohl die Wahrscheinlichkeitsrechnung mit ihrer Mixtur aus Zufall und Notwendigkeit (Jacques Monod) als auch die Austauschbarkeit oder das gleichzeitige Vorhandensein von Materie und Idee (Schein und Sein, Form und Inhalt).
Social Beat ist zu 99% das, was man fühlt, wenn man um die 20 ist, und was man besser nicht zu Kunst formen soll, wenn man immer noch keine Ahnung von Kunst hat... alle diese Durchschnittsgedanken, dieses ausgekotzte Nichterwachsenwerdenwollen: Selbst-Punktieren der Hirnflüssigkeit und Verteilen der Gedanken und Gefühle mit breitem Pinsel auf viele Blätter. Trocknen lassen. Dann die Blätter zerschnipseln und nach Reizwörtern collagieren. Kleine gesuchte Witzigkeiten sind Trumpf. Small talk, Sozial-Getue, leeres Kulturgehabe diese Selbstumarmungen. - Auf nicht-intellektuelle und im Grunde schon anti-intellektuelle Art intellektuell sein wollen - nee!
Mir gefällt das Kommunikative, die Musik des Rap und der Fluss der metaphysisch hingerotzten Gedanken, jedenfalls dann, wenn sie nicht vollkommen verlogen sind.
Ich hätte von Straßenkindern mehr gelernt als in der Schule und im Elternhaus. Die Mängel des breiten Bildungsbürgertums haben einen größeren Schaden in der Geschichte nicht nur des deutschen Volkes angerichtet, als man annimmt. Zu positiv wird selbst der Schatten puren Bildungswissens bis auf den heutigen Tag gesehen.
Wolf Biermann sagt das Wahre immer so entsetzlich schief, dass es dadurch wieder falsch wird, Biermanns Dialektik ist schizophrene ungehobelte Scholastik.
Meine Sorge ist nur, dass immer der Körper den Geist verrät, weil er stärker ist, es sei denn der Höchstkapitalismus ist Geist, aber das will ich nicht glauben. Oder alles Geistige ist nur eine andere Form des Körpers, das befürchte ich schon eher. In dieser schrecklichen Wahrheit richte ich mein Leben – mein Schreiben – ein als Traum oder Lüge in meinem kleinen Glück. Lebenserträglichkeit. Glückliche Zufälle erlauben mir so eine Denkweise. Das historische Wissen und das tägliche Studium der Mitmenschen warnen mich vor systematischer Solidarität, die erst den einzelnen, dann immer mehr, bald alle in ihrer Umarmung erstickt. Aber relative Solidarität ist lebensnotwendig - hier fehlt ein pragmatischer politischer Weg.
Dichtung darf nicht zu direkt sein. Sie soll ein moralisches Fundament haben, aber auf diesem Fundament muss etwas stehen, das nicht die Verlängerung des Fundaments bis zum Dach ist.
Politik soll Dichtung sein. Dichtung teilt mit, schildert, beschreibt genau, klagt, klagt an, ist Werk, ist Kunst, ist Kosmos im Kleinen. Dichtung führt zur Imagination neuer Bilder, Gedanken, Denkweisen, insofern ist sie auch lehrhaft, sie schreit, singt, weint, sie schweigt sogar manchmal, in subtiler Weise erzeugt und verstärkt sie die Solidarität unter den Menschen, begleitet moralische Wandlungen im historischen Wandel und gibt, aber nicht als billiges Opium fürs Volk, Trost und Hoffnung, deutet Lebenssinn und gesellschaftliches Sein, ergreift Partei und setzt immer die Freiheit des Andersdenkenden voraus. Dichtung verändert indirekt, oft heimlich und unbewusst, getragen von einer (moralischen) Idee, aber in Bildern, die dem Leser Freiheit lassen.
5.
Kleine Visionen
(Der Text, das Buch und die schöne Literatur im 3. Jahrtausend)
Die Poesie, die sich als Kunst versteht, wird es gegen die Massenliteratur auch im dritten Jahrtausend so schwer haben wie bisher, aber sie wird sich behaupten. Echte Kunst wird gerade dann bessere Chancen haben und wieder mehr gesucht werden, wenn die Massenliteratur unüberblickbar wird. Die (von Autoren-Teams) lektorierten Bücher, die im Namen eines Pseudo-Autors herausgegeben werden, also reine (arbeitsteilige) Industrieproduktionen sind und Massenbedürfnisse befriedigen sollen, werden als Wegwerfware hergestellt. Daneben suchen genügend viele Leser die Bücher, die nicht nur einer Mode oder dem Zeitgeist entsprechen und billig Sensationen vermitteln oder erfinden. Das beweisen die vielen immer wieder und immer mehr entstehenden Literaturzeitschriften von kleinen Verlagen oder Autorengruppen, aber auch die vielen Gedicht-Anthologien größerer Verlage. Das gedruckte Wort bleibt primär, das Internet kommt hinzu, der Selektionsprozess wird komplexer, aber in mancher Hinsicht auch spannender. „Book on demand“ muss als Chance für finanzschwache Autoren oder Kleinverleger gesehen werden. Die Vielfalt der Themen, Stile und Textarten wird weiter zunehmen.
(Die Poetik des 3. Millenniums)
Kriterien für das, was die schöne oder hohe Literatur oder ein Gedicht sein soll, werden immer weniger formulierbar. Der Kunstbegriff weitet sich immer mehr. Die Theorie wird auch in Zukunft hinter den tatsächlich entstandenen Gedichten ‘praktischer Poetologen’ hinterherhinken. Poetologie wird immer ungültiger, sie wird von den Poeten selbst gesetzt und entwickelt. Das war eigentlich immer so. Der Dichter schert sich nicht viel um literaturhistorische, akademische Fragestellungen. Der Konsensualisierungsprozess für die Literatur, die sich durchsetzt, wird, auch im Bereich künstlerischer Belletristik, von immer mehr Menschen gesteuert oder begleitet. Es gibt heute viel mehr Experten als früher. Was ein Gedicht ist, bestimmt der Autor und der Leser, jeder für sich. Das dritte Millennium wird neben der Massenliteraturware zugleich die Emanzipation des absoluten Autors und des absoluten Lesers manifestieren. Anders gesagt: Die Industrie-Literatur provoziert, je stärker und massenhafter sie wird, ihren Selbstwiderspruch, ihre Antithese: Die Individual-Literatur der vielen Autoren, die sich den industriellen Schemata und Genres entziehen - wird auf eine wachsende Zahl von Menschen treffen, die den allzu simplen Kriterien der Massenkommunikation entrinnen wollen. Neuerungen werden auch in Zukunft von diesem Diskurs ausgehen, und nicht von der tautologischen Kommunikation in den Massenmedien. Die Kriterien, die für die Kunst gelten, werden stets von der kleinen Elite der Wachen und Phantasievollen, von denen, die das Neue tatsächlich machen, und zwar im vollen Bewusstsein eines möglichen (künstlerischen oder finanziellen) Scheiterns. Zu solchen Kriterien wird, wie bisher, gehören: Neuheit der Beziehungen unter den Wörtern, Spannung durch (teils unerwartete) Bezüge zu außersprachlichen Kontexten und zu den anderen Künsten, Klarheit bei höchster Komplexität der Struktur, Freiheit gewährende Lesesteuerungen, originäre Selbstreferenz des lyrischen oder epischen Ichs, und eben dadurch stilistische Individualität. Der Bezug zu unserer Zeit oder die Identifikation des Lesers mit den Stoffen und Themen solcher Literatur sollte immer eher indirekt, nie aufdringlich gegeben oder möglich sein, nicht im marktorientierenden Sinn, unbedingt in ethischer Verantwortung: Gerade die utopische Vision (mit uneingeschränkter Kritik der Gegenwart) unterscheidet gute Literatur von der schlechten industriellen Massenliteratur, welche überwiegend vordergründige Bedürfnisse befriedigen will, insofern falsch tröstet oder unterhält, anstatt die wirklichen, den Moment überdauernden Bedürfnisse der Menschen zu erwecken oder bewusster zu machen.
(Das Charakteristische einer Poesie des Synkretismus im 3. Millennium)
Wagner ist tot, es lebe das Gesamtkunstwerk! Die Oper, vielleicht die bedeutendste künstlerische Leistung, mit der sich abendländische Kultur von anderen Kulturen unterscheidet, ist nach wie vor eine geeignete Form für die Integration der Künste. Aber die Möglichkeiten für Werke der integrierten Künste sind noch lange nicht ausgeschöpft. Maurizio Kagels jetzt uraufgeführtes Werk „Entführung im Konzertsaal“ beweist: Sogar ein Orchester kann Theater erzeugen, konzertante Oper, visuelles Hörspiel, modernes Oratorium. Die Künste sind nicht mehr so klar abgegrenzt. Da Sprache zugleich Musik ist, bietet die konzertante Oper ein gutes Fundament für autonome Dichtung innerhalb eines größeren künstlerischen Zusammenhangs. Auch das Hörspiel lebt wieder auf, gerade weil es sich mit neuen musikalischen Formen verbündet, auf Klang und Musik der Sprache setzt und auf hörbar gemachtes Collagieren von Stimmen, Räumen, Zeitebenen, Perspektiven, Gedanken, Träumen, Textsorten, Kommunikationsarten, Kontexten und Sprachspielen im Sinne Wittgensteins.
Das dritte Millennium wird die Kontexte, in denen Sprache steht, weiter ausloten und wird neue Kunst-Formen finden. Sprechsprache wird aber konkurrieren mit den vielen anderen Sprachen, die unser Leben ausmachen, Körpersprache, wissenschaftliche Sprachen, die Sprachen der anderen Künste und die Zeichensysteme im Alltag der technischen Umwelt. Dies alles wird zu einer Explosion künstlerischen Findens und Empfindens führen. Auch hier wird die industrielle Warenkunst den Avantgardisten epigonal hinterherlaufen, und das ist vielleicht eines der wenigen, immer gültigen Gesetze in der Kunst.
(Schriftsteller und Leser im Zeitalter neuer Medien und Reproduktionstechnik)
Die vielen Literaturzeitschriften von kleinen Verlagen oder Autorengruppen zeigen, dass die Reproduktions-Maschinen der Industrie auch genutzt werden können vom Einzelnen, der sich der Massenwaren-Herstellung widersetzt. Ich glaube zwar nicht, dass die Kulturindustrie ihre Totengräber produziert. Aber die Möglichkeiten, den Selektionsprozess subtiler zu gestalten, wachsen. Die Autoren sind nicht mehr so abhängig von Kulturzaren, die Kunstkriterien doktrinär oder mäzenatisch bestimmten. Das moderne Kopiergerät ist der erste Fundamentstein eigener Verlagsfreiheit. Es ermöglicht aber natürlich auch die ganze Bandbreite schwacher Produktionen, die nur der Befriedigung der Eitelkeit dienen. Diese Produktionen sind leicht und schnell durchschaubar.
Aber wichtiger ist die Tatsache, dass heute viel mehr Menschen literarisch aktiv sind als früher. Dieser Prozess wird noch stark zunehmen und dazu führen, dass die literaturwissenschaftlichen Fächer an der Universität mit der Zeit umgestaltet werden, dass wissenschaftliche Analyse transzendiert wird von literarischer Synthese, also wissenschaftlich entfalteter Kreativität.
Die neuen Vervielfältigungsmaschinen mit Computersteuerung (auf der Grundlage von Textverarbeitungsprogrammen) ermöglichen bald die rentable Herstellung von kleinen Auflagen: Book on demand. Dann können auch kleinere Zeitschriften die Produktion selber in die Hand nehmen und genau den Bedürfnissen anpassen. Das Internet bietet recht bald darüber hinaus die Möglichkeit, kleinere Zeitschriften überregional selbst zu verlegen, als gedruckte Hefte oder als elektronisch übermittelte Texte. Natürlich ist die derzeitige Unübersichtlichkeit im Internet ein Gegenargument. Neue Kommunikationsformen und Verfahren für die Selektion sind zu (er)finden. Ich sehe für die Literatur mehr gute Chancen als Nachteile.
Der Erfolg der Literatur und der Diskurs der an der Kultur Beteiligten (bis hin zum Dialog zwischen Autor und Leser oder Leser und Leser) hängt letztlich nicht am gedruckten Wort, am Buch. Das Buch wird wahrscheinlich nie untergehen, aber die neuen Literaturmedien werden die Literatur bereichern. Keiner kann jetzt schon im Einzelnen sagen, welche Wirkungen die neuen Medien auf die Sprache und die Formen der Literatur und die beschleunigte Integration aller Künste haben wird. Die negative Seite der neuen Kommunikation steht jetzt schon fest: Geschwätz. Die positive Seite aber wird mit Sicherheit im neuen Millennium auch geschrieben werden!
6.
Der Raum des Sagbaren
Lyrik steht immer auf der Schwelle des Sagbaren zum Gesagten, aber nicht nur im Hineingehen in den Raum des Sagbaren, sondern auch im Hinausgehen aus dem Gesagten. Der Lyriker ist der individualistische Versucher des kollektiven Bewusstseins. Das Lyrische Ich unserer Zeit findet Einheit im Prozess seiner Selbstauflösung nur im Bewusstsein der heilsamen babylonischen Sprachverwirrung, in der es sich selbst kaum noch versteht, wenn es sich mit vier Ohren zuhört und versucht, den gesellschaftlichen Diskurs zu einem kollektiven Selbstgespräch unter vier Augen umzuformen.
[1997]
7.
Topp!
Das ist meine Ambivalenz: Meine hedonistische Kunst- und Lebensphilosophie, die ich zu einem guten Teil realisiere, geht Hand in Hand mit meiner Arbeit als Lehrer, die ich ebenfalls so hedonistisch wie möglich mache.
Es sind noch glückliche Widersprüche: Soll ich mein kleines Glück dem Interesse einer sozialen Revolution opfern, die mein Glück aufhebt? Ich heule mit den Wölfen, ich mache nichts gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Ich bin eine Hure der herrschenden Verhältnisse. Ich halte still und werde gut bezahlt. Schon der erste Schritt zum Märtyrertum des Idealisten, der die Welt mit seiner Tat politisch radikal umgestalten will, fiele mir schwer. Mein Hedonismus ist nicht von der Art der Revolutionäre. Das habe ich nie gewollt, nur geträumt, nie geübt. Jetzt werde ich immer älter: Ich weiß, dass ich mit meiner Weisheit auch immer feiger werde. Meine ganze Kraft reichte für das, was ich wurde und immer noch werde. Schon das ermüdet mich.
Meine kleine Kunst, das Schreiben, ist dreifach motiviert: Es stärkt meine Lebensart; es ist mein Alibi für die politische Tat; es ist meine profane Religion, mein Trost und Rechtfertigungsgrund, damit ich das Leben, wie es ist, ertragen kann. Wenn ich mein Leben nicht zugleich auch spielen könnte, hielte ich es nicht aus.
8.
Auch das Schreckliche inspiriert.
Die einstürzenden Türme des World Trade Center, und die Aussage von Karlheinz Stockhausen:
„Was da [am 11.9.2001 in New York] geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos... Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten. Ein Verbrechen ist es deshalb, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das ‘Konzert’ gekommen. Und es hat ihnen niemand angekündigt, ihr könntet dabei draufgehen. Was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal auch poco a poco in der Kunst. Oder sie ist nichts.“
9.
Was ist wahre Poesie?
Wahre Poesie enttäuscht, lehrt sehen: Das Gute wie das Schlechte in der Welt. Sie stärkt meine Wünsche, bestätigt sie und eröffnet mir neue. Meine Wünsche drängen nach meinem Glück. Die Poesie zeigt mir, wie mein Ich sich am Ich der anderen reibt - so will ich die Harmonie von Ich und Du zum Wir.
Poesie soll mein Inneres offenlegen auf der Folie der Wirklichkeit. Sie justiert mein Handeln, und mein Handeln treibt sie durch neue Träume vorwärts. Traum und Realität sind nur allgemein verständliche Bezeichnungen für Bewusstseinszustände ein und derselben nicht vollständig erkennbaren und beschreibbaren Wirklichkeit.
Meine Genusssucht verlangt, dass diese Arbeit der Selbst- und Fremderkenntnis lustvoll, ja zuweilen lustig fortschreite. Die Arznei des Gehirns, das ist die Sprache der Dichter, in Wahrheit lese ich aus ihnen mein Serum gegen geistigen Starrkrampf, ich bin als Leser immer zugleich selbst Dichtender - anders ist kein Lesen möglich.
Poesie ist kein Opium, keine Religion, kein Versprechen. Ich selbst muss das Opiat meines Handelns gewinnen: Neue Worte, neue Gedanken. Die Kunst, die Lügenzerreißerin, weitet meine logischen Räume. Die Mythen, Gesichte und Bilder formen Gegenwelten, aus denen ich hart auf die Erde zurückgestoßen werde. Den großen Traum Dantons pflanzend sehe ich das unerreichbare Ziel: Eine schmerzlose Welt. An Abgründen vorbei stolpernd rette ich mich in die Bejahung: Das Leben.
10.
„irgendwie ist jedes gedicht eine vivisektion des autors an sich selbst.“
(Katrin Stange)
Vielleicht ist das nicht bei jedem Gedicht so, mal mehr mal weniger, aber indirekt bin ich immer in jeden Text hineinseziert, das ist wahr. Wirkliche Dichtung ist es dann, wenn das der Leser nicht als autobiografische Mitteilung liest, sondern als allgemeingültige Worte eines unbestimmteren lyrischen (oder epischen) Ichs.
Natürlich setzen wir in der Dichtung unsere Erlebnisse um, unsere Träume, Ängste und Hoffnungen, unsere suchenden Gedanken und die Bilder, die uns immer wieder verfolgen, ohne dass wir das immer so genau wissen. Manchmal entdecke ich mich in einer Erzählung erst später, lange nachdem ich die Geschichte geschrieben habe. Ich kann mich und das Erlebte in Gedichten nicht gut genug sublimieren oder kostümieren oder verdichten, aber in der (mehr oder weniger parabelhaften) Erzählung kann ich das. Selbst wenn ich nur zu spielen glaube, verrate ich mich, wenn auch meist nur in Chiffren, es sei denn, es kennt mich einer sehr gut und weiß von mir und meinem Leben fast alles. Auch offenbar unterbewusste Sehnsüchte fallen in das Erzählte, aber ich schreibe so, dass der Leser nicht mich dechiffriert, sondern entweder sich selber oder nicht explizite Intentionen oder Motive.
11.
Tautologie
obwohl in der Tiefe des Gedichts die Wahrheit liegt, dass alles Reden und Schreiben ein einziges Schweigen ist. Totsein ist Leben, die Dinge sagen sich alle selber, das Leben ist eine Formel des Nichts, nur ein anderes Wort, eine andere Gleichung. Alle Gleichungen sind Tautologien, links steht dasselbe wie rechts. Alles sagt sich selbst. Whitehead/Russels „Principia Mathematica“ und Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“. Freges Wahrheitsstriche, die Russell weglässt, sind nur Behauptungen von Geltung, damit ist nicht gesagt, dass das behauptete Sein überhaupt gilt oder da ist. Das Sein ist nur ein umgestülptes Nichts - oder umgekehrt, das Nichts ein umgestülptes Sein. Das Umstülpen ist das Geheimnis von Zufall und Notwendigkeit (Monod), und das Gesetz ist die Wahrscheinlichkeit: Alles kann sich ereignen, auch das Nichts, auch der Mensch, das Jetzt, es ist ja genug Zeit und Raum da, genug Platz im Nichts, um durch alle Zustände zu gehen, auch die ‘unmöglichen’.
12.
Literarisches Träumen
Hebt der Schreibende im Schreibakt Fragmente aus dem Unterbewusstsein?
Ich spüre, dass es (Es) mich manchmal zum Schreiben bringt, oder dass es (Es) sich (ab)schreibt, wenn ich schreibe. Das lässt sich forcieren wie das Träumen im Schlaf. Wenn ich Träume aufschreibe, wenn ich sie erwarte, dann träume ich mehr. Wenn ich schreibe, träume ich mitten im Wachsein. Allerdings sind diese Schreibwachträume nicht so bildreich, nicht so stark wie Schlafträume – ich kann aber den Keim des Schreibwachträumens im Schreibakt wachsen lassen, ich erreiche dann manchmal Traumqualität. Es schreibt dann in mir von ganz allein, so geht das über einige Sätze, und der Rest ist Ergänzung, Extrapolieren des Angeträumten... In so einem Schreibakt schaue ich mir sozusagen beim Träumen zu, ohne zu wissen, dass ich träume. In dem Moment, wo mir bewusst wird, dass ich wach traumschreibe, verliere ich die notwendige Unbefangenheit und bin in der Bearbeitung und ÜberFormung dessen, was sich mir fast wie von selbst schrieb.
Es geht nicht immer, aber es geht und ich spüre es im Wackelkontakt der Bewusstseinswechsel. Diese Bewegung erscheint mir dialektisch – sie ist schreibendes ErLösen des Unterbewussten.
13.
Zur Literatur unserer Zeit
Schon manchmal entstand der Begriff einer Literaturepoche in der Zeit selbst, etwa „Sturm und Drang“. Aber jetzt ist das schwieriger: Die Postmoderne schwappt nur noch müde so dahin.
Mir fallen folgende Attribute unserer Literatur heute auf:
Regellosigkeit (teils auch schon im Aufbruch zur Moderne um 1910 und in der Postmoderne)
Verfremdung (so schon bei Brecht etc.)
Glaubenslosigkeit, Nihilismus (auch schon seit dem Expressionismus)
Spiel und Koketterie (mit Formen und Inhalten)
Alles darf sein
Tabubruch (die letzten Tabus fallen)
Auflösung aller ästhetischen Begriffe
Das alles bringt mich zu dem Versuch, unsere Literatur-Epoche, falls sie eine ist und wird, zu bezeichnen als Literatur der Entfremdung oder Auflösung.
Aber hat es jemals irgendeine Epoche gegeben, für die nicht – zumindest im eigenen Selbstverständnis – Tabubruch charakteristisch gewesen wäre? Tabubruch war bis zur Mitte des 18. Jh.s selten und äußerst schwach und kein Charakteristikum der Literaturepochen.
Wenn in Lessings „Emilia Galotti“ der Vater seine Tochter tötet, um ihre Ehre zu retten, so gab es das zwar schon in der römischen Sage (Virginia), aber der politische Angriff in der Verletzung des 5. Gebots war für das Jahr 1773 eine starke Provokation.
Die Selbstkastrationsidee in Lenz’ „Hofmeister“ geht schon weiter.
Aber was in unserem letzten Jh. gewagt wurde, ist viel heftiger, auch in der Massierung (Grass, Die Blechtrommel; Nabokov, Lolita ... )
Und in diesen Jahren ist alles denkbar und schreibbar geworden. Es gibt nur noch ein paar wenige Tabu-Ausnahmen:
Kannibalismus als Ich-Roman, oder Sodomie...
Im Wesentlichen kann gesagt werden, dass Literatur im Wesentlichen immer wieder von den gleichen Themen handelt, nur das Wie ist neu, die Form, die Atmosphäre, die Perspektive etc. – immerhin ändern sich gesellschaftliche Verhältnisse, und schon deswegen kann und muss immer wieder neu geschrieben werden. Einige alte Meisterwerke altern nie.
Einen marktorientierten Epochenbegriff sehe ich nicht auf uns zukommen, weil bisher immer inhaltliche Begriffe gefunden wurden. Die Begriffe werden letztlich für die elitäre Literatur gefunden, der Rest (schon immer sehr kommerziell) geht unter.
Heute schreiben viel mehr Menschen als früher – und die Medien, die Literatur transportieren, sind ebenfalls stark gewachsen. Ich vermute, dass die Literaturgeschichtsschreibung weiterhin von Universitäten dominiert wird. Ich bin sicher, dass die Massenliteratur erfasst wird und Namen erhält, aber die hohe Literatur wird von der akademischen Elite weiterhin erwählt – unabhängig von Leserzahlen.
Natürlich kann ein Werk der hohen Literatur thematisch auch im Mainstream liegen, wie Goethes „Werther“ (Epoche der „Empfindsamkeit“, aber teils noch dem „Sturm und Drang“ zuzuordnen). Wann eine Epoche beginnt, ist nicht genau zu sagen, wegen der sanften Übergänge – oder aber weil ein Werk mehrere Aspekte enthält. Manchmal wird eine Epoche vorweggenommen wie im Werk Georg Büchners, der Realismus, Naturalismus und Expressionismus partiell vorzeichnet. Es sind Entscheidungen akademischer Pfleger und Hüter des literarischen Erbes, die darüber befinden.
Was zur hohen (elitären) Literatur gehört, ist oft ganz klar zu sehen. Nimm „Ulysses“ von James Joyce – diesen Roman verstehen vielleicht 3 von 100, noch weniger aber lesen das Buch ganz.
Der intellektuelle Schwierigkeitsgrad eines Buches ist beschreibbar. Trotzdem gehören auch gut verständliche Bücher (oder einzelne Gedichte) zur hohen Literatur. Wer legt das fest? Rezensenten, Kritiker, akademische Philologen, aber auch Verleger, Lehrer (die bestimmte Lektüren im Unterricht behandeln), Theaterintendanten... und das ist nun mal tendenziell die Elite. Der Konsens wird nicht demokratisch hergestellt, sondern durch einen sehr komplexen und mehreren Regelwerken oder auch in Irrationalismen sich entwickelnden Diskurs.
14.
Lesen ist Schreiben
Als Kind las ich meistens im Bett, ich kuschelte mich in die Decke und dann konnte ich stundenlang, manchmal den ganzen Tag, in mein zweites Bett kriechen, das Buch war mein Bett im Bett, mit dem ich geschlafen habe, das meine Höhle war, in der ich ganz wach schlief. Am Wochenende im Winter war das leicht, und meine Großmutter, Mama Louise, mit der ich lebte, ließ mich den ganzen Tag in meinem Doppelbett. Dann las ich Ben Hur zwei Mal, drei Mal, vier Mal, aber nicht hintereinander, ich las Kampf um Rom und Huckleberry Finn, ich las an solchen langen Wintertagen zwei bis drei Bücher gleichzeitig. Schwierig waren immer die ersten 30 bis 50 Seiten, dann war ich drin. Ich las dann das Buch immer zu Ende. Ich habe noch in Erinnerung, wie schnell ich damals las - es ist dasselbe Tempo wie heute: Etwa 30 Seiten in der Stunde. Das ist langsam. Ich genoss die Sätze. Ich sprach in Gedanken das Gelesene mit, um es besser betonen zu können. Ich liebte die Bücher mit viel wörtlicher Rede - in den Karl-May-Romanen, die ich in Serie las, am liebsten Durch die Wüste, Allah il Allah, wurde viel gesprochen, und die Helden hatten viel Erfolg, da lohnte sich die Identifikation mit ihnen.
Ich glaube, ich habe den Thesen des Aristoteles, die er für die Tragödie aufstellte, voll entsprochen: Wenn ich Bücher las, ob Dr. Doolittle oder Enid Blyton, Karl May oder Quo vadis? - immer reinigte ich meine zart reifende Seele von Furcht und Mitleid in den imaginierten Abenteuern der Helden. Tom Sawyers trickreiches Leben, Old Surehands Klugheit - das war meine Katharsis. Meine Helden mussten Männer sein, kleine oder große. Mit Frauen wusste ich nichts anzufangen. Erst sieben Jahre später interessierte mich Madame Chauchat, die heiße Katze im Zauberberg, Molly Bloom, oder Lolita - obwohl... die Frauen in der hohen Literatur lassen sich primär über die hinter ihnen stehenden, über oder unter ihnen liegenden Männer definieren. Männer blieben immer interessanter, in der Literatur und in den geistigen Dingen. Ich sage nur, wie es ist. Ich bilde keine Theorie. Ich beanspruche keine Aufmerksamkeit für meine Erfahrung. In meinem erwachsenen Leben liebe ich natürlich Frauen - aber das ist nicht die Literatur oder die Philosophie. Das ist ein anderes Kapitel des großen Romans, den ich mit meinem Leben selber schreibe, das mich schreibt und in Versen und epischen Sätzen reflektiert. Eins geht ins andere über.
Als Kind träumte ich die gelesene Realität in meinen Tag, und heute geht es mir ganz ähnlich, natürlich viel subtiler, ich erkenne im Leben der anderen und in meinen Handlungen immer wieder die literarische Essenz, sehe mich selbst als einen Helden meines gelebten Romans, und identifiziere mich mit dem Helden, der ich nun selber bin, und ich schreibe mich und lese mich, lese mich und schreibe mich, es ist ein und dasselbe. An die Stelle der Seiten treten die Jahre. Das Ende kenne ich nicht. Ich bin das Buch, das sich schreibt.
Ich schreibe, ich lese, und während ich lese, schreibe ich schon weiter. Ich fühle mich wie der Hase dem Igel in mir unterlegen, ich will aber kein Igel sein, kein Techniker von Permutationen meiner Poesie, ich schreibe wirklich immer weiter, schreibe mit meinen lesenden Augen um die Wette, bin mir immer um mindestens ein Wort voraus, und wenn ich versuche über den Schatten des Geschriebenen zu springen, erreiche ich nie die Geschwindigkeit im Lesen, werde ich mich nie einholen, auch nicht, wenn ich rückwärts lese. Ich käme nie an den Ursprung der Worte, der sich mir entzieht wie das Jenseits der Schatten. Aber ich könnte mich leicht einholen und dann auch überholen, wenn ich nur wollte, ich könnte der Schattenspringer werden und aus dem Diesseits der Sprache in ein Jenseits der Worte springen, wenn ich nur wollte und wenn ich begriffe, dass ich das kann.
Lese ich, wenn ich schreibe? Ich drehe die Frage in die Antwort: Ich schreibe, wenn ich lese.
Ich könnte mich, wie gesagt, überwinden, aber nie lesend, immer nur schreibend. Der absolute Leser, der a priori der beste Leser ist, muss nur wissen, dass er als Leser der absolute Autor ist. Er wird dann auch erfahren: Er ist der beste Autor, den er lesen kann. Dieser Leser, der den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist der aufgeklärte Leser, der ideale Leser, wenn er beim Lesen erkennt, dass er das Buch, das er gerade liest, auch lesen könnte, wenn er es selber schriebe, und eigentlich müsste er es dann gar nicht mehr schreiben, sondern einfach nur leben. Er ist dann der Leser seines Lebens, dessen Autor er zugleich ist, der das Buch nicht braucht, der sich selbst zuklappen und wegwerfen kann wie ein Buch, das er schon kennt, dessen unbeschriebene Seiten in ihm selber sind und die man nur beschreiben muss um zu leben.
So kann ich am Ende sagen: Indem ich mich lese, hebe ich auf, was ich schrieb – und indem ich schreibe, hebe ich auf, was ich lese. Ich bin das Wort.
Ich schrieb, wenn ich als Kind im Bett mit meinen Büchern schlief, alle Romane, Heldensagen und Micky-Maus-Geschichten, die ich las. Ich schrieb, was ich las. In der Schulwoche las ich unter erschwerten Bedingungen, denn mein Vater, der zwei Stockwerke über mir in seinem Studierzimmer wohnte, kontrollierte abends das Licht, das ich spätestens um zehn ausknipsen musste.
Ich wollte lesen, unbedingt, und ich knipste die Lampe wieder an, wenn mein Vater mein Zimmer verlassen hatte. Wenn ich ihn die Treppe hinab steigen hörte, knipste ich die Lampe wieder aus, dann sah mein Vater kein Licht in der Türritze. Das ging nicht lange gut, mein Vater fühlte die heiße Birne und nahm mir die Lampe weg. Eine Zeitlang las ich mit der Taschenlampe, aber die Batterien reichten nicht lange. Ich holte Kerzen aus dem Keller und hielt sie zwischen den hochgestellten Knien fest. Die Daunendecke wölbte ich halb über die brennende Kerze. Es strengte mich zwar an, aber ich fand mit der Zeit eine Haltung, in der ich lange lesend verharren konnte.
Eines Tages aber fiel ich mit meinen Gedanken derart tief ins Buch, dass ich nicht merkte, wie ein Schwelbrand entstand. Erst der beißende Qualm weckte mich, ich schlug auf die glimmende Decke, wollte den unsichtbaren Brand löschen, doch nun stoben die Funken, ich schlug weiter und auf einmal brannte das Bett. Die Flammen machten mir Angst. Ich kam einfach nicht auf die Idee das Feuer zu ersticken, ich schlug immer weiter auf das Feuer ein, bis ich weder ein noch aus wusste, aus dem Zimmer lief und um Hilfe rief.
So lese ich heute noch.
15.
Kreativität und Disziplin
Die Disziplin setzt in der Formung des Materials ein, aber ich weiß, dass schon die Auswahl des Materials einem kreativen Akt unterliegt, nicht beherrschbar ist und auch nicht vollkommen beherrschbar sein sollte. Auch die Formung selbst, zu der eine gewisse Disziplin notwendig ist, geht natürlich einher mit schöpferischen Kräften, spontanen, intuitiven Ideen. Trotzdem: Disziplinierung ist nicht nur Handwerk, sie ermöglicht auch den richtigen Fluss der Kreativität. Ich wende mich gegen das schnelle Runterschreiben. Das kann hin und wieder gut gehen. Aber besser ist es, wenn der Autor seine Kreativität trainiert: Wenn er das Träumen vermehrt, indem er es sich vornimmt, sich damit beschäftigt, analysiert, interpretiert, Träume literarisch verwendet. Kreativität ist stimulierbar und trainierbar, wenn auch nicht immer abrufbar, aber es ist steuerbarer, als mancher glaubt. Mag sein, dass diese Begabung sehr unterschiedlich ist.
Ich stelle mir einen Schacht zum Unterbewusstsein vor, den ich öffne, wenn ich schreibe. Ich spüre nach einer Weile, wie die Sprache von allein fließt. Aber das kann ich steuern, jederzeit, und auch erst einmal zulassen, dann wieder anhalten. Ich schreibe morgens am besten – aber da muss ich arbeiten gehen, und am Wochenende komme ich morgens selten zum Schreiben. Jedes Mal in den Ferien, vor allen in den Großen, spüre ich, wie nach etwa einer Woche dieser kontrollierbare Prozess der Förderung aus dem Schacht immer besser wird.
Elias: Lieber Bergmann, ... „Man ist, was man träumt.“ Platon.
Bergmann: Generelle Frage: Stehen literarische Fiktionen (ungefähr) auf der Ebene des Traums?
Elias: Es gibt Tagträume, Klarträume, Wunschträume, so eine Art Fantasie in schläfriger Form. Aufgeweckt wird Text daraus. Keine Ahnung, ob ich richtig liege.
Bergmann: Meine Frage war: Ob sich geschriebene Fiktionen so ähnlich verwirklichen wie Träume? Es geht wieder einmal um das Verhältnis Autor / Text.
Elias: ... Selbstredend zählte die „Traumdeutung“ zu Freuds wichtigsten Werken, wenn nicht dem wichtigsten überhaupt. Und er selbst meint, dass sie die Via regia zum Unterbewußten sei. Er geht noch weiter und erklärt, sie sei „...die sicherste Grundlage der Psychoanalyse.“ Manche Indianerstämme halten Träume für das wahre Leben und das Sichtbare nur für Trug. Vielleicht hat der Eros der Sprache seinen Ursprung im Traum. Das Spiel des Geschlechtlichen, in das sich alles und jedes sublimieren lässt, ist auch ein Sehen, das sich im Angesehenwerden spiegelt. Es gibt ja mittlerweile eine lebhafte Klartraumforschung in der Psychologie bis hin zum dem Fakt, dass man Träumen „lernen“ kann, ergo kann man auch lernen die literarische Fiktion gezielt aus Trauminhalten zu speisen. Vielleicht gibt es ein literarisches Träumen...
Bergmann: ... Parallelisierung Traum // schreibendes ErLösen der eigenen Irrationalität. Mit meiner Frage war gemeint, ob der Schreibende im Schreibakt Fragmente aus dem Unterbewusstsein hebt, du nennst es literarisches Träumen. In der Tat spüre ich, dass es (Es) mich manchmal zum Schreiben bringt, oder dass es (Es) sich (ab)schreibt, wenn ich schreibe. Und genau das lässt sich auch forcieren wie das Träumen. Wenn ich Träume aufschreibe, wenn ich sie erwarte, dann träume ich mehr. Wenn ich schreibe, träume ich mitten im Wachsein, so mein Gefühl. Allerdings sind diese Schreibwachträume nicht so bildreich, nicht so stark wie die Schlafträume - und doch bin ich in der Lage, den Keim des Schreibwachträumens im Schreibakt wachsen zu lassen, und ich erreiche dann manchmal Traumqualität. Es schreibt dann in mir von ganz allein, so geht das über einige Sätze, und der Rest ist dann die Ergänzung, Prolongation oder Extrapolation des so Angeträumten... In so einem Schreibakt schaue ich mir sozusagen beim Träumen zu, ohne zu wissen, dass ich träume. In dem Moment, wo mir bewusst wird, was ich wach traumschreibe, verliere ich die notwendige Unbefangenheit und bin dann in der Bearbeitung und ÜberFormung dessen, was sich mir fast wie von selbst schrieb.
Es geht nicht immer, aber es geht und ich spüre es im Wackelkontakt der Bewusstseinswechsel. Auch diese Bewegung erscheint mir dialektisch.
Elias: Das trifft mein Gefühl beim Lesen Deiner Texte ziemlich genau. Die teils seidenweichen Sequenzen, dieses Rausrutschen aus der Vernunft in Traumähnliches und natürlich die durch die Ratio bei vielen tabuisierten und gesperrten Themen, die sich bei Dir scheinbar mühelos hochspülen, sprechen schon für zumindest starke Perforierungen der Grenzflächen, ohne dass man dem pathologische Qualitäten zuschreiben muss, denn eine strukturelles Ganzes bleibt bei Dir immer gewahrt. Elias Bergmann: Die Hirnforschung weiß noch nicht viel, was wir für diese Diskussion verwenden könnten. Ich vermute allerdings, dass das Schöpferische nicht aus dem Nichts kommt, sondern im Körper (im Hirn) angelegt ist und evozierbar ist. Im Tun selbst mag es dann oft so aussehen, als ob das Kreative dann erst entsteht, also vorher nichts war. Aber dagegen halte ich, dass dieses Tun, also die Disziplin oder Selbstdisziplin in der Formung des Materials, selber zu einem Teil Schöpferisches enthält, sodass vielleicht der gesamte Prozess der Kunstentstehung, ob er nun dialogisch oder dialektisch genannt wird, ein kreativer Prozess ist. Die bewusste Formung ist dann kein Widerspruch, sondern Bestandteil des Kreativen. Weiterhin gilt aber, dass Assoziationen, Träume, Ideen, Gefühle, Vorstellungen, Ahnungen usw. zu einem (möglichst kosmischen) Werk gestaltet werden sollten, jedenfalls solange wir Kunst als unbewusst und bewusst gestaltete Arbeit begreifen. Ich denke, dass der, der ein wenig kreative Begabung hat, durch Vervollkommnung des Handwerklichen (also auch Vervollkommnung des Sprachlichen, also der Verfügbarkeit der sprachlichen Umsetzung von Eingebungen) mit der Zeit Kreativität steigern kann.
Ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet, kein Psychologe. Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung heraus schreiben, und ich gründe meine Auffassung auch auf Schilderungen einiger Kollegen. Ich sehe den Schreib-Prozess bei belletristischen Werken als ein dialektisches Wechselspiel von provozierten kreativen Eingebungen und ihrer Disziplinierung (bewusste Steuerung), das ich während des Schreibens, meist in mehreren Phasen, überschaue, bremse, aufhebe, steigere, und dass der Ablauf dieses Gesamtprozesses selber wieder, auf einer höheren Ebene, kreativen und bewussten Aktionen unterliegt. Ich denke, dass in der Regel die Bewusstmachung und Steuerung (das was ich Disziplin nenne, Beherrschung des Schreibprozesses) für die Entstehung eines Kunstwerks notwendig ist.
Oft kann das dialektische Wechselspiel von schöpferischer Idee und Disziplinierung einem Schreibprozess vorausgehen, in dem diese Dialektik verschwindet oder zu verschwinden scheint. Ich denke an Bilder, die Picasso oder andere Künstler malten, denen viele Skizzen vorausgingen – so dass sich sagen lässt: Ein vermeintlich schnell hingemaltes Bild oder ein runtergeschriebener Text ist das Ergebnis desselben Prozesses, nur ist er hier anders strukturiert. Man könnte dann das so entstandene Werk eine Variation oder Kopie der Summe dieser Vorstudien nennen. Die meisten Texte müssen erarbeitet werden. Der Maler Max Liebermann sagte, als man sein Genie lobte: 1 Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration.
16.
Massendiskurs
Es ist nicht jedem gegeben, sein Innerstes an die Oberfläche aufsteigen zu lassen, ohne Scheu und ohne Furcht vor dem Zerrissenwerden oder der Antwort: Was für ein schwacher Text! Aber es geht gar nicht anders. Ich glaube, es ist möglich, sich eine dickere Haut wachsen zu lassen und zugleich die Kanäle zu weiten für das Aufsteigen der inneren Ideen und (in Worte gefassten) Gefühle, Sehnsüchte, Ängste.
Wir alle sind Konglomerate der unterschiedlichsten Gefühle: Verletzungen, Wunden, Niederlagen, narzisstische Kränkungen, Mühen, Sorgen, Ängste, Schrecken, Leere, Druck und Furcht vor Versagen, Schuldgefühle, die Stimme des Gewissens, traumatische Erlebnisse... und Freuden, Eigenliebe, narzisstische Regungen, Begierden, Suchtgefühle... Gedanken, Erlebnisse, Lehren und Erkenntnisse, die eigene Geschichte, die curriculare Last, Pflichten, Rollenkonflikte – und noch einiges mehr: Das alles ist in uns und verrät sich im Schreiben, auch wenn es sich im Lyrischen oder Epischen oder Dramatischen Ich verbirgt.
Die formale Bewältigung aller dieser Elemente unseres Lebens im Schreiben ist ein höchst komplexer Akt der permanenten Selbst- und Fremdüberwindung. Es ist klar, dass das anstrengt und Schamängste hervorruft. Selbst ein extrovertierter Künstler wird konfrontiert mit dem Urteil, das ihn abweist oder einsam werden lässt. Anerkennung ist brüchig, temporär und treibt in neue Zweifel: Gefalle ich, weil ich gefällig bin, weil ich in der Belanglosigkeit des Geschriebenen nicht mehr anstoße?
„Der Intellektuelle“ – unter diesem Titel schrieb Jürgen Habermas in der Zeitschrift „Cicero“ (Nr. 4/2006) einen Essay über die Problematik des Intellektuellen. Darin geht es um die Tatsache, dass intellektuelles Wirken heute, provoziert durch die Massenmedien Internet und Fernsehen, im Spannungsfeld zwischen Egalitarismus und elitärem Anspruch steht. Der Intellektuelle oder Künstler steht zwischen Selbstdarstellung und Diskurs, und zwar in einer immer mehr entformalisierten Öffentlichkeit.
Auch der Künstler ist in dieses Spanungsfeld gestellt – er setzt sich und sein Werk der Massenreaktion aus. Anders als früher reagieren heute nicht nur einzelne, sondern viele. Der Intellektuelle und der Künstler haben es schwerer als früher mit ihrer Autorität – ihr Urteil ist schon relativiert, ehe es ausgesprochen wird (früher war es oft genau umgekehrt, was auch nicht gut war).
Was aber unverändert bleibt, so Habermas, ist der Mut des Intellektuellen zur Polarisierung, unbequeme und wehtuende Dinge zu sagen, Werke zu erschaffen, die zunächst entfremden, um dann zu neuen Erkenntnissen zu treiben. Der Künstler ist in dieser Position immer einsam, es geht nicht anders, er muss vermessen sein, wenn er das Sein, partiell, vermisst, er kann nicht anders, er muss. Er muss die gegen ihn gerichteten Vorwürfe aushalten, den Hass der Masse, er ist zur sterilen Aufgeregtheit, die sein Werk begründet und wirken lässt, verpflichtet – ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten der Rezipienten. Das Werk des Künstlers, wenn es wirklich in die Gesellschaft hinein lebt, entwirft mit avantgardistischem Spürsinn Alternativen zum bisher gelebten Sein - es ist fremd und utopisch, weil es Heimat sucht.
Das Wesen des Kunstwerks ist nicht primär der Genuss, die Befriedigung hedonistischer Bedürfnisse, sondern es provoziert den Prozess schmerzlicher Arbeit, der im besten Fall in ein schmerzlich-orgasmisches Erkenntnisglück mündet, das selbst wieder ein Werk darstellt und damit die Voraussetzung für eine neue Kunst.
17.
Words Words Words
Hypochondrische Aphorismen
1 J’écris, donc je suis.
2 Vielleicht ist ja Schreiben so etwas wie das Gebet der Finger.
3 Nachdenken ist bei genauer Betrachtung die Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln.
4 Schreiben ist das Überlaufen suizidaler Sehnsucht; wie wenn ich mir sagte: Ich ziehe mein Hirn aus (ich werfe meine Finger weg), um leichter zu erzählen.
5 Schreiben heißt, das Nichts zu einer Insel zu machen.
6 Der Schreibende ist immer Jäger und Gejagter zugleich, und so sehr er sich auch bemüht, schreibt er hoffnungslos hinter sich her wie einer, der seinen Schatten überspringen will.
7 Schreiben ist eigentlich iteratives Fliegenwollen: In dem Moment nämlich, wo die Wörter kaum sichtbar gänzlich abheben.
8 Immer bin ich Leser und Schreiber meiner selbst: Wir gehen zusammen trotz unserer Absprache unweigerlich in die Irre, wo wir uns schweigend verstehen. Was aber geschieht, wenn ich die Textart ändere?
9 Les auteurs sont condamnés à êtres libres - wir sind dazu verdammt uns freizuschreiben.
10 Veni vidi scripsi.
18.
Schreibe barbarisch!
Sprechen oder Schreiben ist ein Bemühen um größeres Welt-Verständnis. Wer beschreiben kann, begreift, und umgekehrt. Literarisches, dichterisches Beschreiben ist, im Unterschied zum wissenschaftlichen, der Subjektivität geöffnet, ja verpflichtet, und im Bewusstsein gelassener, anders kontrollierter Subjektivität muss dann das Bezeichnete im Bezeichnenden eine größere Deutungssphäre gewinnen. Das ist das, was reizt - und das Spielen mit dem Sprach- und Welt-Material! In diesem Spiel, dem kontrollierten Experiment in den Naturwissenschaften vergleichbar, ergeben sich Erkenntnisgewinne, neue Gefühle werden erzeugt, nicht immer klar zuzuordnende Spielergebnisse, die befriedigen und zugleich wieder reizen.
Je jünger wir sind, wenn wir zu solcher Sprach- und Lebenserweiterung aufbrechen, umso größer ist der Fortschritt. Wenigen gelingt auch im höheren Alter radikale Progression, allerdings weiß keiner, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn einer schon von Anfang literarisch aufs Ganze gegangen wäre. Fontane schrieb seine großen Romane erst spät - aber er schrieb sehr viel schon viele Jahre vorher. Wenn Fontane von Anfang an aufs Ganze gegangen wäre - hätte er dann den bedeutenderen „Werther“ geschrieben? Schwer zu sagen.
Sinnvoll ist es also, sich vor allem an sich selbst zu messen.
Dem älteren Autor steht die größere Welterfahrung im Wege, sie verführt zu Formen, die der junge Autor nicht zwangsläufig wählt. Denn der ist freier im Umgang mit der Realität. Ihm steht die Form nicht im Wege. Am besten ist es, der junge Autor geht mit der Form barbarisch um, damit die Wirklichkeit neu wirkt. Am besten geht der ältere Autor mit dem Inhalt barbarisch um, wider besseres Wissen, damit er neue Formen findet. Dann ist er jung.
19.
Die Balance der Literatur
Ja. Ja und nein. Das Wesentliche ... das für dich Wesentliche suchen und finden. Von mir aus - aber nur, wenn sich so ein Ich nicht zu wichtig nimmt oder nicht zu weise wird wie Hesse etwa. Deine Ungeduld, dein Überdruss, deine Unzufriedenheit - in der Literatur - ist dann gut, wenn du im gebändigten Zorn etwas aus dir herausschreibst oder gegen was anschreibst, aber übertreib’s nicht mit (deinen) zu hohen Erwartungen! Und um den Markt kommen wir nicht herum, genauso wenig wie die Bilder, der Markt ist Teil der Filteranlage für das, was ausgestreut wird, für das, was bleibt - leider und gottseidank, es ist besser als die große Demokratie des Allesgeltenlassens, das ins Nichts und Alles führt. Lieber falsche Entscheidungen als gar keine. Das Subjektive genügt sich nicht - das Schreiben muss hinaus in die Öffentlichkeit, es muss sich unter den Kannibalen und den Gourmets durchschlagen. Die Literatur ist gut, die geliebt werden kann von den Armen und Reichen im Geist, die die komplizierte ästhetische Balance aushält, wo die Balance von Form und Inhalt, Idee und Realität, Künstlichkeit und Authentizität, Intention und Wirkung stimmt – wenigstens für eine kleine Zeit in einer größeren Leserschaft. Du gehst an die Öffentlichkeit... schreibst dir einen Teil deines Gefühls vom Leib wie das Gegenteil vom Mehrwert.
20.
Schreib wie du willst – aber
finde deine Art der Selbstdisziplin. Ohne sie ist noch nie ein gutes Kunstwerk geschrieben worden. Ich meine keine Disziplin der Regeln und der gesellschaftlichen Normen. Ich meine die handwerkliche und künstlerische Arbeit, die erforderlich ist, um das Talent und die Idee wirklich umzusetzen.
Der Autor eines Dramas kann den Text nicht einfach rausrotzen, Schauspieler können ohne die verdammten Wiederholungen und Umänderungen in den Proben kein Stück gut auf der Bühne realisieren. Auch ein Lyriker muss schreiben schreiben schreiben, verwerfen, streichen, korrigieren, umformulieren, sich zurückhalten und langsam reifen.
Innere Monologe im Klein-Format in die Tasten hauen, das können viele! Aber das ist für mich noch nicht die Literatur, die ich und viele anspruchsvolle Leser und Autoren lesen wollen, und es ist auch nicht das, was manche leisten könnten.
Es ist eine schlechte Mode, Leistung zu verteufeln. Ohne Leistung können wir kein Kind gut erziehen, keinen Patienten gut behandeln, noch nicht einmal in der Liebe uns bewähren.
Es ist das alte Lied: Hinter der pauschalen Kritik an der (Selbst-)Disziplin kann man wunderbar leicht seine Faulheit verstecken, und als Schriftsteller ein Leben lang als Talent herumlaufen – eine Variante des Hochstaplertums.
Jeder Autor ist und bleibt frei, wenn er das will. Der Autor soll sich nicht dem Markt beugen, sondern seine Freiheit ausleben, die ihn zur Qualität verpflichtet: zur Stimmigkeit, Echtheit, zu Streben nach Wahrheit, auch zu handwerklich guter Arbeit. Sich selbst muss er alles abverlangen. Es geht ihm gerade nicht um Normerfüllung, sondern um das Neue oder Eigene, das literarisch Weiterentwickelte.
Die Motivation kommt nicht so leicht von außen oder innen. Auch die Motivation will oft erarbeitet sein.
Mich stört der schnelle, tägliche Kurztext, ein Ich-Geschwätz mit hochtrabenden Titeln, ein Text aus der Ego-Werbeagentur verlogener Poesie, Scheindichtung, Geschwafel in ausgeleierten Hülsen vermeintlicher Eleganz... Die Dummen applaudieren da sofort, wenn die schönen Worte fallen, wie sie auf Marmeladen-Etiketten stehen. Ich empfinde das kunstlose Abreagieren von Gefühlchen als Sprachverletzung. Der Verzicht auf literarische Ansprüche führt geradewegs in die Beliebigkeit. Es darf nicht egal sein, was ich schreibe. Disziplin ist keine treibende, sondern das Treiben ordnende Kraft.
Oft spüre ich, wie ich spiele, wenn ich schreibe, das Schreiben als reine Umsetzung meiner Ideen macht mir Vergnügen. Wenn ich etwas aus mir herauslasse, geschieht es fast von allein, mal mehr, mal weniger, da ist eine ernstere Seite, etwa die Gewalt, die in vielen meiner Texte zum Ausdruck kommt, vermischt hier und da mit dem mehr oder weniger bewussten Willen etwas mitzuteilen. (Selbst-)Disziplin ist eine Art Metadenken, dass ich das zunächst Wilde forme – oder bewusst auch nicht! – das geht von der Revision eines Textes über das Neuschreiben bis hin zur völligen Zurücknahme eines Textes.
Im übrigen: Es gibt auch wunderbares Geschwätz. Etwa das Parlando in Mozarts Opern und Klavierkonzerten, oder in Schuberts Klaviermusik über der Tiefe. Dann Bachs Strenge, oft mit melodischer Süße vereint, und rhythmisch rasant. Schostakowitschs dunkle Dramatik. Das gehört alles zusammen. Auch in der Literatur. Thomas Bernhard ist einer der Meister, die Strenge, Parlando und Tiefe großartig amalgamieren.
Als dialektischer Denker, der ich nun mal bin, sage ich: Meine Auffassung von Disziplin verhindert kein Genie, keine geniale Tat – sondern ermöglicht sie geradezu. Denn erst ein Meta-Denken erkennt und realisiert die primären Impulse und Expressionen, Intuitionen und Spontaneitäten. Wer die Regeln kennt, kann sie auch besonders gut überschreiten, ohne in dummen Wiederholungen zu ersticken. Disziplin ist kein Tranquilizer, sondern fördert Zündung und Gestaltung der Phantasie.
Ich bin angewiesen auf Spontaneität, Ideen, Einfälle, irrationalen Eingebungen und Gestaltungen – Angst vor Disziplin habe ich beim Schreiben noch nie gehabt. Und das ist ja auch klar: Meine Selbstdisziplinierung ist zunächst null oder ganz gering (beim Denken, Entwerfen) und kommt immer erst danach und erlöst mich sogar von dieser irrationalen Springflut. – Angst vor der Disziplin haben vielleicht die, denen der Schacht von innen nach außen fehlt – oder jene, die Disziplin mit einer politischen Befürchtung konnotieren.
Die Disziplin, die mir Elternhaus und Schule abverlangte, gefiel mir nicht, ich litt oft sehr darunter. Aber mit der Disziplin, die ich mir freiwillig für mein Werk abverlangen muss, ist es etwas ganz anderes. Demokrit nennt die guten Folgen der Disziplin, den Segen der Ordnung und der Effizienz. Das gilt auch für größere literarische Arbeiten.
Mir hat jedenfalls weder das (oft zu strenge) Elternhaus noch die (oft zu kleinkarierte) Schule die Erkenntnis des Richtigen, Angemessenen, Nützlichen und Notwendigen nehmen können
Ich habe Disziplin, die mir von Lehrern/Lehrenden abverlangt wurde, manchmal durchaus lieben können, etwa als ich Latein fürs Abitur lernte (und den Lateinlehrer mit meinen Freunden zusammen selber bezahlen musste), und in den abendlichen Abiturkursen verliebte ich mich sogar in die einst gehasste Mathematik.
Was einem wehtut, muss immer in größeren Zusammenhängen gesehen werden – der Schmerz des freien Lernens, der freien Disziplin lässt sich verwandeln in einen süßen Schmerz, der sich sogar ein weiteres Mal verwandeln kann in Lust. Es ist wie in der Liebe, und so sind mir gerade die schmerzenden Bücher und Gedanken die schönsten und lustvollsten. Der Schmerz der disziplinierten Arbeit ist gleichsam das Vorspiel der Erkenntnis.
Fazit: Erst auf dem Fundament hart erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten kann sich ein Genie entfalten und seine Ideen realisieren und gestalten, was ihm aufgetragen wird aus tiefstem Inneren, willentlich und bewusst oder gar von außen. Ohne Disziplin vor und während der Entstehung des Werks gelingt nicht viel.
Alles nur Binsenweisheiten – Tautologien, also wahr.
21.
Blind
Wir sehen: Wir sind zu vielem fähig, riskieren das größte Unheil oder tun Gutes. Der Natur ist das egal. Sie weiß das nicht. Und wir wissen es letztlich auch nicht, was das soll, was wir Ethik nennen. Die menschliche Existenz ist Bestandteil der Natur - und die hat (vermutlich) kein Bewusstsein, weiß also nicht einmal von sich selbst. So auch unser Denken. Und die Naturgesetze ergaben sich als (vielleicht einzige) Notwendigkeit und sind im Raum biegbar, also an jedem Punkt ein wenig anders. Entsteht die Natur aus dem Nichts, bzw. ist sie nur ein anderer Aspekt des Nichts, oder ist das Nichts nur ein Aspekt des Etwas? Ist die Existenz der Natur überhaupt real? Wir können es nicht wissen, und wahrscheinlich sind unsere Gedanken über das, was wir nicht wissen können, noch nicht einmal eine Art Kurzschluss im Molekulargefüge des Seins, sondern vollkommen unbedeutende Tautologien, also das Nichts als Formulierung. Die Welt hat keine Augen, wozu auch, sie sähe nur sich selbst oder das Nichts, was dasselbe ist.
Unserem Leben kommen wir nur als Dichter bei. Indem wir das, was wir für real halten, zur Fiktion machen, als wären wir Schöpfer, bilden wir uns Verständnis und Erkenntnis ein. Und die Naturwissenschaften machen nichts anderes, nur dass dort die zusätzliche Zahlensprache eine größere Bedeutung hat und die Hoffnung auf Erkenntnis von grandioser Naivität ist und der Glaube an die beobachteten Tautologien religiöse Kraft erlangt.
Eine der schönsten Opern, die je geschrieben wurden: WERTHER von Jules Massenet. Er begreift mit Tönen die Werthersche Dialektik von Größenwahn und Selbstvernichtung wie Goethe selbst vielleicht nicht einmal. Im Werk, im Schreiben, im Komponieren, im Malen liegen Funken flüchtigen Erkennens, wie bei Hans Castorp im Schnee-Kapitel: Aber am nächsten Morgen ist der Funken schon wieder verwehte Asche.
-
Der Schreiber ist beim Schreiben allein.
Jeder hat seine Art zu schreiben, er gibt sich selbst die Regeln. Er geht von sich aus und von der Welt. Der Autor macht sich im Schreiben kollektiv. Das Kollektive geht durch ihn hindurch - das ist dann gelungene Literatur.
Es ist die Crux vieler, nicht nur junger Autoren, dass sie allzu oft Tagebuchtexte schreiben, Weltschmerzmonologe, und darin ihren Beziehungsjammer ausgießen. In manchen Fällen geht das gut, nämlich wenn die Texte ins Allgemeine streben. Dafür ist eine gute Sprache Voraussetzung und die Abstraktion vom eigenen Ich in einem allgemein gültigen lyrischen oder epischen Ich, also durch Gestaltung, die von mir selbst weitgehend ab-sieht.
Wichtig ist der metaphorische Kern und seine Vernetzung mit der Welt. Der Lyriker muss sich in die Welt begeben. Er darf nicht träge sein und nur im Kopf leben. Seine Gedichte sollen Protokolle des Lebens sein, die Welthaltigkeit heißt aber nicht einfach nur: Ich. Oder: Ich und mein Weltbild. Es ist so leicht und bequem, im Ich-Tümpel zu baden. Es ist aber unmöglich, in so einem Tümpel ins Meer hinauszuschwimmen.
So haben wir auf der einen Seite die larmoyanten bis selbstverliebten Monologisten, auf der anderen Seite die Tempo- und Tageslyriker und die lyrischen Auskotzer.
Selbstdisziplin ist eine wichtige Voraussetzung für eine dichterische Entwicklung, dazu gehört natürlich Geduld und das Aushalten des Scheiterns.
Ich rede - das dürfte klar sein - nicht vom Texter just for fun (davon haben wir viel zuviel), sondern von dem Schreiber, dem es wirklich um Literatur geht und der nicht das lesen oder schreiben will, was er ohnehin schon kennt: Die Befindlichkeiten von ungezügelten Jammerlappen, die ihre Ich-Probleme zum Maßstab ihrer Weltbetrachtung machen.
2.
Am meisten bewirken die Werke für andere Werke.
Was sie für den einzelnen Leser bedeuten, weiß jeder nur für sich. Ich halte es mit Schopenhauer: Dass die Kunst uns tröstet in der Schwere unseres Seins. Nur sie vielleicht gibt uns einen Sinn für unsere Existenz. Von der Ruhe der Bilder geht ein Sturm in uns aus.
Ich bewerte die Wirkung meiner Texte nicht hoch, aber ich will wenigstens, dass die Leser neue Aspekte der (analog) erlebten Wirklichkeit erkennen können. Simulation? Nein. Übertreibung? In der Form, in der Bildlichkeit oder Symbolik ja, aber inhaltlich nie. Ich erlebe die Welt im kleinsten Maßstab immer als Kosmos: Schwer, und sinnlos ohne mein Zutun. Ich will Ironie, Humor, Scherz und Spiel meiner Texte nicht abstreiten, ich bin nicht gegen Unterhaltung, wenn die (verdeckte) Intention nicht verspielt sein will. Und doch sind alle diese Sageweisen zugleich ganz ernst gemeint.
3.
Was ich will
Ich will ein Kompendium meiner Welt-Anschauung schreiben, und da ich die Welt bin, ein Kompendium meiner selbst: Als Theater, als Spiel mit der Welt, also mit mir.
Und doch stehe ich auch in einem Leben, das ich nicht bin, in dem ich werde. Und was ich nicht werden kann, spiele ich in meiner Sprache.
Ich lebe eine unio mystica mit meinem alter ego, also mit der Welt in mir und außer mir: Ganz werden, ganz sein in der Metamorphose von Fragment zu Fragment. Das Fragment ist das Atom des Ganzen. Dabei ist mein spielendes Ich absolutistisch stark: Ich leite mich von mir selbst ab.
Mein Über-Ich ist Spielball des starken Ichs. Die Herrschaft des Es will ich nicht. Ich will die absolute Herrschaft des Ich, die eine intersubjektive Vernunftherrschaft des Einzelnen über sich selbst ermöglicht. Erst solche Ichs, die eine Herrschaft des Über-Ichs nicht benötigen, geben die Freiheit, eine mündiger lebbare Außenwelt zu erschaffen.
Die interne Affirmation meines Ichs (ich, Gott, bete mich an) ist die dialektische Voraussetzung seiner Aufhebung. Die Synthese ist nicht die Herrschaft eines Über-Es, sondern die Erhebung meines Unter-Ichs zu einem Ich der freien Mit-Ichs, um mich freier und reicher zurückzuerlangen.
Der dialektische Eskapismus ist eine weitere Voraussetzung, die eigene, und dann die Wir-Geschichte zu gestalten.
Mein höchster Wunsch ist Selbsterschaffung als Gegenbewegung zur Welt, wie sie mir widerfährt und mich verwundet.
Das Schreiben hat immer auch eine therapeutische Dimension, als Trost und heiteres Spiel mit mir und der Welt.
In der Tat, das ist die größte Aporie, zugleich der größte innere Widerspruch in (m)einem Leben: Zu wünschen, dass die Welt gebessert und der Tod besiegt werde, und insgeheim zu hoffen, dass sie ungefähr bleibe, wie sie ist, weil ich ohne Verletzung, ohne Todesgewissheit gar nicht leben, also gar nicht schreiben könnte. Ich könnte mich sonst nicht gebären, und mir bliebe unbewusst, dass sich die Welt in mir erschafft.
Ich will diese Widersprüche dialektisch begreifen, weil ich muss, und nur so, in einem ernsten Spiel, kann ich sie erleiden, er-leben, er-tragen und aufheben. Ich bin ein gesalbter Sisyphos.
Das doppelte Aufheben von These und Antithese, diese von Hegel geschaffene Denk-Bewegung, ist meine formale Religion.
4.
Splitterstaub
Dichten ist verbale Boulimie nach lexikalischem großem Fressen.
Und das Stärkste ist, dass wir alle so angefangen haben, und dass sogar davon etwas in uns bleibt: Dieses Überlebenwollen im Werk und in der Kommunikation mit anderen.
Der Lyriker ist der individualistische Versucher des kollektiven Bewusstseins.
Lyrik, die formalen Bindungen ausweicht, ist deswegen nicht wahrhaftiger. Wahrhaftigkeit kann sich auch in formaler Bindung behaupten und erzeugen lassen.
Es bleibt abzuwarten, ob eine Renaissance formal traditionell geprägter Lyrik wirklich präsent ist und Bestand haben kann. Vielleicht ja, weil fortgesetztes Jandln, Dadaisieren, Prosaisieren und Konkreteln längst in Sackgassen führte.
Es bleibt auch abzuwarten, ob Rückbesinnung auf Handwerkliches den Kunstbegriff und das Kunstgefühl erweitern hilft, oder ob es Haltsuche bedeutet in haltloser Zeit.
Das Sonett hat zerebrale Gefahren, öffnet narzisstische Fallen, ist also eine Art didaktisches Extremum.
Zeigen dass kann darf nicht sein, leicht muss das Sonett in seiner Schwere sein!
Das Richtige ist kein Maßstab, der genügt.
Der handwerkliche Akzent in der Literatur darf nicht zu scharf sein, so sehr heute Handwerkliches zu fehlen scheint. Handwerkliches Können wandelt sich außerdem. Heute sind es nicht Silben, Metrum, Reime. Die gegenteilige Wichserei im extrem langweiligen Experimentierexperiment ist auch nicht das rechte Maß der Kunst. Heutzutage ist im Grunde nur der Einzelfall beurteilbar.
Visuelle Poesie: Hier gelingt die schnelle Interpretation der Polyvalenz aus der Instant-Packung, da hat Pierre Garnier die Pop Art endlich in die Text-Sphäre reingezogen.
Die Syntax der Sprache wird weitgehend ersetzt durch eine Grammatik für Augen.
Konkrete Poesie: Da geht der Strich auf den Strich.
Wie sähe Poesie aus, in der alles sich verbindet: Eine Art visuelle Wortmusik?
(Die Idee des Gesamtkunstwerks auf minimalistischer Ebene.)
Was die Mixtur der Künste angeht, so ist jedes Gesamtkunstwerk-Streben und jedes Teilkunstwerk-Experiment in Ordnung. Aber ich befürchte, so mancher allzu platte Teil und die alles rettende und fliehende Ironie, dieser ganze nach innen umgestülpte
Hedonismus-Krampf, führen dazu, dass die Programme viel besser sind als ihre Inhalte, dass oft das Programm schon der ganze Inhalt ist, also kein Inhalt.
Nicht so leicht heute in der neuen Geniezeit aufzutauchen und nicht gleich wieder unterzugehen. Wer heute etwas sein will, muss schon als Legende anfangen, und die Legende muss sich bei näherer Betrachtung als rostfreier Stahl erweisen. Aber so war das schon immer, nur die Mittel (die Medien) ändern sich.
Manchmal denke ich, unser Denken hat doch recht viel zu tun mit der Quantenmechanik. Wir kombinieren alle Möglichkeiten der sprachlichen Elemente - in einem logischen Grobrahmen, wo Freiheit Zufall ist oder Zufall Freiheit, und die Rückkoppelung (Reflexion) eine Ahnung vom Ganzen, eine Art Transzendenz by doing.
Wir sind gar nicht im Käfig, sondern umgekehrt!
Das Quantensystem reflektiert sich nun selbst, es würfelt sich selbst und wird umgekehrte Messapparatur, es existiert also durch sich selbst, es ist sich selbst transzendent, könnte man sagen, und solche Absurdität von Autopoiesis ironisiere ich.
An der physikalischen Weltanschauungskatze hänge ich, da die Quantenmechanik viel mit meiner Lebensanschauung zu tun hat, sowohl die Wahrscheinlichkeitsrechnung mit ihrer Mixtur aus Zufall und Notwendigkeit (Jacques Monod) als auch die Austauschbarkeit oder das gleichzeitige Vorhandensein von Materie und Idee (Schein und Sein, Form und Inhalt).
Social Beat ist zu 99% das, was man fühlt, wenn man um die 20 ist, und was man besser nicht zu Kunst formen soll, wenn man immer noch keine Ahnung von Kunst hat... alle diese Durchschnittsgedanken, dieses ausgekotzte Nichterwachsenwerdenwollen: Selbst-Punktieren der Hirnflüssigkeit und Verteilen der Gedanken und Gefühle mit breitem Pinsel auf viele Blätter. Trocknen lassen. Dann die Blätter zerschnipseln und nach Reizwörtern collagieren. Kleine gesuchte Witzigkeiten sind Trumpf. Small talk, Sozial-Getue, leeres Kulturgehabe diese Selbstumarmungen. - Auf nicht-intellektuelle und im Grunde schon anti-intellektuelle Art intellektuell sein wollen - nee!
Mir gefällt das Kommunikative, die Musik des Rap und der Fluss der metaphysisch hingerotzten Gedanken, jedenfalls dann, wenn sie nicht vollkommen verlogen sind.
Ich hätte von Straßenkindern mehr gelernt als in der Schule und im Elternhaus. Die Mängel des breiten Bildungsbürgertums haben einen größeren Schaden in der Geschichte nicht nur des deutschen Volkes angerichtet, als man annimmt. Zu positiv wird selbst der Schatten puren Bildungswissens bis auf den heutigen Tag gesehen.
Wolf Biermann sagt das Wahre immer so entsetzlich schief, dass es dadurch wieder falsch wird, Biermanns Dialektik ist schizophrene ungehobelte Scholastik.
Meine Sorge ist nur, dass immer der Körper den Geist verrät, weil er stärker ist, es sei denn der Höchstkapitalismus ist Geist, aber das will ich nicht glauben. Oder alles Geistige ist nur eine andere Form des Körpers, das befürchte ich schon eher. In dieser schrecklichen Wahrheit richte ich mein Leben – mein Schreiben – ein als Traum oder Lüge in meinem kleinen Glück. Lebenserträglichkeit. Glückliche Zufälle erlauben mir so eine Denkweise. Das historische Wissen und das tägliche Studium der Mitmenschen warnen mich vor systematischer Solidarität, die erst den einzelnen, dann immer mehr, bald alle in ihrer Umarmung erstickt. Aber relative Solidarität ist lebensnotwendig - hier fehlt ein pragmatischer politischer Weg.
Dichtung darf nicht zu direkt sein. Sie soll ein moralisches Fundament haben, aber auf diesem Fundament muss etwas stehen, das nicht die Verlängerung des Fundaments bis zum Dach ist.
Politik soll Dichtung sein. Dichtung teilt mit, schildert, beschreibt genau, klagt, klagt an, ist Werk, ist Kunst, ist Kosmos im Kleinen. Dichtung führt zur Imagination neuer Bilder, Gedanken, Denkweisen, insofern ist sie auch lehrhaft, sie schreit, singt, weint, sie schweigt sogar manchmal, in subtiler Weise erzeugt und verstärkt sie die Solidarität unter den Menschen, begleitet moralische Wandlungen im historischen Wandel und gibt, aber nicht als billiges Opium fürs Volk, Trost und Hoffnung, deutet Lebenssinn und gesellschaftliches Sein, ergreift Partei und setzt immer die Freiheit des Andersdenkenden voraus. Dichtung verändert indirekt, oft heimlich und unbewusst, getragen von einer (moralischen) Idee, aber in Bildern, die dem Leser Freiheit lassen.
5.
Kleine Visionen
(Der Text, das Buch und die schöne Literatur im 3. Jahrtausend)
Die Poesie, die sich als Kunst versteht, wird es gegen die Massenliteratur auch im dritten Jahrtausend so schwer haben wie bisher, aber sie wird sich behaupten. Echte Kunst wird gerade dann bessere Chancen haben und wieder mehr gesucht werden, wenn die Massenliteratur unüberblickbar wird. Die (von Autoren-Teams) lektorierten Bücher, die im Namen eines Pseudo-Autors herausgegeben werden, also reine (arbeitsteilige) Industrieproduktionen sind und Massenbedürfnisse befriedigen sollen, werden als Wegwerfware hergestellt. Daneben suchen genügend viele Leser die Bücher, die nicht nur einer Mode oder dem Zeitgeist entsprechen und billig Sensationen vermitteln oder erfinden. Das beweisen die vielen immer wieder und immer mehr entstehenden Literaturzeitschriften von kleinen Verlagen oder Autorengruppen, aber auch die vielen Gedicht-Anthologien größerer Verlage. Das gedruckte Wort bleibt primär, das Internet kommt hinzu, der Selektionsprozess wird komplexer, aber in mancher Hinsicht auch spannender. „Book on demand“ muss als Chance für finanzschwache Autoren oder Kleinverleger gesehen werden. Die Vielfalt der Themen, Stile und Textarten wird weiter zunehmen.
(Die Poetik des 3. Millenniums)
Kriterien für das, was die schöne oder hohe Literatur oder ein Gedicht sein soll, werden immer weniger formulierbar. Der Kunstbegriff weitet sich immer mehr. Die Theorie wird auch in Zukunft hinter den tatsächlich entstandenen Gedichten ‘praktischer Poetologen’ hinterherhinken. Poetologie wird immer ungültiger, sie wird von den Poeten selbst gesetzt und entwickelt. Das war eigentlich immer so. Der Dichter schert sich nicht viel um literaturhistorische, akademische Fragestellungen. Der Konsensualisierungsprozess für die Literatur, die sich durchsetzt, wird, auch im Bereich künstlerischer Belletristik, von immer mehr Menschen gesteuert oder begleitet. Es gibt heute viel mehr Experten als früher. Was ein Gedicht ist, bestimmt der Autor und der Leser, jeder für sich. Das dritte Millennium wird neben der Massenliteraturware zugleich die Emanzipation des absoluten Autors und des absoluten Lesers manifestieren. Anders gesagt: Die Industrie-Literatur provoziert, je stärker und massenhafter sie wird, ihren Selbstwiderspruch, ihre Antithese: Die Individual-Literatur der vielen Autoren, die sich den industriellen Schemata und Genres entziehen - wird auf eine wachsende Zahl von Menschen treffen, die den allzu simplen Kriterien der Massenkommunikation entrinnen wollen. Neuerungen werden auch in Zukunft von diesem Diskurs ausgehen, und nicht von der tautologischen Kommunikation in den Massenmedien. Die Kriterien, die für die Kunst gelten, werden stets von der kleinen Elite der Wachen und Phantasievollen, von denen, die das Neue tatsächlich machen, und zwar im vollen Bewusstsein eines möglichen (künstlerischen oder finanziellen) Scheiterns. Zu solchen Kriterien wird, wie bisher, gehören: Neuheit der Beziehungen unter den Wörtern, Spannung durch (teils unerwartete) Bezüge zu außersprachlichen Kontexten und zu den anderen Künsten, Klarheit bei höchster Komplexität der Struktur, Freiheit gewährende Lesesteuerungen, originäre Selbstreferenz des lyrischen oder epischen Ichs, und eben dadurch stilistische Individualität. Der Bezug zu unserer Zeit oder die Identifikation des Lesers mit den Stoffen und Themen solcher Literatur sollte immer eher indirekt, nie aufdringlich gegeben oder möglich sein, nicht im marktorientierenden Sinn, unbedingt in ethischer Verantwortung: Gerade die utopische Vision (mit uneingeschränkter Kritik der Gegenwart) unterscheidet gute Literatur von der schlechten industriellen Massenliteratur, welche überwiegend vordergründige Bedürfnisse befriedigen will, insofern falsch tröstet oder unterhält, anstatt die wirklichen, den Moment überdauernden Bedürfnisse der Menschen zu erwecken oder bewusster zu machen.
(Das Charakteristische einer Poesie des Synkretismus im 3. Millennium)
Wagner ist tot, es lebe das Gesamtkunstwerk! Die Oper, vielleicht die bedeutendste künstlerische Leistung, mit der sich abendländische Kultur von anderen Kulturen unterscheidet, ist nach wie vor eine geeignete Form für die Integration der Künste. Aber die Möglichkeiten für Werke der integrierten Künste sind noch lange nicht ausgeschöpft. Maurizio Kagels jetzt uraufgeführtes Werk „Entführung im Konzertsaal“ beweist: Sogar ein Orchester kann Theater erzeugen, konzertante Oper, visuelles Hörspiel, modernes Oratorium. Die Künste sind nicht mehr so klar abgegrenzt. Da Sprache zugleich Musik ist, bietet die konzertante Oper ein gutes Fundament für autonome Dichtung innerhalb eines größeren künstlerischen Zusammenhangs. Auch das Hörspiel lebt wieder auf, gerade weil es sich mit neuen musikalischen Formen verbündet, auf Klang und Musik der Sprache setzt und auf hörbar gemachtes Collagieren von Stimmen, Räumen, Zeitebenen, Perspektiven, Gedanken, Träumen, Textsorten, Kommunikationsarten, Kontexten und Sprachspielen im Sinne Wittgensteins.
Das dritte Millennium wird die Kontexte, in denen Sprache steht, weiter ausloten und wird neue Kunst-Formen finden. Sprechsprache wird aber konkurrieren mit den vielen anderen Sprachen, die unser Leben ausmachen, Körpersprache, wissenschaftliche Sprachen, die Sprachen der anderen Künste und die Zeichensysteme im Alltag der technischen Umwelt. Dies alles wird zu einer Explosion künstlerischen Findens und Empfindens führen. Auch hier wird die industrielle Warenkunst den Avantgardisten epigonal hinterherlaufen, und das ist vielleicht eines der wenigen, immer gültigen Gesetze in der Kunst.
(Schriftsteller und Leser im Zeitalter neuer Medien und Reproduktionstechnik)
Die vielen Literaturzeitschriften von kleinen Verlagen oder Autorengruppen zeigen, dass die Reproduktions-Maschinen der Industrie auch genutzt werden können vom Einzelnen, der sich der Massenwaren-Herstellung widersetzt. Ich glaube zwar nicht, dass die Kulturindustrie ihre Totengräber produziert. Aber die Möglichkeiten, den Selektionsprozess subtiler zu gestalten, wachsen. Die Autoren sind nicht mehr so abhängig von Kulturzaren, die Kunstkriterien doktrinär oder mäzenatisch bestimmten. Das moderne Kopiergerät ist der erste Fundamentstein eigener Verlagsfreiheit. Es ermöglicht aber natürlich auch die ganze Bandbreite schwacher Produktionen, die nur der Befriedigung der Eitelkeit dienen. Diese Produktionen sind leicht und schnell durchschaubar.
Aber wichtiger ist die Tatsache, dass heute viel mehr Menschen literarisch aktiv sind als früher. Dieser Prozess wird noch stark zunehmen und dazu führen, dass die literaturwissenschaftlichen Fächer an der Universität mit der Zeit umgestaltet werden, dass wissenschaftliche Analyse transzendiert wird von literarischer Synthese, also wissenschaftlich entfalteter Kreativität.
Die neuen Vervielfältigungsmaschinen mit Computersteuerung (auf der Grundlage von Textverarbeitungsprogrammen) ermöglichen bald die rentable Herstellung von kleinen Auflagen: Book on demand. Dann können auch kleinere Zeitschriften die Produktion selber in die Hand nehmen und genau den Bedürfnissen anpassen. Das Internet bietet recht bald darüber hinaus die Möglichkeit, kleinere Zeitschriften überregional selbst zu verlegen, als gedruckte Hefte oder als elektronisch übermittelte Texte. Natürlich ist die derzeitige Unübersichtlichkeit im Internet ein Gegenargument. Neue Kommunikationsformen und Verfahren für die Selektion sind zu (er)finden. Ich sehe für die Literatur mehr gute Chancen als Nachteile.
Der Erfolg der Literatur und der Diskurs der an der Kultur Beteiligten (bis hin zum Dialog zwischen Autor und Leser oder Leser und Leser) hängt letztlich nicht am gedruckten Wort, am Buch. Das Buch wird wahrscheinlich nie untergehen, aber die neuen Literaturmedien werden die Literatur bereichern. Keiner kann jetzt schon im Einzelnen sagen, welche Wirkungen die neuen Medien auf die Sprache und die Formen der Literatur und die beschleunigte Integration aller Künste haben wird. Die negative Seite der neuen Kommunikation steht jetzt schon fest: Geschwätz. Die positive Seite aber wird mit Sicherheit im neuen Millennium auch geschrieben werden!
6.
Der Raum des Sagbaren
Lyrik steht immer auf der Schwelle des Sagbaren zum Gesagten, aber nicht nur im Hineingehen in den Raum des Sagbaren, sondern auch im Hinausgehen aus dem Gesagten. Der Lyriker ist der individualistische Versucher des kollektiven Bewusstseins. Das Lyrische Ich unserer Zeit findet Einheit im Prozess seiner Selbstauflösung nur im Bewusstsein der heilsamen babylonischen Sprachverwirrung, in der es sich selbst kaum noch versteht, wenn es sich mit vier Ohren zuhört und versucht, den gesellschaftlichen Diskurs zu einem kollektiven Selbstgespräch unter vier Augen umzuformen.
[1997]
7.
Topp!
Das ist meine Ambivalenz: Meine hedonistische Kunst- und Lebensphilosophie, die ich zu einem guten Teil realisiere, geht Hand in Hand mit meiner Arbeit als Lehrer, die ich ebenfalls so hedonistisch wie möglich mache.
Es sind noch glückliche Widersprüche: Soll ich mein kleines Glück dem Interesse einer sozialen Revolution opfern, die mein Glück aufhebt? Ich heule mit den Wölfen, ich mache nichts gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Ich bin eine Hure der herrschenden Verhältnisse. Ich halte still und werde gut bezahlt. Schon der erste Schritt zum Märtyrertum des Idealisten, der die Welt mit seiner Tat politisch radikal umgestalten will, fiele mir schwer. Mein Hedonismus ist nicht von der Art der Revolutionäre. Das habe ich nie gewollt, nur geträumt, nie geübt. Jetzt werde ich immer älter: Ich weiß, dass ich mit meiner Weisheit auch immer feiger werde. Meine ganze Kraft reichte für das, was ich wurde und immer noch werde. Schon das ermüdet mich.
Meine kleine Kunst, das Schreiben, ist dreifach motiviert: Es stärkt meine Lebensart; es ist mein Alibi für die politische Tat; es ist meine profane Religion, mein Trost und Rechtfertigungsgrund, damit ich das Leben, wie es ist, ertragen kann. Wenn ich mein Leben nicht zugleich auch spielen könnte, hielte ich es nicht aus.
8.
Auch das Schreckliche inspiriert.
Die einstürzenden Türme des World Trade Center, und die Aussage von Karlheinz Stockhausen:
„Was da [am 11.9.2001 in New York] geschehen ist, ist - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat. Dass Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nicht träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert und dann sterben. Das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos... Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, als Komponisten. Ein Verbrechen ist es deshalb, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das ‘Konzert’ gekommen. Und es hat ihnen niemand angekündigt, ihr könntet dabei draufgehen. Was da geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal auch poco a poco in der Kunst. Oder sie ist nichts.“
9.
Was ist wahre Poesie?
Wahre Poesie enttäuscht, lehrt sehen: Das Gute wie das Schlechte in der Welt. Sie stärkt meine Wünsche, bestätigt sie und eröffnet mir neue. Meine Wünsche drängen nach meinem Glück. Die Poesie zeigt mir, wie mein Ich sich am Ich der anderen reibt - so will ich die Harmonie von Ich und Du zum Wir.
Poesie soll mein Inneres offenlegen auf der Folie der Wirklichkeit. Sie justiert mein Handeln, und mein Handeln treibt sie durch neue Träume vorwärts. Traum und Realität sind nur allgemein verständliche Bezeichnungen für Bewusstseinszustände ein und derselben nicht vollständig erkennbaren und beschreibbaren Wirklichkeit.
Meine Genusssucht verlangt, dass diese Arbeit der Selbst- und Fremderkenntnis lustvoll, ja zuweilen lustig fortschreite. Die Arznei des Gehirns, das ist die Sprache der Dichter, in Wahrheit lese ich aus ihnen mein Serum gegen geistigen Starrkrampf, ich bin als Leser immer zugleich selbst Dichtender - anders ist kein Lesen möglich.
Poesie ist kein Opium, keine Religion, kein Versprechen. Ich selbst muss das Opiat meines Handelns gewinnen: Neue Worte, neue Gedanken. Die Kunst, die Lügenzerreißerin, weitet meine logischen Räume. Die Mythen, Gesichte und Bilder formen Gegenwelten, aus denen ich hart auf die Erde zurückgestoßen werde. Den großen Traum Dantons pflanzend sehe ich das unerreichbare Ziel: Eine schmerzlose Welt. An Abgründen vorbei stolpernd rette ich mich in die Bejahung: Das Leben.
10.
„irgendwie ist jedes gedicht eine vivisektion des autors an sich selbst.“
(Katrin Stange)
Vielleicht ist das nicht bei jedem Gedicht so, mal mehr mal weniger, aber indirekt bin ich immer in jeden Text hineinseziert, das ist wahr. Wirkliche Dichtung ist es dann, wenn das der Leser nicht als autobiografische Mitteilung liest, sondern als allgemeingültige Worte eines unbestimmteren lyrischen (oder epischen) Ichs.
Natürlich setzen wir in der Dichtung unsere Erlebnisse um, unsere Träume, Ängste und Hoffnungen, unsere suchenden Gedanken und die Bilder, die uns immer wieder verfolgen, ohne dass wir das immer so genau wissen. Manchmal entdecke ich mich in einer Erzählung erst später, lange nachdem ich die Geschichte geschrieben habe. Ich kann mich und das Erlebte in Gedichten nicht gut genug sublimieren oder kostümieren oder verdichten, aber in der (mehr oder weniger parabelhaften) Erzählung kann ich das. Selbst wenn ich nur zu spielen glaube, verrate ich mich, wenn auch meist nur in Chiffren, es sei denn, es kennt mich einer sehr gut und weiß von mir und meinem Leben fast alles. Auch offenbar unterbewusste Sehnsüchte fallen in das Erzählte, aber ich schreibe so, dass der Leser nicht mich dechiffriert, sondern entweder sich selber oder nicht explizite Intentionen oder Motive.
11.
Tautologie
obwohl in der Tiefe des Gedichts die Wahrheit liegt, dass alles Reden und Schreiben ein einziges Schweigen ist. Totsein ist Leben, die Dinge sagen sich alle selber, das Leben ist eine Formel des Nichts, nur ein anderes Wort, eine andere Gleichung. Alle Gleichungen sind Tautologien, links steht dasselbe wie rechts. Alles sagt sich selbst. Whitehead/Russels „Principia Mathematica“ und Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“. Freges Wahrheitsstriche, die Russell weglässt, sind nur Behauptungen von Geltung, damit ist nicht gesagt, dass das behauptete Sein überhaupt gilt oder da ist. Das Sein ist nur ein umgestülptes Nichts - oder umgekehrt, das Nichts ein umgestülptes Sein. Das Umstülpen ist das Geheimnis von Zufall und Notwendigkeit (Monod), und das Gesetz ist die Wahrscheinlichkeit: Alles kann sich ereignen, auch das Nichts, auch der Mensch, das Jetzt, es ist ja genug Zeit und Raum da, genug Platz im Nichts, um durch alle Zustände zu gehen, auch die ‘unmöglichen’.
12.
Literarisches Träumen
Hebt der Schreibende im Schreibakt Fragmente aus dem Unterbewusstsein?
Ich spüre, dass es (Es) mich manchmal zum Schreiben bringt, oder dass es (Es) sich (ab)schreibt, wenn ich schreibe. Das lässt sich forcieren wie das Träumen im Schlaf. Wenn ich Träume aufschreibe, wenn ich sie erwarte, dann träume ich mehr. Wenn ich schreibe, träume ich mitten im Wachsein. Allerdings sind diese Schreibwachträume nicht so bildreich, nicht so stark wie Schlafträume – ich kann aber den Keim des Schreibwachträumens im Schreibakt wachsen lassen, ich erreiche dann manchmal Traumqualität. Es schreibt dann in mir von ganz allein, so geht das über einige Sätze, und der Rest ist Ergänzung, Extrapolieren des Angeträumten... In so einem Schreibakt schaue ich mir sozusagen beim Träumen zu, ohne zu wissen, dass ich träume. In dem Moment, wo mir bewusst wird, dass ich wach traumschreibe, verliere ich die notwendige Unbefangenheit und bin in der Bearbeitung und ÜberFormung dessen, was sich mir fast wie von selbst schrieb.
Es geht nicht immer, aber es geht und ich spüre es im Wackelkontakt der Bewusstseinswechsel. Diese Bewegung erscheint mir dialektisch – sie ist schreibendes ErLösen des Unterbewussten.
13.
Zur Literatur unserer Zeit
Schon manchmal entstand der Begriff einer Literaturepoche in der Zeit selbst, etwa „Sturm und Drang“. Aber jetzt ist das schwieriger: Die Postmoderne schwappt nur noch müde so dahin.
Mir fallen folgende Attribute unserer Literatur heute auf:
Regellosigkeit (teils auch schon im Aufbruch zur Moderne um 1910 und in der Postmoderne)
Verfremdung (so schon bei Brecht etc.)
Glaubenslosigkeit, Nihilismus (auch schon seit dem Expressionismus)
Spiel und Koketterie (mit Formen und Inhalten)
Alles darf sein
Tabubruch (die letzten Tabus fallen)
Auflösung aller ästhetischen Begriffe
Das alles bringt mich zu dem Versuch, unsere Literatur-Epoche, falls sie eine ist und wird, zu bezeichnen als Literatur der Entfremdung oder Auflösung.
Aber hat es jemals irgendeine Epoche gegeben, für die nicht – zumindest im eigenen Selbstverständnis – Tabubruch charakteristisch gewesen wäre? Tabubruch war bis zur Mitte des 18. Jh.s selten und äußerst schwach und kein Charakteristikum der Literaturepochen.
Wenn in Lessings „Emilia Galotti“ der Vater seine Tochter tötet, um ihre Ehre zu retten, so gab es das zwar schon in der römischen Sage (Virginia), aber der politische Angriff in der Verletzung des 5. Gebots war für das Jahr 1773 eine starke Provokation.
Die Selbstkastrationsidee in Lenz’ „Hofmeister“ geht schon weiter.
Aber was in unserem letzten Jh. gewagt wurde, ist viel heftiger, auch in der Massierung (Grass, Die Blechtrommel; Nabokov, Lolita ... )
Und in diesen Jahren ist alles denkbar und schreibbar geworden. Es gibt nur noch ein paar wenige Tabu-Ausnahmen:
Kannibalismus als Ich-Roman, oder Sodomie...
Im Wesentlichen kann gesagt werden, dass Literatur im Wesentlichen immer wieder von den gleichen Themen handelt, nur das Wie ist neu, die Form, die Atmosphäre, die Perspektive etc. – immerhin ändern sich gesellschaftliche Verhältnisse, und schon deswegen kann und muss immer wieder neu geschrieben werden. Einige alte Meisterwerke altern nie.
Einen marktorientierten Epochenbegriff sehe ich nicht auf uns zukommen, weil bisher immer inhaltliche Begriffe gefunden wurden. Die Begriffe werden letztlich für die elitäre Literatur gefunden, der Rest (schon immer sehr kommerziell) geht unter.
Heute schreiben viel mehr Menschen als früher – und die Medien, die Literatur transportieren, sind ebenfalls stark gewachsen. Ich vermute, dass die Literaturgeschichtsschreibung weiterhin von Universitäten dominiert wird. Ich bin sicher, dass die Massenliteratur erfasst wird und Namen erhält, aber die hohe Literatur wird von der akademischen Elite weiterhin erwählt – unabhängig von Leserzahlen.
Natürlich kann ein Werk der hohen Literatur thematisch auch im Mainstream liegen, wie Goethes „Werther“ (Epoche der „Empfindsamkeit“, aber teils noch dem „Sturm und Drang“ zuzuordnen). Wann eine Epoche beginnt, ist nicht genau zu sagen, wegen der sanften Übergänge – oder aber weil ein Werk mehrere Aspekte enthält. Manchmal wird eine Epoche vorweggenommen wie im Werk Georg Büchners, der Realismus, Naturalismus und Expressionismus partiell vorzeichnet. Es sind Entscheidungen akademischer Pfleger und Hüter des literarischen Erbes, die darüber befinden.
Was zur hohen (elitären) Literatur gehört, ist oft ganz klar zu sehen. Nimm „Ulysses“ von James Joyce – diesen Roman verstehen vielleicht 3 von 100, noch weniger aber lesen das Buch ganz.
Der intellektuelle Schwierigkeitsgrad eines Buches ist beschreibbar. Trotzdem gehören auch gut verständliche Bücher (oder einzelne Gedichte) zur hohen Literatur. Wer legt das fest? Rezensenten, Kritiker, akademische Philologen, aber auch Verleger, Lehrer (die bestimmte Lektüren im Unterricht behandeln), Theaterintendanten... und das ist nun mal tendenziell die Elite. Der Konsens wird nicht demokratisch hergestellt, sondern durch einen sehr komplexen und mehreren Regelwerken oder auch in Irrationalismen sich entwickelnden Diskurs.
14.
Lesen ist Schreiben
Als Kind las ich meistens im Bett, ich kuschelte mich in die Decke und dann konnte ich stundenlang, manchmal den ganzen Tag, in mein zweites Bett kriechen, das Buch war mein Bett im Bett, mit dem ich geschlafen habe, das meine Höhle war, in der ich ganz wach schlief. Am Wochenende im Winter war das leicht, und meine Großmutter, Mama Louise, mit der ich lebte, ließ mich den ganzen Tag in meinem Doppelbett. Dann las ich Ben Hur zwei Mal, drei Mal, vier Mal, aber nicht hintereinander, ich las Kampf um Rom und Huckleberry Finn, ich las an solchen langen Wintertagen zwei bis drei Bücher gleichzeitig. Schwierig waren immer die ersten 30 bis 50 Seiten, dann war ich drin. Ich las dann das Buch immer zu Ende. Ich habe noch in Erinnerung, wie schnell ich damals las - es ist dasselbe Tempo wie heute: Etwa 30 Seiten in der Stunde. Das ist langsam. Ich genoss die Sätze. Ich sprach in Gedanken das Gelesene mit, um es besser betonen zu können. Ich liebte die Bücher mit viel wörtlicher Rede - in den Karl-May-Romanen, die ich in Serie las, am liebsten Durch die Wüste, Allah il Allah, wurde viel gesprochen, und die Helden hatten viel Erfolg, da lohnte sich die Identifikation mit ihnen.
Ich glaube, ich habe den Thesen des Aristoteles, die er für die Tragödie aufstellte, voll entsprochen: Wenn ich Bücher las, ob Dr. Doolittle oder Enid Blyton, Karl May oder Quo vadis? - immer reinigte ich meine zart reifende Seele von Furcht und Mitleid in den imaginierten Abenteuern der Helden. Tom Sawyers trickreiches Leben, Old Surehands Klugheit - das war meine Katharsis. Meine Helden mussten Männer sein, kleine oder große. Mit Frauen wusste ich nichts anzufangen. Erst sieben Jahre später interessierte mich Madame Chauchat, die heiße Katze im Zauberberg, Molly Bloom, oder Lolita - obwohl... die Frauen in der hohen Literatur lassen sich primär über die hinter ihnen stehenden, über oder unter ihnen liegenden Männer definieren. Männer blieben immer interessanter, in der Literatur und in den geistigen Dingen. Ich sage nur, wie es ist. Ich bilde keine Theorie. Ich beanspruche keine Aufmerksamkeit für meine Erfahrung. In meinem erwachsenen Leben liebe ich natürlich Frauen - aber das ist nicht die Literatur oder die Philosophie. Das ist ein anderes Kapitel des großen Romans, den ich mit meinem Leben selber schreibe, das mich schreibt und in Versen und epischen Sätzen reflektiert. Eins geht ins andere über.
Als Kind träumte ich die gelesene Realität in meinen Tag, und heute geht es mir ganz ähnlich, natürlich viel subtiler, ich erkenne im Leben der anderen und in meinen Handlungen immer wieder die literarische Essenz, sehe mich selbst als einen Helden meines gelebten Romans, und identifiziere mich mit dem Helden, der ich nun selber bin, und ich schreibe mich und lese mich, lese mich und schreibe mich, es ist ein und dasselbe. An die Stelle der Seiten treten die Jahre. Das Ende kenne ich nicht. Ich bin das Buch, das sich schreibt.
Ich schreibe, ich lese, und während ich lese, schreibe ich schon weiter. Ich fühle mich wie der Hase dem Igel in mir unterlegen, ich will aber kein Igel sein, kein Techniker von Permutationen meiner Poesie, ich schreibe wirklich immer weiter, schreibe mit meinen lesenden Augen um die Wette, bin mir immer um mindestens ein Wort voraus, und wenn ich versuche über den Schatten des Geschriebenen zu springen, erreiche ich nie die Geschwindigkeit im Lesen, werde ich mich nie einholen, auch nicht, wenn ich rückwärts lese. Ich käme nie an den Ursprung der Worte, der sich mir entzieht wie das Jenseits der Schatten. Aber ich könnte mich leicht einholen und dann auch überholen, wenn ich nur wollte, ich könnte der Schattenspringer werden und aus dem Diesseits der Sprache in ein Jenseits der Worte springen, wenn ich nur wollte und wenn ich begriffe, dass ich das kann.
Lese ich, wenn ich schreibe? Ich drehe die Frage in die Antwort: Ich schreibe, wenn ich lese.
Ich könnte mich, wie gesagt, überwinden, aber nie lesend, immer nur schreibend. Der absolute Leser, der a priori der beste Leser ist, muss nur wissen, dass er als Leser der absolute Autor ist. Er wird dann auch erfahren: Er ist der beste Autor, den er lesen kann. Dieser Leser, der den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist der aufgeklärte Leser, der ideale Leser, wenn er beim Lesen erkennt, dass er das Buch, das er gerade liest, auch lesen könnte, wenn er es selber schriebe, und eigentlich müsste er es dann gar nicht mehr schreiben, sondern einfach nur leben. Er ist dann der Leser seines Lebens, dessen Autor er zugleich ist, der das Buch nicht braucht, der sich selbst zuklappen und wegwerfen kann wie ein Buch, das er schon kennt, dessen unbeschriebene Seiten in ihm selber sind und die man nur beschreiben muss um zu leben.
So kann ich am Ende sagen: Indem ich mich lese, hebe ich auf, was ich schrieb – und indem ich schreibe, hebe ich auf, was ich lese. Ich bin das Wort.
Ich schrieb, wenn ich als Kind im Bett mit meinen Büchern schlief, alle Romane, Heldensagen und Micky-Maus-Geschichten, die ich las. Ich schrieb, was ich las. In der Schulwoche las ich unter erschwerten Bedingungen, denn mein Vater, der zwei Stockwerke über mir in seinem Studierzimmer wohnte, kontrollierte abends das Licht, das ich spätestens um zehn ausknipsen musste.
Ich wollte lesen, unbedingt, und ich knipste die Lampe wieder an, wenn mein Vater mein Zimmer verlassen hatte. Wenn ich ihn die Treppe hinab steigen hörte, knipste ich die Lampe wieder aus, dann sah mein Vater kein Licht in der Türritze. Das ging nicht lange gut, mein Vater fühlte die heiße Birne und nahm mir die Lampe weg. Eine Zeitlang las ich mit der Taschenlampe, aber die Batterien reichten nicht lange. Ich holte Kerzen aus dem Keller und hielt sie zwischen den hochgestellten Knien fest. Die Daunendecke wölbte ich halb über die brennende Kerze. Es strengte mich zwar an, aber ich fand mit der Zeit eine Haltung, in der ich lange lesend verharren konnte.
Eines Tages aber fiel ich mit meinen Gedanken derart tief ins Buch, dass ich nicht merkte, wie ein Schwelbrand entstand. Erst der beißende Qualm weckte mich, ich schlug auf die glimmende Decke, wollte den unsichtbaren Brand löschen, doch nun stoben die Funken, ich schlug weiter und auf einmal brannte das Bett. Die Flammen machten mir Angst. Ich kam einfach nicht auf die Idee das Feuer zu ersticken, ich schlug immer weiter auf das Feuer ein, bis ich weder ein noch aus wusste, aus dem Zimmer lief und um Hilfe rief.
So lese ich heute noch.
15.
Kreativität und Disziplin
Die Disziplin setzt in der Formung des Materials ein, aber ich weiß, dass schon die Auswahl des Materials einem kreativen Akt unterliegt, nicht beherrschbar ist und auch nicht vollkommen beherrschbar sein sollte. Auch die Formung selbst, zu der eine gewisse Disziplin notwendig ist, geht natürlich einher mit schöpferischen Kräften, spontanen, intuitiven Ideen. Trotzdem: Disziplinierung ist nicht nur Handwerk, sie ermöglicht auch den richtigen Fluss der Kreativität. Ich wende mich gegen das schnelle Runterschreiben. Das kann hin und wieder gut gehen. Aber besser ist es, wenn der Autor seine Kreativität trainiert: Wenn er das Träumen vermehrt, indem er es sich vornimmt, sich damit beschäftigt, analysiert, interpretiert, Träume literarisch verwendet. Kreativität ist stimulierbar und trainierbar, wenn auch nicht immer abrufbar, aber es ist steuerbarer, als mancher glaubt. Mag sein, dass diese Begabung sehr unterschiedlich ist.
Ich stelle mir einen Schacht zum Unterbewusstsein vor, den ich öffne, wenn ich schreibe. Ich spüre nach einer Weile, wie die Sprache von allein fließt. Aber das kann ich steuern, jederzeit, und auch erst einmal zulassen, dann wieder anhalten. Ich schreibe morgens am besten – aber da muss ich arbeiten gehen, und am Wochenende komme ich morgens selten zum Schreiben. Jedes Mal in den Ferien, vor allen in den Großen, spüre ich, wie nach etwa einer Woche dieser kontrollierbare Prozess der Förderung aus dem Schacht immer besser wird.
Elias: Lieber Bergmann, ... „Man ist, was man träumt.“ Platon.
Bergmann: Generelle Frage: Stehen literarische Fiktionen (ungefähr) auf der Ebene des Traums?
Elias: Es gibt Tagträume, Klarträume, Wunschträume, so eine Art Fantasie in schläfriger Form. Aufgeweckt wird Text daraus. Keine Ahnung, ob ich richtig liege.
Bergmann: Meine Frage war: Ob sich geschriebene Fiktionen so ähnlich verwirklichen wie Träume? Es geht wieder einmal um das Verhältnis Autor / Text.
Elias: ... Selbstredend zählte die „Traumdeutung“ zu Freuds wichtigsten Werken, wenn nicht dem wichtigsten überhaupt. Und er selbst meint, dass sie die Via regia zum Unterbewußten sei. Er geht noch weiter und erklärt, sie sei „...die sicherste Grundlage der Psychoanalyse.“ Manche Indianerstämme halten Träume für das wahre Leben und das Sichtbare nur für Trug. Vielleicht hat der Eros der Sprache seinen Ursprung im Traum. Das Spiel des Geschlechtlichen, in das sich alles und jedes sublimieren lässt, ist auch ein Sehen, das sich im Angesehenwerden spiegelt. Es gibt ja mittlerweile eine lebhafte Klartraumforschung in der Psychologie bis hin zum dem Fakt, dass man Träumen „lernen“ kann, ergo kann man auch lernen die literarische Fiktion gezielt aus Trauminhalten zu speisen. Vielleicht gibt es ein literarisches Träumen...
Bergmann: ... Parallelisierung Traum // schreibendes ErLösen der eigenen Irrationalität. Mit meiner Frage war gemeint, ob der Schreibende im Schreibakt Fragmente aus dem Unterbewusstsein hebt, du nennst es literarisches Träumen. In der Tat spüre ich, dass es (Es) mich manchmal zum Schreiben bringt, oder dass es (Es) sich (ab)schreibt, wenn ich schreibe. Und genau das lässt sich auch forcieren wie das Träumen. Wenn ich Träume aufschreibe, wenn ich sie erwarte, dann träume ich mehr. Wenn ich schreibe, träume ich mitten im Wachsein, so mein Gefühl. Allerdings sind diese Schreibwachträume nicht so bildreich, nicht so stark wie die Schlafträume - und doch bin ich in der Lage, den Keim des Schreibwachträumens im Schreibakt wachsen zu lassen, und ich erreiche dann manchmal Traumqualität. Es schreibt dann in mir von ganz allein, so geht das über einige Sätze, und der Rest ist dann die Ergänzung, Prolongation oder Extrapolation des so Angeträumten... In so einem Schreibakt schaue ich mir sozusagen beim Träumen zu, ohne zu wissen, dass ich träume. In dem Moment, wo mir bewusst wird, was ich wach traumschreibe, verliere ich die notwendige Unbefangenheit und bin dann in der Bearbeitung und ÜberFormung dessen, was sich mir fast wie von selbst schrieb.
Es geht nicht immer, aber es geht und ich spüre es im Wackelkontakt der Bewusstseinswechsel. Auch diese Bewegung erscheint mir dialektisch.
Elias: Das trifft mein Gefühl beim Lesen Deiner Texte ziemlich genau. Die teils seidenweichen Sequenzen, dieses Rausrutschen aus der Vernunft in Traumähnliches und natürlich die durch die Ratio bei vielen tabuisierten und gesperrten Themen, die sich bei Dir scheinbar mühelos hochspülen, sprechen schon für zumindest starke Perforierungen der Grenzflächen, ohne dass man dem pathologische Qualitäten zuschreiben muss, denn eine strukturelles Ganzes bleibt bei Dir immer gewahrt. Elias Bergmann: Die Hirnforschung weiß noch nicht viel, was wir für diese Diskussion verwenden könnten. Ich vermute allerdings, dass das Schöpferische nicht aus dem Nichts kommt, sondern im Körper (im Hirn) angelegt ist und evozierbar ist. Im Tun selbst mag es dann oft so aussehen, als ob das Kreative dann erst entsteht, also vorher nichts war. Aber dagegen halte ich, dass dieses Tun, also die Disziplin oder Selbstdisziplin in der Formung des Materials, selber zu einem Teil Schöpferisches enthält, sodass vielleicht der gesamte Prozess der Kunstentstehung, ob er nun dialogisch oder dialektisch genannt wird, ein kreativer Prozess ist. Die bewusste Formung ist dann kein Widerspruch, sondern Bestandteil des Kreativen. Weiterhin gilt aber, dass Assoziationen, Träume, Ideen, Gefühle, Vorstellungen, Ahnungen usw. zu einem (möglichst kosmischen) Werk gestaltet werden sollten, jedenfalls solange wir Kunst als unbewusst und bewusst gestaltete Arbeit begreifen. Ich denke, dass der, der ein wenig kreative Begabung hat, durch Vervollkommnung des Handwerklichen (also auch Vervollkommnung des Sprachlichen, also der Verfügbarkeit der sprachlichen Umsetzung von Eingebungen) mit der Zeit Kreativität steigern kann.
Ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet, kein Psychologe. Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung heraus schreiben, und ich gründe meine Auffassung auch auf Schilderungen einiger Kollegen. Ich sehe den Schreib-Prozess bei belletristischen Werken als ein dialektisches Wechselspiel von provozierten kreativen Eingebungen und ihrer Disziplinierung (bewusste Steuerung), das ich während des Schreibens, meist in mehreren Phasen, überschaue, bremse, aufhebe, steigere, und dass der Ablauf dieses Gesamtprozesses selber wieder, auf einer höheren Ebene, kreativen und bewussten Aktionen unterliegt. Ich denke, dass in der Regel die Bewusstmachung und Steuerung (das was ich Disziplin nenne, Beherrschung des Schreibprozesses) für die Entstehung eines Kunstwerks notwendig ist.
Oft kann das dialektische Wechselspiel von schöpferischer Idee und Disziplinierung einem Schreibprozess vorausgehen, in dem diese Dialektik verschwindet oder zu verschwinden scheint. Ich denke an Bilder, die Picasso oder andere Künstler malten, denen viele Skizzen vorausgingen – so dass sich sagen lässt: Ein vermeintlich schnell hingemaltes Bild oder ein runtergeschriebener Text ist das Ergebnis desselben Prozesses, nur ist er hier anders strukturiert. Man könnte dann das so entstandene Werk eine Variation oder Kopie der Summe dieser Vorstudien nennen. Die meisten Texte müssen erarbeitet werden. Der Maler Max Liebermann sagte, als man sein Genie lobte: 1 Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration.
16.
Massendiskurs
Es ist nicht jedem gegeben, sein Innerstes an die Oberfläche aufsteigen zu lassen, ohne Scheu und ohne Furcht vor dem Zerrissenwerden oder der Antwort: Was für ein schwacher Text! Aber es geht gar nicht anders. Ich glaube, es ist möglich, sich eine dickere Haut wachsen zu lassen und zugleich die Kanäle zu weiten für das Aufsteigen der inneren Ideen und (in Worte gefassten) Gefühle, Sehnsüchte, Ängste.
Wir alle sind Konglomerate der unterschiedlichsten Gefühle: Verletzungen, Wunden, Niederlagen, narzisstische Kränkungen, Mühen, Sorgen, Ängste, Schrecken, Leere, Druck und Furcht vor Versagen, Schuldgefühle, die Stimme des Gewissens, traumatische Erlebnisse... und Freuden, Eigenliebe, narzisstische Regungen, Begierden, Suchtgefühle... Gedanken, Erlebnisse, Lehren und Erkenntnisse, die eigene Geschichte, die curriculare Last, Pflichten, Rollenkonflikte – und noch einiges mehr: Das alles ist in uns und verrät sich im Schreiben, auch wenn es sich im Lyrischen oder Epischen oder Dramatischen Ich verbirgt.
Die formale Bewältigung aller dieser Elemente unseres Lebens im Schreiben ist ein höchst komplexer Akt der permanenten Selbst- und Fremdüberwindung. Es ist klar, dass das anstrengt und Schamängste hervorruft. Selbst ein extrovertierter Künstler wird konfrontiert mit dem Urteil, das ihn abweist oder einsam werden lässt. Anerkennung ist brüchig, temporär und treibt in neue Zweifel: Gefalle ich, weil ich gefällig bin, weil ich in der Belanglosigkeit des Geschriebenen nicht mehr anstoße?
„Der Intellektuelle“ – unter diesem Titel schrieb Jürgen Habermas in der Zeitschrift „Cicero“ (Nr. 4/2006) einen Essay über die Problematik des Intellektuellen. Darin geht es um die Tatsache, dass intellektuelles Wirken heute, provoziert durch die Massenmedien Internet und Fernsehen, im Spannungsfeld zwischen Egalitarismus und elitärem Anspruch steht. Der Intellektuelle oder Künstler steht zwischen Selbstdarstellung und Diskurs, und zwar in einer immer mehr entformalisierten Öffentlichkeit.
Auch der Künstler ist in dieses Spanungsfeld gestellt – er setzt sich und sein Werk der Massenreaktion aus. Anders als früher reagieren heute nicht nur einzelne, sondern viele. Der Intellektuelle und der Künstler haben es schwerer als früher mit ihrer Autorität – ihr Urteil ist schon relativiert, ehe es ausgesprochen wird (früher war es oft genau umgekehrt, was auch nicht gut war).
Was aber unverändert bleibt, so Habermas, ist der Mut des Intellektuellen zur Polarisierung, unbequeme und wehtuende Dinge zu sagen, Werke zu erschaffen, die zunächst entfremden, um dann zu neuen Erkenntnissen zu treiben. Der Künstler ist in dieser Position immer einsam, es geht nicht anders, er muss vermessen sein, wenn er das Sein, partiell, vermisst, er kann nicht anders, er muss. Er muss die gegen ihn gerichteten Vorwürfe aushalten, den Hass der Masse, er ist zur sterilen Aufgeregtheit, die sein Werk begründet und wirken lässt, verpflichtet – ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten der Rezipienten. Das Werk des Künstlers, wenn es wirklich in die Gesellschaft hinein lebt, entwirft mit avantgardistischem Spürsinn Alternativen zum bisher gelebten Sein - es ist fremd und utopisch, weil es Heimat sucht.
Das Wesen des Kunstwerks ist nicht primär der Genuss, die Befriedigung hedonistischer Bedürfnisse, sondern es provoziert den Prozess schmerzlicher Arbeit, der im besten Fall in ein schmerzlich-orgasmisches Erkenntnisglück mündet, das selbst wieder ein Werk darstellt und damit die Voraussetzung für eine neue Kunst.
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Words Words Words
Hypochondrische Aphorismen
1 J’écris, donc je suis.
2 Vielleicht ist ja Schreiben so etwas wie das Gebet der Finger.
3 Nachdenken ist bei genauer Betrachtung die Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln.
4 Schreiben ist das Überlaufen suizidaler Sehnsucht; wie wenn ich mir sagte: Ich ziehe mein Hirn aus (ich werfe meine Finger weg), um leichter zu erzählen.
5 Schreiben heißt, das Nichts zu einer Insel zu machen.
6 Der Schreibende ist immer Jäger und Gejagter zugleich, und so sehr er sich auch bemüht, schreibt er hoffnungslos hinter sich her wie einer, der seinen Schatten überspringen will.
7 Schreiben ist eigentlich iteratives Fliegenwollen: In dem Moment nämlich, wo die Wörter kaum sichtbar gänzlich abheben.
8 Immer bin ich Leser und Schreiber meiner selbst: Wir gehen zusammen trotz unserer Absprache unweigerlich in die Irre, wo wir uns schweigend verstehen. Was aber geschieht, wenn ich die Textart ändere?
9 Les auteurs sont condamnés à êtres libres - wir sind dazu verdammt uns freizuschreiben.
10 Veni vidi scripsi.
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Schreibe barbarisch!
Sprechen oder Schreiben ist ein Bemühen um größeres Welt-Verständnis. Wer beschreiben kann, begreift, und umgekehrt. Literarisches, dichterisches Beschreiben ist, im Unterschied zum wissenschaftlichen, der Subjektivität geöffnet, ja verpflichtet, und im Bewusstsein gelassener, anders kontrollierter Subjektivität muss dann das Bezeichnete im Bezeichnenden eine größere Deutungssphäre gewinnen. Das ist das, was reizt - und das Spielen mit dem Sprach- und Welt-Material! In diesem Spiel, dem kontrollierten Experiment in den Naturwissenschaften vergleichbar, ergeben sich Erkenntnisgewinne, neue Gefühle werden erzeugt, nicht immer klar zuzuordnende Spielergebnisse, die befriedigen und zugleich wieder reizen.
Je jünger wir sind, wenn wir zu solcher Sprach- und Lebenserweiterung aufbrechen, umso größer ist der Fortschritt. Wenigen gelingt auch im höheren Alter radikale Progression, allerdings weiß keiner, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn einer schon von Anfang literarisch aufs Ganze gegangen wäre. Fontane schrieb seine großen Romane erst spät - aber er schrieb sehr viel schon viele Jahre vorher. Wenn Fontane von Anfang an aufs Ganze gegangen wäre - hätte er dann den bedeutenderen „Werther“ geschrieben? Schwer zu sagen.
Sinnvoll ist es also, sich vor allem an sich selbst zu messen.
Dem älteren Autor steht die größere Welterfahrung im Wege, sie verführt zu Formen, die der junge Autor nicht zwangsläufig wählt. Denn der ist freier im Umgang mit der Realität. Ihm steht die Form nicht im Wege. Am besten ist es, der junge Autor geht mit der Form barbarisch um, damit die Wirklichkeit neu wirkt. Am besten geht der ältere Autor mit dem Inhalt barbarisch um, wider besseres Wissen, damit er neue Formen findet. Dann ist er jung.
19.
Die Balance der Literatur
Ja. Ja und nein. Das Wesentliche ... das für dich Wesentliche suchen und finden. Von mir aus - aber nur, wenn sich so ein Ich nicht zu wichtig nimmt oder nicht zu weise wird wie Hesse etwa. Deine Ungeduld, dein Überdruss, deine Unzufriedenheit - in der Literatur - ist dann gut, wenn du im gebändigten Zorn etwas aus dir herausschreibst oder gegen was anschreibst, aber übertreib’s nicht mit (deinen) zu hohen Erwartungen! Und um den Markt kommen wir nicht herum, genauso wenig wie die Bilder, der Markt ist Teil der Filteranlage für das, was ausgestreut wird, für das, was bleibt - leider und gottseidank, es ist besser als die große Demokratie des Allesgeltenlassens, das ins Nichts und Alles führt. Lieber falsche Entscheidungen als gar keine. Das Subjektive genügt sich nicht - das Schreiben muss hinaus in die Öffentlichkeit, es muss sich unter den Kannibalen und den Gourmets durchschlagen. Die Literatur ist gut, die geliebt werden kann von den Armen und Reichen im Geist, die die komplizierte ästhetische Balance aushält, wo die Balance von Form und Inhalt, Idee und Realität, Künstlichkeit und Authentizität, Intention und Wirkung stimmt – wenigstens für eine kleine Zeit in einer größeren Leserschaft. Du gehst an die Öffentlichkeit... schreibst dir einen Teil deines Gefühls vom Leib wie das Gegenteil vom Mehrwert.
20.
Schreib wie du willst – aber
finde deine Art der Selbstdisziplin. Ohne sie ist noch nie ein gutes Kunstwerk geschrieben worden. Ich meine keine Disziplin der Regeln und der gesellschaftlichen Normen. Ich meine die handwerkliche und künstlerische Arbeit, die erforderlich ist, um das Talent und die Idee wirklich umzusetzen.
Der Autor eines Dramas kann den Text nicht einfach rausrotzen, Schauspieler können ohne die verdammten Wiederholungen und Umänderungen in den Proben kein Stück gut auf der Bühne realisieren. Auch ein Lyriker muss schreiben schreiben schreiben, verwerfen, streichen, korrigieren, umformulieren, sich zurückhalten und langsam reifen.
Innere Monologe im Klein-Format in die Tasten hauen, das können viele! Aber das ist für mich noch nicht die Literatur, die ich und viele anspruchsvolle Leser und Autoren lesen wollen, und es ist auch nicht das, was manche leisten könnten.
Es ist eine schlechte Mode, Leistung zu verteufeln. Ohne Leistung können wir kein Kind gut erziehen, keinen Patienten gut behandeln, noch nicht einmal in der Liebe uns bewähren.
Es ist das alte Lied: Hinter der pauschalen Kritik an der (Selbst-)Disziplin kann man wunderbar leicht seine Faulheit verstecken, und als Schriftsteller ein Leben lang als Talent herumlaufen – eine Variante des Hochstaplertums.
Jeder Autor ist und bleibt frei, wenn er das will. Der Autor soll sich nicht dem Markt beugen, sondern seine Freiheit ausleben, die ihn zur Qualität verpflichtet: zur Stimmigkeit, Echtheit, zu Streben nach Wahrheit, auch zu handwerklich guter Arbeit. Sich selbst muss er alles abverlangen. Es geht ihm gerade nicht um Normerfüllung, sondern um das Neue oder Eigene, das literarisch Weiterentwickelte.
Die Motivation kommt nicht so leicht von außen oder innen. Auch die Motivation will oft erarbeitet sein.
Mich stört der schnelle, tägliche Kurztext, ein Ich-Geschwätz mit hochtrabenden Titeln, ein Text aus der Ego-Werbeagentur verlogener Poesie, Scheindichtung, Geschwafel in ausgeleierten Hülsen vermeintlicher Eleganz... Die Dummen applaudieren da sofort, wenn die schönen Worte fallen, wie sie auf Marmeladen-Etiketten stehen. Ich empfinde das kunstlose Abreagieren von Gefühlchen als Sprachverletzung. Der Verzicht auf literarische Ansprüche führt geradewegs in die Beliebigkeit. Es darf nicht egal sein, was ich schreibe. Disziplin ist keine treibende, sondern das Treiben ordnende Kraft.
Oft spüre ich, wie ich spiele, wenn ich schreibe, das Schreiben als reine Umsetzung meiner Ideen macht mir Vergnügen. Wenn ich etwas aus mir herauslasse, geschieht es fast von allein, mal mehr, mal weniger, da ist eine ernstere Seite, etwa die Gewalt, die in vielen meiner Texte zum Ausdruck kommt, vermischt hier und da mit dem mehr oder weniger bewussten Willen etwas mitzuteilen. (Selbst-)Disziplin ist eine Art Metadenken, dass ich das zunächst Wilde forme – oder bewusst auch nicht! – das geht von der Revision eines Textes über das Neuschreiben bis hin zur völligen Zurücknahme eines Textes.
Im übrigen: Es gibt auch wunderbares Geschwätz. Etwa das Parlando in Mozarts Opern und Klavierkonzerten, oder in Schuberts Klaviermusik über der Tiefe. Dann Bachs Strenge, oft mit melodischer Süße vereint, und rhythmisch rasant. Schostakowitschs dunkle Dramatik. Das gehört alles zusammen. Auch in der Literatur. Thomas Bernhard ist einer der Meister, die Strenge, Parlando und Tiefe großartig amalgamieren.
Als dialektischer Denker, der ich nun mal bin, sage ich: Meine Auffassung von Disziplin verhindert kein Genie, keine geniale Tat – sondern ermöglicht sie geradezu. Denn erst ein Meta-Denken erkennt und realisiert die primären Impulse und Expressionen, Intuitionen und Spontaneitäten. Wer die Regeln kennt, kann sie auch besonders gut überschreiten, ohne in dummen Wiederholungen zu ersticken. Disziplin ist kein Tranquilizer, sondern fördert Zündung und Gestaltung der Phantasie.
Ich bin angewiesen auf Spontaneität, Ideen, Einfälle, irrationalen Eingebungen und Gestaltungen – Angst vor Disziplin habe ich beim Schreiben noch nie gehabt. Und das ist ja auch klar: Meine Selbstdisziplinierung ist zunächst null oder ganz gering (beim Denken, Entwerfen) und kommt immer erst danach und erlöst mich sogar von dieser irrationalen Springflut. – Angst vor der Disziplin haben vielleicht die, denen der Schacht von innen nach außen fehlt – oder jene, die Disziplin mit einer politischen Befürchtung konnotieren.
Die Disziplin, die mir Elternhaus und Schule abverlangte, gefiel mir nicht, ich litt oft sehr darunter. Aber mit der Disziplin, die ich mir freiwillig für mein Werk abverlangen muss, ist es etwas ganz anderes. Demokrit nennt die guten Folgen der Disziplin, den Segen der Ordnung und der Effizienz. Das gilt auch für größere literarische Arbeiten.
Mir hat jedenfalls weder das (oft zu strenge) Elternhaus noch die (oft zu kleinkarierte) Schule die Erkenntnis des Richtigen, Angemessenen, Nützlichen und Notwendigen nehmen können
Ich habe Disziplin, die mir von Lehrern/Lehrenden abverlangt wurde, manchmal durchaus lieben können, etwa als ich Latein fürs Abitur lernte (und den Lateinlehrer mit meinen Freunden zusammen selber bezahlen musste), und in den abendlichen Abiturkursen verliebte ich mich sogar in die einst gehasste Mathematik.
Was einem wehtut, muss immer in größeren Zusammenhängen gesehen werden – der Schmerz des freien Lernens, der freien Disziplin lässt sich verwandeln in einen süßen Schmerz, der sich sogar ein weiteres Mal verwandeln kann in Lust. Es ist wie in der Liebe, und so sind mir gerade die schmerzenden Bücher und Gedanken die schönsten und lustvollsten. Der Schmerz der disziplinierten Arbeit ist gleichsam das Vorspiel der Erkenntnis.
Fazit: Erst auf dem Fundament hart erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten kann sich ein Genie entfalten und seine Ideen realisieren und gestalten, was ihm aufgetragen wird aus tiefstem Inneren, willentlich und bewusst oder gar von außen. Ohne Disziplin vor und während der Entstehung des Werks gelingt nicht viel.
Alles nur Binsenweisheiten – Tautologien, also wahr.
21.
Blind
Wir sehen: Wir sind zu vielem fähig, riskieren das größte Unheil oder tun Gutes. Der Natur ist das egal. Sie weiß das nicht. Und wir wissen es letztlich auch nicht, was das soll, was wir Ethik nennen. Die menschliche Existenz ist Bestandteil der Natur - und die hat (vermutlich) kein Bewusstsein, weiß also nicht einmal von sich selbst. So auch unser Denken. Und die Naturgesetze ergaben sich als (vielleicht einzige) Notwendigkeit und sind im Raum biegbar, also an jedem Punkt ein wenig anders. Entsteht die Natur aus dem Nichts, bzw. ist sie nur ein anderer Aspekt des Nichts, oder ist das Nichts nur ein Aspekt des Etwas? Ist die Existenz der Natur überhaupt real? Wir können es nicht wissen, und wahrscheinlich sind unsere Gedanken über das, was wir nicht wissen können, noch nicht einmal eine Art Kurzschluss im Molekulargefüge des Seins, sondern vollkommen unbedeutende Tautologien, also das Nichts als Formulierung. Die Welt hat keine Augen, wozu auch, sie sähe nur sich selbst oder das Nichts, was dasselbe ist.
Unserem Leben kommen wir nur als Dichter bei. Indem wir das, was wir für real halten, zur Fiktion machen, als wären wir Schöpfer, bilden wir uns Verständnis und Erkenntnis ein. Und die Naturwissenschaften machen nichts anderes, nur dass dort die zusätzliche Zahlensprache eine größere Bedeutung hat und die Hoffnung auf Erkenntnis von grandioser Naivität ist und der Glaube an die beobachteten Tautologien religiöse Kraft erlangt.
Eine der schönsten Opern, die je geschrieben wurden: WERTHER von Jules Massenet. Er begreift mit Tönen die Werthersche Dialektik von Größenwahn und Selbstvernichtung wie Goethe selbst vielleicht nicht einmal. Im Werk, im Schreiben, im Komponieren, im Malen liegen Funken flüchtigen Erkennens, wie bei Hans Castorp im Schnee-Kapitel: Aber am nächsten Morgen ist der Funken schon wieder verwehte Asche.
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