KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Das spielende Hirn (aus Briefen HEL/UB 5)
242. Kolumne
HEL: ... schau mal, bei den dichtern ist das so: du kannst dichten oder schlurpsen, und ein dichter kann beides. Shelley zb schlurpst auf höchstem niveau, Heine, Brecht. Aber bei den nieschlurpsern gibt es mehrere sorten, die die es nicht tun, und die die es nicht können. Und nicht schlurpsen können heißt auch nicht richtig dichten können. So viel zum schlurpsfaktor.
UB: Dein Denkbericht zeigt dich in dem Stationendrama deines Lebens in einem mittleren Bild – und du weißt nicht, wie die nächsten Szenen aussehen. Nach der Theater- und Lebensauffassung Brechts gibt es Sprünge in der Entwicklung… aber inwieweit können wir selber Autoren oder Regisseure unseres Lebens sein? Ich weiß es auch nicht. Du ruhst dich aus, obwohl du neben deiner melancholischen Interimslethargie wahrscheinlich genau wie ich eine permanente innere Unruhe hast, die dich dann doch wieder antreibt... aber du wirst weiter schreiben, weil du nicht anders kannst, du musst briefeln und stropheln, da hilft nix, auch wenn dir der Boden unter den schreibenden Füßen wie weggezogen erscheint. Im Dauerspagat deines Lebens rutschst du immer wieder – wie ich – mit dem Arsch zu Boden, und schreibst mit dem Schwanz, und mit Händen und Füßen weiter, angesichts einer untergehenden Welt, in der Hölderlins Sehnsucht nach Ruhm, nach Weiterleben im Gedicht, längst verloren gegangen ist. Ich lese meine süße Freundin, entziffere sie von unten nach oben tastend und versteh nicht jedes Kapitel, in das ich hineinblättere, es kommt ja mehr darauf an, die eigene Interpretation zu begreifen. Das Gefühl, da kommt nichts mehr, rührt sich in uns immer wieder als Gegenwunsch zur Kreation, zum Schöpferwillen, weil wir zum Augenblicke sagen wollen, verweile doch –
Die Frage Was habe ich geleistet? kommt immer zu früh oder zu spät. Die höheren Zwecke sehe ich nicht. Ich habe einen Sohn – höherer Zweck? Ich liebe ihn wie ein Vater seinen Sohn liebt. Meine schulische Arbeit – Lebenserhaltungsleben… Sisyphosarbeit ohne Ende. Was bleibt? Der ein oder andere Text – verloren verschollen schon im Jetzt, das bald vergessene Vergangenheit sein wird. Du wirst das Leben weiter lieben, weil du nicht anders kannst, wirst dich wieder verlieben, lieben, leben, schreiben, essen und trinken - du fühlst dich als perpetuum mobile – bis zum Tod… Wer jetzt kein Ziel hat, wird sich keins mehr setzen, denkst du. Dein Ziel ist prozesshaft, das Schreiben als Bewegung. Die wenigsten wissen, wie sie das Bisschen Zeit, das sie haben, umbringen. Machs gut, Bruder, ververs dich wieder, worthäkle weiter, sonettiere und verliedere so gut du kannst!
HEL: Du schreibst, Du liest in Deiner Freundin: da seh ich land, nämlich im Erweiterten Schreibbegriff... Es gibt die theorie, wir konnten lesen eh wir schreiben konnten: wir lesen wahrscheinlich mehr als wir denken ... Das heißt, man MACHT etwas auch zur schrift, indem man es wie schrift behandelt, das heißt liest, et vice versa. DEN rückbezug auszutrudeln – hoc est.
UB: Habe ich einen neuen Ton? Jedenfalls analysierst du mich gut.
Ich bin nun mal ein Liebhaber des Lebens und der Sprache, bin in der Sprache und kaum außer ihr, bewege mich spielend in den Chomsky’schen Kategorien mit fließenden Übergängen, bin Spieler, Lebensspieler, Sprach- und Sprechspieler… flatterhaft wie ein Kind erhebe ich mich manchmal wie ein Schmetterling in die blaue Luft, ein Phönix, der aus seiner Asche aufsteigt wie aus einem Ernteboden – nicht innewerdend des schwarzen Vogels, der mich bald frisst.
Es ist dieser (dieser) Moment des Schreibens, der mir gefällt wie das Paradies, das immer schon in mir war. Ich las in Locarno am Seeufer die Titel der Arp-Skulpturen und schrieb sie mir auf: Larme de galaxie, Torse de géant, Fruit d’une pierre … wie sehr sich Wort und Materie verstärken! – in unserer Vorstellung verwandelt sich alles.
Wie und was in meinem Gehirn spielt, wenn ich das Spiel zulasse, das interessiert mich als Schreibender. Ich spüre, wie ich einer universellen Grammatik nahe bin, wie ich im Schreiben Kontexte betrete, verlasse, mische, wie sich allgemeinere Symbole mir aufdrängen – bis hin zu unbewussten Ahnungen. Manchmal schrieb ich Dinge, die ich erst rückblickend verstehe: Als ich 1996 meine Schlangegeschichten schrieb, ließ ich Schlange, meine Geliebte, meine Frau, schon in der Mitte der vierzehn Geschichten sterben. Mir war meine Frau eine historische Erscheinung, als sie noch gesund war. Ich war ihr immer schon zugleich so fern wie nah. Ich liebte sie, aber ich stand oft, im Gegensatz zum Schreiben, beobachtend neben mir, neben uns. Mir gefällt, wie Chomsky von den mysteries spricht. Ich lebe fraglos in diesem offenen Kosmos, ein Ergebnis unendlicher Zufälle ohne Gott – es sei denn, ich selbst bin Gott. Ich bin der Gott meiner Welt, so gut ich kann, ein Gott neben Göttern, die alle scheitern, auch an sich selbst.
HEL: Chomsky hat was für sich, weil er reziprok denkt. Das worum es geht liegt irgendwo zwischen zufall und schicksal, eine welt aus zufällen wär mir zu zufällig.
Sagen wir für schicksal entelechie, denn was einem geschieht, geschieht ihm auf seine art, und seine ist zweibezüglich.
Aber das schöne ist, es reden immer beide, du und das gegenüber. Ist das banal? es wird zu selten bewußt.
Meine katze redet natürlich mit anderen teilen als ich, aber ich muß LESEN, nicht nur horchen & gucken, sonst versteh ich noch weniger.
Wer aber lesen kann und nicht sehn, der hat, wie der yankee sagt, ein problem; nichts wo ein schuß liebe nicht hülfe.
Aber auch liebe kann anscheinend nicht verhindern was Du beschreibst: sie lebend zu mumifizieren.
Und wenn das stimmt mit der reziprozität, machen wir uns damit zur spiegelmumie, und auch so was in der art steht in Deinen geschichten.
Tja, und so laufen wir dann. Vielleicht ist das mit karma gemeint. Aber ’s gibt auch Merse- / burger zauberverse (Rühmkorff)
Es ist ja das schlechte gewissen daß wir spielen dürfen: verlängerte jugend, gesundes alter, verminderte arbeit, elektronisches weltgespräch .. Genügt es, das zu verteidigen?
Müssen wir in die wildnis? hat sich die wildnis gelichtet? stimmt unser wildnisbegriff nicht?
Sind wir in grundlegend neuer zone, in fundamental anderem prozeß? oder verfeinert sich nur was seit anbeginn geschieht? oder ist es beides?
Aufgabe ist nicht mehr, stattdessen: geh bewußt so wie du bewußt atmest, achte auf den weg und stolper nicht über die füße.
Oder vielmehr: da ist kein weg so wie wir ihn kennen. Tao heißt tiefer, manchmal das gute gefühl, es verhandelt sich in der mitte, es kommt sich auf halbem weg entgegen und teilt sich die kräfte.
[...]
[veröffentlicht in DIE BRÜCKE 156,2011. Seite 135-142]
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
Mir war der dialogische Text nicht sonderlich wichtig. Warum sollte ich das der Mitwelt kundtun? Einzig aus einem Grund: Andere meinen zwanghaft rumstänkern zu müssen. Lo
(23.06.14)