KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Schammanie
401. Kolumne
Fremdschämen: das Wort ist Mode. Unnötig, unbeholfen dazu. Ein Wort, das oft sogar derart peinlich (moralistisch!) gebraucht wird, dass Doppelscham in mir aufkommt und zwar rationale Doppelscham wie auch emotionale Doppelscham, oder Schachtelscham, geschachtelte Scham, Stufenscham, das alles in verschiedenen Schamstufen, von der empathischen Doppelscham bis hin zur sympathischen und sympathisierenden Doppelstufenscham. Es gibt schließlich auch noch die fokussierende Doppelstufenscham und, um wissenschaftliche Klarheit noch stärker zugunsten der sich von Tag zu Tag ausbreitenden Moralisierung allen Lebens zu fokussieren, die Schamschamanen und, nicht zuletzt, die Schammanie, das ist die höchste Stufe der deutschen Moraltherapeutik. Im übrigen könnte man noch weitere Verbalpirouetten drehen mit der Verfremdungsscham oder gar der Schamverfremdung. Man sieht, mit Worten lässt sich jedes Problem lösen.
Schauen wir nach vorn. Bereichern wir unsere Sprache weiterhin. Aus der Diskussion nehme ich einiges mit. Mitschämen etwa, oder Emoscham. Die Gefühle des sich für oder wegen (wieder zwei Varianten) Schämenden sind enorm wichtig. Also weiter: Anlassscham. Jemanden ausschämen oder niederschämen, das klang hier auch an. Der Teufel steckt im Detail. Der Teufel soll sich schämen. Ich verschäme ihn jedenfalls, so gut ich kann. Zur Verarbeitung der Scham gehört dann auch die Phase der Entschämung. Vielleicht hat es sich dann bald auch hier in dieser Diskussion über Fremd- und Eigenscham ausgeschämt.
Ein großer Teil der Schamgefühle für andere oder wegen anderer geht auf das Konto eines seit zwei Jahrzehnten gesteigerten Anpassungsdrangs oder -zwangs.
Hinzu kommt noch die Betonung der Wichtigkeit eigener Gefühle bis hin zu einem fast schon brachialen Egoismus, der sich als Individualität ausgibt und in Wahrheit biederste Anpassung ist. Im Zentrum solcher Haltungen stehen Wörter wie „peinlich“, „nogo“ ...
Moden, Befindlichkeitsstörungen, Selbstdarstellung, Umgang mit Gefühlen ... das alles befindet sich im steten Wandel. Dazu gehört auch die Tendenz, das alltägliche und private Leben wissenschaftsbegrifflich zu beschreiben. Nicht selten ist es wieder mal der Versuch, Herrschaft durch Sprache auszuüben. Am vulgären Rand der Gesellschaft kommt solches Gebaren als unfreiwillige Selbstkarikatur daher.
Immerhin: Das ist schon besser als das Gehabe autoritärer Personen in der Zeit meiner Jugend, wo oft zu erleben war, wie jüngere und/oder weniger 'gebildete' Menschen niederzitiert wurden mit Goethe und Schiller, aber auch Marx und Marcuse, Adorno und Abendroth.
Verfallsgeschichte? - Von Verfall zu Verfall. Jeder Verfall ist anders, das macht es erträglicher und unerträglicher zugleich. Böse Dialektik. Ohne Synthese à la Hegel. Das Ende der Menschheit steht fest, in Millionen Jahren oder in diesem Jahrtausend. Der Natur ist das egal. Den meisten Menschen auch. Der Progress tanzt - in die Katastrophe. Am Ende ist keiner mehr da, der sich schämen könnte. Das ist dann die abstrakte Scham. Die können wir jetzt schon mal antizipieren. Als Resignationsscham. Oder als Pseudoscham. Letztere fehlte noch. Jetzt sind wir fast in der Debatte über die richtige Trauer- und Gedenkkultur angekommen. - Man sieht: Jedes hängt mit allem zusammen, und alles mit jedem. Und alles mit allem.
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
fremdschämen ist älter als 5 jahre, in manchen wendungen wie "man könnte/ sollte sich fremdschämen" eine vereinfachung. weil es für meine ohren weniger moralisierend klingt als "der/ die sollte sich was schämen", wird dieses modewort zukunft haben. eigentlich ist das thema ausgelutscht.
Heute gibt es eine dritte Version: Es handelt sich um einen unablässigen Fremdschämer.
das ist ja eine deiner allerschönsten Pointen! Und mutig dazu
Lieber Gerd,
die Fremdschamanirierten sind wohl eine Bereicherung in den Wortfeldern der Peinlichkeits-Hausse in Zeiten zunehmenden Moralisdmus.