KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Qingdao – eine neue Welt (9/11)
460. Kolumne
Baos erste Reise nach Peking
Bao, der Unerhörte, machte sich auf den weiten Weg von Qingdao nach Peking. Nachts hatte er oft von chinesischen Puppen mit so hellen Stimmen geträumt, dass er dachte, es scheine hinter dieser höchsten Künstlichkeit die wahre Natur des Menschen reiner auf als in dem blanken Realismus der abendländischen Oper. Die abendländische Oper will das Leben erlösen und strebt deswegen zum Kunsthimmel empor, dachte Bao, als der Zug in Peking einfuhr, die Pekingoper steigt vom Himmel herab und erlöst die Kunst vom Leben. Und so kam es. In Peking ging Bao ein einziges Mal in die Oper und erlebte seinen Traum, er wusste, sein altes Leben war unwiderruflich vorbei.
Auf dem Rückweg lobte er die Pekingoper in den höchsten Tönen. Dann schlief er ein und träumte, wie er die Oper noch einmal hörte, und alle, die ihn im Zug singen sahen, freuten sich mit ihm über das Leben, wie schön es sein kann wegen der Kunst. In seinem Traum fuhr der Zug durch das alte Kaiserreich. Und die Zöllner der öffentlichen Moral teilten nicht Baos Liebe zur neuen sozialistischen Oper. Sie schnitten Bao, der sich die Seele aus dem Leib sang, die Kehle ab und ließen ihn schweigend weiterreisen.
Als aber der Zug wieder in Qingdao hielt, da geschah das Wunder, das bei genauerer Betrachtung gar keins war. Bao stand auf, holte tief Luft, und der starke helle Ton schnitt aus allen Fenstern die Scheiben, wuchs in die Steine des alten Bahnhofs von Qingdao, und von Qingdao nach Peking und von Peking wieder zurück nach Qingdao – bis er die Oper noch einmal sich aus dem Leib gesungen hatte.
Peking ... Ich habe fünf freie Tage. Wir reisen in die Hauptstadt. Taitai war 1984 dort. Sie hat die Stadt kaum wiedererkannt, so viel hat sich verändert. Hutongs, die Höfe und Hinterhöfe, gibt es noch, aber für die Olympischen Spiele wurden die ärmsten Viertel ‚wegsaniert’. Massenhaft entstanden Hochhäuser und Wolkenkratzer. Hochmoderne U-Bahn-Linien und unterirdische Bahnhöfe wurden gebaut.
Jetzt, im Frühherbst, hält sich der Smog oft noch zurück, die Sonne bricht durch, zwischen den Wolken strahlt hellblauer Himmel.
Der Taxifahrer, der uns in einem VW-Passat nach Mu Tian Yu zur Großen Mauer bringt und wieder zurück nach Peking, verlangt für acht Stunden achthundert Yuan, nur wenig mehr als einhundert Euro. Auf der Fahrt nach Mu Tian Yu am Fuß der Berge, siebzig Kilometer nordöstlich von Peking, kommen wir durch weitflächige Dörfer und fahren auf Alleen zwischen Silberpappeln und chinesischen Birken und durch Maisfelder. Die Ernte einiger Felder liegt auf den breiten Dorf-Bürgersteigen. Ein schwer bepackter Esel überquert führerlos die Straße. Als die Straße in der Nähe der Berge ansteigt, sehen wir zwei Kamele im Wiesengrund.
Mao Zedong (毛泽东), Schnee
Land im Norden,
hundert Reisestunden eingeschlossen in Eis,
und tausend Meilen Schneewirbel.
Beiderseits der Großen Mauer
nur weiße Unendlichkeit.
Der ganze Gelbe Fluss
stockt.
Die Rücken der Berge tanzende Silberschlangen,
die Kuppen stürmende Elefanten wie aus Wachs,
mit den Wolken um die Wette laufend.
In der Sonne schimmert rot
das weiß gekleidete Land
im Zauberzauber.
Mein Land, so reich an Schönheit,
zwang ungezählte Helden, ihm zu huldigen.
Doch leider waren Qin Shihuang und Han Wudi
so ziemlich ungebildet,
und Tang Taizong und Song Taizu
in ihrer Seele frei von Poesie.
Dschingis Khan,
ein stolzer Sohn des Himmels,
konnte mit dem Bogen nur auf große Adler schießen.
Sie alle sind dahin – aus und vorbei ...
Wahrhaft freie Menschen
siehst du nur in unserer Zeit.
Mit diesem im Februar 1936 entstandenen Gedicht errang Mao die Hochachtung vor allem der akademisch gebildeten Chinesen. Mao schuf ein Gedicht, „in dem die ganze Geschichte seines Landes, alle seine Mythen und seine Landschaften inbegriffen sind, ein Gedicht, das an Intensität Hölderlins ‚Patmos’ vergleichbar ist, in dem die Geschichte und die Mythen Europas vom Feuer der Dichtung durchglüht und in einem kurzen Augenblick ewig zu leuchten scheinen. ... Mao hat darin erreicht, mit einer ganz geringen Zahl von Worten ein vollständiges Bild der chinesischen Szenerie zu geben, und das auf Grund einer nur ihm eigenen Methode. Ganz langsam fügt er Bild an Bild, um den lebendigen Eindruck, den er vermitteln will, zu erzielen, und er krönt ihn in der letzten Zeile. Diese Methode ist in der chinesischen Lyrik neu, und sie kennt wenig vergleichbare Gipfelpunkte.“ (R. Payne, Mao Tse-tung, Hamburg 1951, S. 304ff.) Die fünf genannten Herrscher-Namen stehen für eine Vergangenheit, die endlich überwunden werden muss.
Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag
(05.06.15)
Dieser starke Vergleich ist der Schlüssel für deine schöne gleichnishafte Erzählung über Baos erste Reise nach Peking.
Das Mao Gedicht ist verliert nichts in der/den Übersetzungen (habe eine deutsche, italienische und chinesische Ausgabe seiner Gedicht hier).
Das hier war mein Übersetzung im Rahmen einer Uni-Hausarbeit mit dem Thema "Qianlong und Mao - Versuch eines historischen Vergleiches
über ihre Lyrik":
„Schnee“
Das Nördliche Land:
Tausend Meilen eisige Starre,
zehntausend Meilen schneeverweht.
Beide Seiten der Großen Mauer,
es bleibt nur weiße Ödnis.
Von Quell zu Mündung, der Gelbe Fluss steht still.
Die Berge, wie tanzende Silberschlangen,
Ihre Kuppen, wie eilende Elefanten aus Wachs,
möchten dem Himmel gleich sein an Höhe.
Ein Sonnentag reicht dem Land,
in rot gewandtes Weiß,
entfacht zügellosen Zauber.
Das Land, so reich an Schönheit,
Hat zahllose Helden gesehen, zu ehren niederknien.
Ach! Qin Shi Huang und Han Wudi,
ihnen fehlte Talent;
Tang Taizong und Song Taizu,
karg, ihr poetischer Geist.
Eines Zeitalters stolzer Himmelssohn,
Dschingis Kahn,
konnte nur mit dem Bogen nach Adlern schießen.
Sie sind alle vergangen,
Um wahrlich bedeutende Menschen zu finden,
suche in unserer heutigen Zeit.
Eis und Schnee wirken zwar trist, sind aber traditionelle Sinnbilder für Pietät bzw. hohes Alter, was wichtige Elemente in der konfuzianischen Lehre sind. Gleichzeitig drückt es die Bewunderung für die Region aus. Dem Norden (sowie dem Wasser und dem Winter; alles weiblich nach dem Yin Yang-Prinzip) wird stets die Farbe Schwarz zugeordnet, womit eine Dichotomie mit dem beschriebenen Bild entsteht; etwas das sehr häufig in Maos Gedichten vorkommt. Der Strom, als Metapher für das Leben, fließt nicht mehr und kann als Anspielung auf die politische Situation im Jahre 1936 verstanden werden. Die Große Mauer steht für China selbst und zeigt auf, dass Elend und Zerstörung selbst jenseits der Grenzen keinen Halt machen.
Die Schönheit der Region wir in den nächsten Zeilen erneut umschrieben, wobei mit der Berg-Wasser-Thematik erneut der konfuzianische Gedanke aufgegriffen wird. Da Rot für den Sommer und den Süden steht, zeigt es die Beziehungszusammenhänge von Natur und Land auf. Außerdem ist Rot die Farbe der Kommunisten.
Die zweite Strophe beinhaltet mehrere Herrscher. Sie alle haben den Norden beherrscht und ihn verehrt. Allerdings spricht er ihnen jegliches Talent ab (nicht nur lyrisch), womit sie (allen voran Dschingis Kahn) dem Land geschadet haben. Des weiteren sind alle bereits tot worauf Mao schließt, dass man die wirklichen Helden nur in der jetzigen Zeit finden kann, womit er vermutlich auch sich selbst meint.
Das war im Groben meine Interpretation. Ich finde es sehr interessant, dass Mao trotz seiner strikten Ablehnung von klassischen Traditionen und Elementen in seinen Gedichten ständig auf diese zurückgreift.
LG
Lieben Dank, Melodia, für die Kommentierung mit eigener Übersetzung.
Lieber Graeculus, der Schluss des Gedichtes kann nur auf die Kommunisten, also auch Mao, bezogen werden. Was sonst?
Lieber Ekkehart, mein Satz ist ein Versuch mit dem Mittel der Zuspitzung. Ob's stimmt, weiß ich nicht sicher.