KLICKS UND CLIQUEN
Synthesen + Analysen in der Matrix
Eine Kolumne von Bergmann
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Einschlafgeschichten
503. Kolumne
Meine Mutter sprach von ihren Einschlafgeschichten, die sie sich seit ihrem achten Lebensjahr erzählt. Die gigantische Familien-Saga beginnt im Jahre 1933. Ihre Helden, Heinz und Helmut, waren da noch Kinder. Jetzt, dreiundachtzig Jahre später, sind sie vierzig Jahre alt. So bleibt noch viel Luft für weitere Geschichten – so fern ist beim Einschlafen der Tod! Sie schreibt nichts auf. Aber was sie davon verriet, gab einen Einblick in ihren Kosmos, der an Thornton Wilders Schauspiel Unsere kleine Stadt erinnert – nur viel größer und verschlungener! Den dritten Akt wird meine Mutter nie erzählen. Sie freut sich jedes Mal aufs Einschlafen. Sie überlegt, wenn sie zu Bett geht, ob sie Helmut oder Heinz noch einmal heiraten lassen will – Scheitern der Ehe, Tod oder Trennung ... Oder überspringt sie das einfach? An ereignisreichen Tagen schläft sie mit einer kurzen Szene ein, an anderen dehnt sie das Einschlafen aus, dann lässt sie Feste feiern, die nicht enden wollen. So nah ist sie dann der Formel Das Leben – ein Traum ...! Ich frage sie, ob sie in ihrer Heinz-und-Helmut-Saga selbst vorkommt. Nein, sagt sie, ich bleibe Erzähler, ich fühle mich nicht als Gott, ich glaube nicht an sowas. Helmut und Heinz wissen nichts von mir. Ich war nie neugierig, meinen Traumfiguren zu begegnen. - Aber du spiegelst doch in deiner Saga dein eigenes Leben, sage ich ... Na ja, sagt sie, ein bisschen schon, aber ich erfinde auch vieles, das ich nicht erlebte. - Deswegen kann sie nicht Gott spielen, denke ich. – Spiegelst du dein Leben? - Nein, sagt sie, wozu? - Du könntest dir ein anderes Leben erfinden, sage ich. - Unsinn, sagt sie, ich will mich nicht betrügen. - Vielleicht erfährst du etwas über dich. - Ich will Neues leben beim Einschlafen – und dann kommen die Träume. - Ich will über den Tod reden, aber ich traue mich nicht. - Sie ahnt es: Ich werde meinen Tod nicht erleben. - Vielleicht stirbt sie überhaupt nicht, wenn sie zu ihren Figuren geht, denke ich. Nicht mehr erzählen. Am Ende erzählt sich alles von ganz allein.
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