KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Sonntag, 31. Mai 2015, 23:51
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Qingdao – eine neue Welt (8/11)

459. Kolumne

Dr. Lei Haihua lädt ein zum Expertengespräch: den Bremer Professor Kepser, Dr. Klatt und mich. Die chinesische Germanistin braucht drei Expertengutachten zur Bewilligung ihres Forschungsvorhabens. Frau Lei stellt die These auf, „Antimodernität“ sei ein Grundzug der deutschen Kultur. Deutschland habe mit der Romantik Wege der Antimodernität angebahnt. Der Samen der Antimodernität sei gesät worden seit der französischen Revolution, jetzt zweifle man in der Literatur an Fortschrittsgedanken und Vernunft. Antimodernität sei zuerst in Deutschland in Erscheinung getreten, was nicht zufällig sei. Sie zeige sich im nationalen Charakter und in den historischen und kulturellen Faktoren ... Wir sind perplex. Der Begriff „Antimodernität“ erscheint uns problematisch – und das schiefe bis falsche Geschichtsbild. Die Romantik ist nicht nur Gegenbewegung zur Aufklärung, wenden wir ein, sondern auch modern, was die Kritik an gesellschaftlichen Normen und Beziehungen und die Entdeckung der Psychologie angeht ... Reaktionen auf die Französische Revolution, Schillers „Glocke“ etwa, sind nicht als Ausdruck von Antimodernität zu verstehen. Selbst konservative Romantiker (Eichendorff) oder Autoren des Biedermeier können nicht pauschal antimodern genannt werden. Sie machen zwar den beginnenden Verlust von Natur bewusst und wollen Religion, Familie und die Solidität gesellschaftlicher Strukturen bewahren, aber das sind Teilaspekte. Sie zeigen andererseits das Erwachen der Menschen angesichts der Kantschen Forderung: Sapere aude! Versuche stets, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, sei mündig! Der Zweifel am Vernunft-Begriff der Aufklärung ist modern, weil die Romantiker und Autoren späterer Literatur-Epochen Begriffe wie Vernunft und Fortschritt komplexer und problematisierter dachten als zuvor. Der deutsche Idealismus und die Hegelsche Fortschritts-Hoffnung bis hin zu Karl Marx schlagen sich in der Literatur nieder, nie aber als Programm oder Glaube, sondern immer nur wahrheitsorientiert in der Darstellung von Wirklichkeiten, siehe Heinrich Heine, Tieck, später Georg Büchner, der jeden Idealismus, aber auch seine materialistische Grundhaltung als Dichter kritisch überwindet. Andererseits: „Die Verlorenheit und das Resignieren bei Kafka, Musil, Walser könnte ein Anlass für das Postulieren einer Antimoderne sein. Sie bewegen sich nicht, wie es der Entwurf der voranschreitenden Geschichte fordert. Sie registrieren lediglich. Das allerdings meisterlich“, schreibt mir André Schinkel.
Dr. Qi Dongdong, Frau Sun und eine weitere Dozentin der Deutschen Abteilung beteiligen sich nicht an der Diskussion. Der Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät, der kein Wort Deutsch spricht, sitzt schweigend in der Runde. Warum ist er anwesend?

Letzter Unterrichtstag. Kafkas Erzählung „Vor dem Gesetz“ verstehen die Studentinnen am besten von allen Parabeln. Sie diskutieren sieben Deutungen. Wu Ruiting sieht in dem Mann vom Lande, der lebenslang nicht wagt am Türhüter vorbei in das Gesetz zu gehen, uns, die Leser, die auf eine Erlaubnis warten, ihr Leben selbst zu gestalten. Jiao Rong sagt, der Türhüter ist ein Teil des Mannes vom Lande, er steckt in uns allen, er verkörpert die Angst und die Faulheit, die man angesichts der Arbeit hat, sein eigener Herr zu sein. Huang Yueming meint, das Ideal der Gerechtigkeit sei zwar ein unerreichbares Ideal, aber es sei anzustreben von allen. Sie kritisiert die Kampflosigkeit und die Autoritätsgläubigkeit des Mannes vom Lande. Nicht das Gesetz hat Anspruch auf Glanz, wir selbst sollen glänzen. Han Wenjing sieht im Gesetz die geheimnisvollen und verführerischen Träume und Hoffnungen, auf deren Erfüllung viele hoffen. Sie warten umsonst, wenn sie nicht handeln. Zhang Huayu sieht in Kafkas Text einen religiösen Aspekt – das Gesetz sei abstrakt, sagt sie, es sei so etwas wie die Totenwaage der alten Ägypter, die unsere Seele wiegt, eine Art Weltgericht, das sich schon zu Lebzeiten in unserem Verhältnis zu Gott vollzieht. Gao He sagt, der Mann vom Lande sei in seiner Analyse des Türhüters gescheitert. Der Türhüter repräsentiere Über-Ich-Institutionen wie Staat und Kirche, die über Schuld und Sünde richten und die Freiheit der Menschen verhindern. Es komme darauf an, den Glanz im eigenen Herzen zu erkennen. Zheng Yuanyi fordert den Kampf für Freiheit und Recht. Der Türhüter, Angehöriger einer privilegierten Schicht, arbeite im Auftrag eines ‚Gesetzes’, das die Freiheit unterdrücke. Sie spricht von der Tragödie des Mannes vom Lande, dem die Fähigkeit und der Mut fehlt, die Lügen der Mächtigen zu durchschauen. – Ich bin mir nicht sicher, ob alle Studentinnen dabei auch an das ‚Gesetz’ des eigenen Landes denken ... Ich denke an Ludwig Verbeeks Deutung. In seinem religiösen Tagebuch Friede sei mit mir (Avlos 1999) schreibt der Bonner Lyriker: „... Jetzt glaube ich zu wissen, worum es in Kafkas Gleichnis geht. Es ist die Freiheit und selbst zu wählende Pflicht des Individuums, geradewegs unbeirrt das Licht des Gesetzes zu suchen. Den Eingang findet jeder, der sich auf den Weg macht, auch der Mann vom Lande. Er bückt sich, wo er aufrecht gehen sollte, er feilscht, handelt und besticht, er fragt und studiert und verschwendet seine Zeit, um endlich im Tode den Abglanz des Heils zu schauen, um unverhüllt, ledig der materiellen Welt, heimzukehren in Dein Reich. ... Nur der Heilige, vielleicht der Heilige, findet zu Lebzeiten zum Kern des Lichts, zum Urlicht selber, das niemand sich vorstellen kann. ... Sitz ich nicht auf der Schwelle und sammele brechende Bilder, farbverliebt, wortverliebt, mich auf der Bahn um die Sonne verlierend wie ein Komet, der tief im Weltall verschwindet?“ Und mittendrin der fast befremdliche Aphorismus, der mit der Parabel nur mittelbar zu tun hat: „Leid ist die einzige konvertierbare Währung im Werden der Menschen, feinstes Öl im Kugellager der Welt und ihr Motor zugleich.“ Ich denke an Thomas Manns „Zauberberg“. Im „Schnee“-Kapitel ahnt Hans Castorp für einen Moment den Sinn seiner Existenz. Aber schon am nächsten Tag hat er vergessen, was er halb erkannte: Immanuel Kants Forderung: Sapere aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Für die Interpretation der Parabel hat es schon ganz gut geklappt.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Graeculus (69)
(29.05.15)
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 Melodia (31.05.15)
Dem schließe ich mich an!

 Bergmann (01.06.15)
Die Kolumne wird nach wie vor gut gelesen, ab 100 Klicks aufwärts nach 1 Woche, und dann steigt die Zahl noch auf 300, 400, 500 ... Diskutiert wird über China in ganz anderen Kreisen. Auf kv ist die Zahl derer, die über den eigenen Tellerrand ihrer gefühligen Verse hinaus in die Welt schauen, nun mal sehr gering. Es ist immer wieder erstaunlich, wie gerade bei sehr mittelmäßigen Texten lange Kommentarstränge zu sehen sind.
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