Gil, Thomas:

Paradoxien des Handelns

Eine Rezension von  JoBo72
veröffentlicht am 28.12.07

Thomas Gil, Professor für Philosophie an der Technischen Universität Berlin, will es genauer wissen: Weshalb passiert es uns als Handelnden immer wieder, dass die beste Absicht in ungeplanten, gar schlechten Folgen endet? Handlungen, bei denen Intention und Konsequenz in einem eigentümlich inkonsistenten Verhältnis zueinander stehen, nennt man „Paradoxien“. Zur besseren Orientierung wird das komplexe Phänomen der Handlungsparadoxien in vier Unterbereiche aufgeteilt. Besprochen werden (1) Paradoxien des Glücks, (2) Paradoxien der Freiheit, (3) Paradoxien der Gleichheit und der Gerechtigkeit und (4) Paradoxien der Rationalität.

(1) Paradoxien des Glücks. Vorfreude ist die schönste Freude und häufig bleibt es auch dabei. Das gilt nicht nur für so manche Urlaubsreise, das scheint ein generelles Phänomen zu sein, so Gil. Dabei gibt es aktive und passive Momente des Glücksempfindens und verschiedene Qualitäten des Glücks: Zufriedenheit, das objektive Glück (Lotterieglück) und das subjektive Glück (Glückseligkeit). Das Glücksempfinden hängt von Erwartungen ab und ist relativ, weshalb es häufig paradoxe Beurteilungen der eigenen Lage gibt und weshalb es auch nicht möglich ist, Glück zu quantifizieren bzw. es mit objektiven Sachverhalten in Deckung zu bringen (also nach dem Motto: mehr Geld = mehr Glück bzw. Glückseligkeit). Das Glück anderer zu beurteilen, ist aus der Beobachterperspektive ebenfalls nicht möglich, so dass es in diesem Bereich viele Fehleinschätzungen (vermeintliche Paradoxien) gibt, die sich auch auf das eigene Glücksempfinden auswirken. Es gibt äußere und innere Quellen des Glücks, die aber nicht mechanisch-deterministisch Glücksempfinden hervorrufen; der Mensch muss also lernen, das aus den Quellen sprudelnde Glück produktiv und kreativ zu verinnerlichen und zur Glückseligkeit reifen zu lassen.

(2) Paradoxien der Freiheit. Absolute Freiheit führt zu Entscheidungsunfähigkeit und damit zu Unfreiheit. Echte Freiheit gibt es nur unter bestimmten Bedingungen. Eine (paradoxe) Möglichkeit, ein Mehr an Freiheit zu erlangen, ist die freiwillige Selbstbindung. Hier nennt Gil das Beispiel des Odysseus. Dieser lässt sich von seiner Mannschaft an einen Mast seines Schiffes fesseln, um dem Gesang der Sirenen zuhören zu können, ohne ihm anheim zu fallen. Ein „mehr“ an Freiheit führte, das erkennt der kluge Odysseus, ins Verderben, zur Vernichtung des Subjekts, dessen freie Handlungssubjektivität gerade durch die vom Subjekt gewollte Selbstbindung gerettet wird. In der Praxis geschieht dies häufig durch Selbstbindung in der Gegenwart mit Wirkung in die Zukunft, um sicherzustellen, dass man auch in Zukunft handlungsfähig ist. Dazu gehört die Einsicht, sich nicht gleich am ersten der vierzehn Ballermann-Tage so zu verausgaben, dass die restlichen dreizehn Tage im Hotelzimmer verbracht werden müssen. Drum merke: Ein absolut freier Wille wäre launisch, zufällig, unberechenbar, zusammenhanglos - ein Wille in kausalem Vakuum. Freiheit ist daher nicht die Frage nach dem freien Willen, sondern ein Begreifen der paradoxen Freiheitserfahrung als Differenz von Freiheit und Unfreiheit im Rahmen universeller Bedingtheit.

(3) Paradoxien der Gerechtigkeit und Gleichheit. Was für eine Gerechtigkeit ist das, die eine Spur von Gewalt hinterlässt (Gil nennt das Beispiel des Michael Kohlhaas)? Eine paradoxe Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit, die aus lauter Ungerechtigkeiten besteht, ein Gerechtigkeit, die von perversen Effekten konterkariert wird. „Perverse Effekte“ sind Auswirkungen, die keiner wünscht, die aber trotzdem auftreten können, also Kompositionseffekte (Fehlschluss vom Einzelnen auf die Gemeinschaft: individuelles Interesse ist ungleich Gruppeninteresse) und Kontrafinalitätseffekte. Gil nennt zahlreiche Beispiele: das Gefangenendilemma und das Trittbrettfahrerproblem bei öffentlichen Gütern (Paradoxon der Komposition); die Privatisierung der nigerianischen Eisenbahngesellschaft und die Terrorbekämpfung durch die USA (Paradoxon der Kontrafinalität). Es gibt aber noch ein drittes Phänomen: das Paradoxon der Suboptimalität (Beispiel: falscher Arbeitseifer) und ein viertes: das Paradoxon der sozialen Veränderung, das dann zum Tragen kommt, wenn zu schnell und unüberlegt Reformen durchgeführt werden. Die vier Typen von Paradoxien können politische Handlungsprogramme konterkarieren. Das Problem der Egalitaristen liegt nach Gil darin, Gleichheit als Ziel und nicht als Nebenprodukt von Gerechtigkeit anzusehen und dabei zu verkennen, dass die Forderungen der Gerechtigkeit absoluter Art sind und nicht relationaler.

(4) Paradoxien der Rationalität. Grundsätzlich sollte menschliches Handeln rational sein. Rationale Prinzipientreue, die es mit Normbindung übertreibt, führt aber in einigen Fällen zu weniger Lebensqualität als bei gezieltem Einsatz von Irrationalem erreichbar wäre. Irrationales Verhalten zu identifizieren ist dabei nicht leicht, da vordergründig Irrationales subtil rational sein kann. Gils Beispiel: Überarbeitung ist irrational, doch dahinter könnte der rationale Gedanke stehen, anerkannt zu werden.

Thomas Gil legt eine hochinteressante Analyse von Paradoxien praktischer Lebensvollzüge vor, die in beachtlicher Kürze das komplexe Problem prägnant zu umfassen vermag. Unbedingt lesenswert.
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