Jenny Erpenbeck:

KAIROS

Roman


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 25.11.24

KAIROS von Jenny Erpenbeck ist ein Roman, der mir eher wie der Entwurf eines düsteren Comics vorkommt, in dem die untergegangene Welt der DDR-Intelligenzija in all ihrem Bildungshochmut und ihrer Brutalität noch einmal heraufbeschworen wird rings um eine zwanzigjährige Naive mit Namen Katharina, die sich 1986 in den über dreißig Jahre älteren verheirateten Roman- und Rundfunkschriftsteller Hans W. verliebt und ihm auf durchaus pittoreske Art hörig wird: Er geilt sich daran auf, ihr mit einer Reitgerte, bis es wehtut, den nackten Hintern zu versohlen. Wenn sie sich, weißhäutig wie sie ist und mit einem Gesicht aus Biscuit-Porzellan, mit ihm im Wäldchen verabredet, trägt sie natürlich nichts unter ihrem kurzen Rock, und als sie ihm mit einem netten und zärtlichen Kollegen einmal untreu wird, muss sie dafür büßen, indem sie sich fünf oder sechs von ihm mit strafenden und vorwurfsvollen Worten überladene Kassetten nacheinander anhört und der Fülle von Herabsetzungen, ja, Beschimpfungen schriftlich erwehren muss. Das in der DDR übliche Ritual der Selbstkritik nach begangener Verfehlung lebt darin in seiner ganzen Doppelmoral fort, denn der anklagende Hans ist ja selbst ein Ehebrecher.

Und am deprimierendsten ist es, dass Katharina das alles aus Liebe mitmacht. Ist es nicht unumstritten, dass die Frauen in der DDR selbstbewusster und trennungs- bzw. scheidungsbereiter waren als in Westdeutschland? Davon keine Spur in Erpenbecks Roman, der ein unterwerfungssüchtiges Naivchen ohne jede Selbstachtung zu seiner Heldin macht. Gegen Ende findet sie in der Liebe einer Rosa ein vorübergehend Entspannung und holt sich das Kind, das Hans zu zeugen offenbar nicht imstande ist, bei einem Studenten. Sie sagt Hans, das Kind sei nicht von ihm, er will es nicht wahrhaben, aber sie verliert es vorzeitig, und dann, endlich, kommt es zur Trennung.

Und im Epilog der Autorin erfahren wir, was vorher schon ahnbar war aus seinem Verhalten: Er war zweitweise unter dem Namen Galilei IM der Stasi, um die vielen ihm bekannten Kulturschaffenden „abzuschöpfen“ und zur „Bearbeitung weiblicher Personen“ eingesetzt zu werden. Als er Katharina kennenlernte, hatte die Stasi seine Akte wegen Unergiebigkeit bereits geschlossen. Und mir persönlich fällt es schwer, ihn dafür zu bedauern, dass er arbeitslos wird, weil der im Volk verhasste und verachtete Rundfunk abgewickelt wird.

Dass es sich um eine Schattenbeschwörung handelt, wird zum Schluss deutlich, wenn Katharina sich vorstellt, zwischen den Tatzen der Sphinx zu liegen und von dem zerstückelten Osiris zu träumen, dessen Stücke Isis, seine Schwester, zusammensetzt – wie sie in diesem Roman versucht hat, die ihr bekannten, von ihr durchlebten Stücke der DDR zu einem düster-nostalgischen Panorama zu verleimen. Schon Uwe Tellkamp hat in seinem Roman „Der Turm“ dem Bildungsbürgertum der DDR ein Denkmal gesetzt, einem Schlüsselroman, in dem Hermann Kant, Stefan Heym u.a. deutlich zu erkennen sind. Jenny Erpenbeck ist anders vorgegangen. In Hans W., dem anmaßenden Liebhaber Katharinas, fließen verschiedene Autoren zusammen: Heiner Müller (der ebenfalls IM war) und Peter Hacks (der wie Hans W. aus der Bundesrepublik in die DDR gezogen ist).

Hacks‘ Freund André Müller sen. habe ich in Köln kennengelernt und seine exquisiten Kochkünste bewundert und genossen. Kam er von einem Besuch bei Peter Hacks aus der DDR zurück, hatte er den Kofferraum voller Fasane, und es gab Fasanenpastete, dazu natürlich den besten Côtes du Rhône … „Wir Sozialisten müssen die Welt vor der McDonaldisierung retten!“, war sein Slogan. Aber als die Kölner Linken sich für Wolf Biermann stark machen wollten, war er es, der ihnen den Geldhahn abzudrehen drohte, und schon waren sie wieder auf Linie. Die „Resolution der Dreizehn“ gegen Biermanns Ausbürgerung hätte Hans W., Katharinas Liebhaber, damals „beinahe“ unterschrieben. Von einer DDR, wie sie in dem Beitrag "Subkultur" unserer Autorin Diestelzie geschildert wird: bei Erpenbeck keine Spur. Ihr ist es wichtiger, den ersten Liebesakt ihres Protagonistenpaares mit Texten aus Mozarts Requiem anzureichern, das gleichzeitig im Hintergrund auf dem Plattenspieler abgespielt wird. Wird da nicht Effekt auf Effekt gehäuft und nähert sich einer Art von dialektischem Bildungskitsch?

Auch in Christoph Heins Roman „Frau Paula Trousseau“ (2008) kämpft sich eine DDR-Künstlerin mühselig genug im Kunstpatriarchat empor. Auch dieser Roman spielt in der Intelligenzija der DDR, aber er verliert sich nicht ins Klagen um das Verlorene und es geht in ihm um Menschen und nicht nur um Konstrukte einer Träumenden zwischen den Tatzen der Sphinx.
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Kommentare zu dieser Rezension


 Mondscheinsonate (25.11.24, 20:20)
SO EIN ZUFALL! Ich fange das Buch heute an. Daher lese ich deine Rezension nicht und werde in ein paar Tagen berichten.

Kommentar geändert am 25.11.2024 um 20:21 Uhr

 Quoth meinte dazu am 26.11.24 um 09:39:
Schreib doch Dein Leseerlebnis auch noch auf, ohne meine Rezension gelesen zu haben. Das wäre interessant.

 Nanna antwortete darauf am 29.11.24 um 23:53:
Ja, das würde mich auch interessieren. :)

 Nanna (29.11.24, 23:53)
Die Rezension deckt sich weitestgehend mit meiner Leseerfahrung. Ich fand KAIROS ziemlich langweilig. Das Pärchen hätte um ein Haar die Wende verpasst. Und die Hörigkeit der Heldin nervt von Kapitel zu Kapitel immer mehr. Einzig spannender Moment war der, wo sich entschied, welche Mitarbeiter des DDR-Rundfunks übernommen und welche entlassen werden. Ich bin einigermaßen beruhigt, dass auch andere Leser dieses überschätzte Buch mit kritischem Abstand beurteilen.

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