Film & Fußball
Eine cineastische Mannschafts-Kolumne
Die Kolumne des Teams " Film & Fußball"
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Eisberg Benjamin
von Dieter_Rotmund
Eine Gastkolumne von Sash.Vinograt
Ich bin mir bewusst – es soll hier um Filme gehen. Oder um Fußball. Oder zumindest um irgendeine Bewegung von Gliedmaßen. Die dann gefilmt wird. Aber ich möchte nicht über Fußball schreiben, denn würde ich es versuchen, das (Schrift)Feld bliebe leer. Ebenso wäre es, wenn ich Fußball selbst spielen müsste. Nicht mal aus der Kabine würde ich es schaffen und wahrscheinlich wäre ich sowieso schon längst davongelaufen. Laufen allein ist übrigens ein Genuss für mich (selbst ohne Forrest Gump zu heißen), doch möchte ich es dem Leser nicht zumuten, einen Text über meine Lauferlebnisse lesen zu müssen. Es würde sich nämlich vor allem um Schweiß, Atmung und wütende Kleingärtner drehen, doch das ist eine andere Geschichte. Dann dachte ich an diese Filme, denn erst neulich hatte ich so einen gesehen. Leider nur im Vorbeilaufen an einem dieser endlosen Regale und nein, ich bin einfach kein großer Cineast. So versuchte ich Dinge zu finden, denen ich mich viel und oft widme. Womit wir wieder beim Laufen wären, doch es kämen durchaus auch noch andere Sachen in Frage. Staubsaugen zum Beispiel. Was, darüber wollen sie nichts lesen? Machen sie selbst oft genug, achso. Wie wäre es mit Kaugummi kauen? Mein Kaugummiverbrauch ist besorgniserregend hoch, meine Kiefer dafür aber gestählt, darüber ließe sich zweifellos eine halbe Ode verfassen – wie meinen? Zu profan? Nun, also wirklich, mein Zahnarzt wäre da sicher ganz anderer Meinung doch schön, ich sehe schon, sie sind alle keine Zahnärzte. Ich musste nachdenken. Was mache ich oft, gerne und kann es möglicherweise so gut, dass sich daraus ein Text produzieren ließe? Mir kam eine revolutionäre Idee.
Wieso nicht ein Text, in dem Sie lesen, wie ich lese was ich lese. Ich bin tatsächlich eher der Bücherwurm und studiere ja auch Bücherei. Erst vorgestern saß ich wieder in selbiger, ganz oben im dritten Stock und tat wie mir vom Professor geheißen. Ich las das erste Mal einen Walter Benjamin. Semester für Semester hatte ich ihn geschickt umschifft, wie einen spitzen und gefährlichen Eisberg, der Furcht einflößend aus dem Meer der Literaturtheoretiker aufragt. Und es ist durchaus überraschend ja, ganz erstaunlich, wie ähnlich sich Benjamins Texte zu einem Eisberg verhalten. Denn nur zehn Prozent der Bedeutung befinden sich an der Oberfläche, sind also leicht lesbar, doch der große Rest liegt tiefer, sehr viel tiefer unter tausenden Tonnen von Begriffen und Überlegungen verborgen. Leider war der Nebel nach einiger Zeit dann doch zu dicht geworden und es gab keine Möglichkeit mehr dem Eisberg auszuweichen – ich steuerte direkt darauf zu und drohte zu kollidieren. Der einzige Ausweg: Das Risiko eines frontalen Zusammenstoßes eingehen (denn ich habe Titanic gesehen, da wurde wirklich viel falsch gemacht), bei dem ich zwar Verluste erleiden aber nicht sterben würde. Der Plan funktionierte. Frontalaufprall. Der Untergang blieb glücklichwerweise aus. Bloß, damit war die Arbeit nicht getan, der Berg ist schließlich nicht überwunden. Was tun? Links und rechts führt kein Weg vorbei, auch um den Berg herum gehen kann ich nicht. Vielleicht darüber hinweg klettern und ihn somit besteigen? Eine Möglichkeit wäre das schon, doch wer besteigt schon einen Eisberg? Genau genommen wäre es auch gar keine Besteigung (und schon überhaupt keine Herausforderung), wenn man einfach die kleine Spitze erklimmen würde, die aus dem Wasser ragt. Und das ist eben das verzwickte an Benjamin-Texten, in ihnen ist alles umgekehrt und futuristisch, man fühlt sich einer geheimnisvollen Matrix ausgesetzt. Worte bedeuten nicht das, was man glaubt. Sprachliche Bilder explodieren und implodieren zur gleichen Zeit. Erst wanken Stabilität und gelernte Theorie, dann brechen Begriffe in sich zusammen, die schließlich mit dem eigenen paradoxen Textsinn kollidieren und somit nun explosionsartig in alle Richtungen ausströmen. Die einzige Lösung den Berg zu überwinden ist, ihn zu unterwandern. Also ein Tauchgang. Rein in die Deep Blue Sea und immer am Berg entlang fühlen. Ein geduldiger Nachvollzug der Terminologie und ein Herantasten an die Beschaffenheit und Struktur dieses Gebildes. Selbstverständlich ist so ein Tauchgang gefährlich, man vertaucht sich leicht oder bleibt an einem der Eiszapfen hängen. Oftmals verliert man die Orientierung, sodass man glaubt, man hätte den tiefsten Punkt gefunden und doch ist es wieder nur eine Sackgasse. (Nicht mal Flipper findet man in diesen Tiefen und auf ihn konnte man sich sonst immer verlassen.) Ganz besonders tückisch sind aber die warmen Meeresströmungen von denen man glaubt, sie würden den richtigen Weg weisen. Dabei wohnt ihnen ein tödlicher Sog inne, dem man kaum etwas entgegenzusetzen hat und der einen einfach mitzieht, weit weg vom Berg, irgendwohin in die Untiefen des Meeres. Es ist also eine Menge Durchhaltevermögen und (Geistes)Kraft für einen solchen Tauchgang nötig. Dass man die Spitze des Eisbergs in der Tiefe nicht sehen kann, ist kein Grund zur Sorge. Möglicherweise erreicht man den höchsten, oder nun mehr tiefsten Punkt des Berges nie, weil es durchaus kleine Lücken gibt, durch die man tauchen kann. Und alles was nach einer solchen Lücke kommt ist wirklich nicht mehr schwer. Das Wasser gibt Auftrieb und trägt an die Oberfläche zurück. Dann heißt es, sich erst einmal zu entfernen, sammeln und durchatmen. Vielleicht bleibt auch noch Zeit für einen kurzen Blick zurück. Aus sicherer Entfernung betrachtet, ist der Berg tatsächlich nicht mehr so beängstigend. Und erst diese Umgebung, eine ganz und gar wunderbare Natur. (Wenn Sie an dieser Stelle eine Anspielung auf Happy Feet erwarten, muss ich sie enttäuschen, obwohl ich den Film ganz zauberhaft fand). Nun ja, bis zum nächsten Eisberg. Und der ist ganz in der Nähe.
In der Bücherei war es plötzlich kalt geworden. Ich legte Herrn Benjamin zur Seite und ging vor meinem geistigen Auge das DVD-Regal im Wohnzimmer durch. Möglicherweise bekommen sie demnächst doch eine Filmkritik, denn wie ich feststellen konnte, befinden sich tatsächlich einige Klassiker unter den ganzen Disneyfilmen. Wie wäre es mit Road to Perdition oder dem Swimmingpool? Auch The King's Speech wäre eine Rezension wert. Aber vielleicht wird es auch um keinen dieser Filme gehen sondern um etwas spannenderes. Das Leben der Anderen zum Beispiel wäre ein guter Anfang, finden Sie nicht auch?
Kommentare zu diesem Teamkolumnenbeitrag
Ich muss es mal aussprechen, ich hoffe, es fühlt sich niemand "auf den Schlips getreten", wie man so schön sagt:
Der Text ist hier Perlen vor die Säue.
(15.06.13)