keinEinhorn
keinEskapismus, keinRosa, keineLiebe.
Die Kolumne des Teams " keinEinhorn"
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Inzestarschenhausen - Warum entspannt, wenn's auch genervt geht?
von keinB
Zugegeben, ein richtiges Stadtkind war ich noch nie. Werde ich auch nie sein. Aber so mittelgroße Städte gefallen mir schon. Ein bis viele Lichtspielhäuser, Theater, Schwimmbäder, Museen, innerorts alles mit den Öffis erreichbar, Einkaufsmöglichkeiten noch und nöcher, diverse Restaurants und nicht jedes ein obligatorischer Italiener oder Dönerläden, und meist auch mit dem Auto gute Verkehrsanbindungen. Ich persönlich schätze darüber hinaus die Anonymität, die besonders Häuserblocks mit mehreren Wohneinheiten bieten. Natürlich braucht man eher keine gesegnete Nachtruhe zu erwarten, wenn man die Wohnwabe fast ausnahmslos mit Studenten teilt und ich schwöre, man lernt das Pack echt zu hassen, wenn das Pech hat, neben, über und unter Party-WG zu wohnen. Aber in so einer Wohnwabe achtet keiner darauf, wer wo wann ein- und ausgeht. Wenn man Abholkärtchen aus dem Briefkasten fischt, und man das Päckchen beim Nachbarn abholen soll, muss man erst mal herausfinden, bei welchem. Und in welcher Einheit der wohnt. Kann eine richtig spannende Sache sein. Es interessiert niemanden, wann du heimkommst, wann du deinen Müll runterbringst, wann du Besuch empfängst.
Jetzt aber ist alles anders. Jetzt wohne ich auf dem Land. Und „Stoffwechselendproduktausscheidungsorgan der Welt“ ist echt noch zu freundlich ausgedrückt für das Nest, in das es mich vor gut acht Monaten verschlagen hat. Irgendwann bin ich dazu übergegangen, es liebevoll „Inzestarschenhausen“ zu nennen und mittlerweile habe ich die Vermutung, damit gar nicht so falsch zu liegen. Hier weiß jeder alles. Über jeden. Und wenn nicht, dann wird halt was erfunden. Jetzt jedenfalls ist vorbei mit meiner heißgeliebten Anonymität. Mehr noch, mich kennen Leute, die habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. So ist das, wenn man irgendwo mitten im Schwabenland in ein erzkatholisches Weindorf zuzieht, in dem noch vor 50 Jahren erbitterte Blutfehden ausgetragen wurden, wenn sich eine/r der hiesigen Junggesellen oder –gesellinnen mit jemandem aus dem moderat evangelischen Nachbarnest traf. Oder um es mit den Worten eines Exfreundes zu sagen, als wir vor einer halben Ewigkeit wider Erwarten ob der allgemeinen Mentalität der Menschen in dieser Gegend im Nachbarort einen Einheimischen mit sehr dunkler Hautfarbe sahen: „Der hat sich verlaufen, nicht wieder rausgefunden und ist dann halt gezwungenermaßen geblieben.“
Mein gezwungenermaßen sind ein geerbtes halbes Haus und ein geerbter ganzer Hund. Okay, der Hund spielt für das Kuhkaff keine große Rolle (außer, dass er halt seine ganzen Freunde hier hat), den hätte ich auch irgendwo anders erben können. Aber das Haus steht nun mal dummerweise in Inzestarschenhausen und ich hege begründeten Verdacht, dass auch gutes Zureden das leider nie ändern wird.
Außer mir wohnen in Inzestarschenhausen noch rund 1000 andere Menschen, die wenigsten gezwungenermaßen. Das resultiert hier größtenteils aus einer „Das haben wir immer schon so gemacht, schon mein Ururururgroßvater wohnte in diesem Stall und klaute beim Ururururgroßvater dieses Nachbarn Äpfel aus dem Garten“-Mentalität. Es gibt eine Hauptstraße, zwei oder drei größere Nebenstraßen und – mir völlig unbegreiflich – ohne Ende Neubaugebiete. Obwohl es hier sonst nichts gibt. Nichts. Eine Pizzeria, die auch als Dorfkneipe fungiert, und die sich nur rechnet, weil der Sportplatz daneben gebaut wurde. Oder anders herum. Eine Grundschule, deren Sporthalle anscheinend auch die örtliche Gemeindehalle ist, wenn man dem 26.05.2019 und den Einladungen dazu glauben darf. Ein Feuerwehrhaus, dessen zugehörige FFW auch schon mal vergisst, dass der Löschwagen an eines der umliegenden Käffer für einen Umzug ausgeliehen wurde. Ach, apropos Umzug: Es gibt seit 40 Jahren einen Faschingsumzug, zu dem irgendwie Hinz und Kunz hier aufläuft und zu dem dann auch die alte Kelter (oho!) geöffnet wird, damit die ganzen Besoffenen nicht auf der Hauptstraße herum- und/oder vor Autos renne, obwohl ich persönlich ja echt nichts gegen diese Form natürlicher Auslese einzuwenden hätte.
Neulich hatte ich Besuch (das dritte Wochenende in Folge, von unterschiedlichen Männern, Skandal!) und prompt begegneten wir beim Gassigehen (mit dem Hund natürlich) einem Bekannten einer Nachbarin, dem ich persönlich noch nie direkt vorgestellt wurde. Er mir übrigens auch nicht. Einige Tage später erzählt mir die Nachbarin, dass besagter Bekannter versucht habe, sie auszufragen. Ob meine Begleitung denn mein neuer Freund sei? Was ich denn jetzt beruflich machen würde? Ich weiß über diesen Mann nichts außer seinen Vornamen. Interessiert mich auch nicht. Er hingegen scheint eine Menge über mich zu wissen. Interessiert ihn anscheinend auch. Warum auch immer. Vermutlich sind Informationen, die noch nicht jeder hier hat, sowas wie bare Münze. In der Dorfkneipe vielleicht. Oder in der Gemeindehalle, vermutlich. So wirklich brennend interessiert‘s mich jetzt aber auch nicht. Was kümmert mich, bei wem wann welches Auto wie lange vor der Tür steht? Oder wer mit wem weswegen nicht kann? Das Problem ist, über kurz oder lang werde ich das alles erfahren. In Inzestarschenhausen stecken die Einheimischen ihre Nasen nämlich nicht nur jede verfügbare fremde Angelegenheit, sondern teilen auch ihre intimsten Geheimnisse völlig arglos und völlig ungefragt mit der netten neuen Nachbarin. Ich weiß, dass die Nachbarin schräg gegenüber seit 50 Jahren einen Marder im Dach hat (natürlich nicht denselben), dass über die Straße rüber der erwachsene Sohn Gürtelrose hat, dass bei der Nachbarin auf der andern Seite vom Garten die Arthrose immer dann besonders schlimm ist, wenn die Regenwolken von der Weinbergseite kommen, uswusf. In spätestens einem halben Jahr könnte ich wahrscheinlich ein Buch drüber schreiben. Vielleicht mach ich das sogar.
Ihnen eine klatschfreie restliche Woche.
Kommentare zu diesem Teamkolumnenbeitrag
Mein Landleben (und das Dorf, dem ich zugehörig bin und das knappe 1.000 m von meinem Haus entfernt liegt, zählt gerade mal um die 140 Einwohner, von denen ich den wenigsten jemals bewusst begegnet wäre in meinen knapp 13 Jahren) ist entscheidend friedlicher. Ich habe zumindest nicht den blassesten Schimmer, ob und wer sich das Maul über mich zerreißt. Aber ich habe auch keine roots auf diesem Fleckchen Erde. Ich bin Zugereister, und wenn ich mit dem Fahrrad durch die Felder schaukel, erkennt mich kein Schwein. Gut so. Totale Anonymität in der Einöde. Was will mensch mehr?
Aber flott und geschmeidig geschrieben. Ich würde es allerdings inhaltlich ausgewogener gestalten.
Jedenfalls: Allem Trigger zum Trotz gern gelesen, aber jetzt muss ich auch mal wieder, die Omma von gegenüber ist nicht gut zurecht und beim Bauern ist ein Sack Kartoffeln umgefallen.
Danke
Nachvollziehbare Story, gut beschriebene Milieustudie - gelungen.
Dankeschön.
Klar, lass mir bisschen Zeit.
Da ist der Hund nicht zuordbar. Das ist wie "Wer will Schafe tauschen?" bei "Die Siedler von Catan". Ein paar Zeilen darüber berichtet zwar der Erzähler von einem Hund, dennoch wäre es bestenfalls gut geraten, dann den Hund korrekt zuzuordnen. Die RS-Fehler interessieren mich auch, bitte nicht als persönlicher Kommentar einstellen, Danke!
(20.06.19)