Film & Fußball
Eine cineastische Mannschafts-Kolumne
Die Kolumne des Teams " Film & Fußball"
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Klings Känguru: Weite Sprünge im Kreuzberg-Biotop.
von Willibald
Ich reiche dem Känguru ein Buch, das auf dem Schreibtisch lag. »Das habe ich gelesen«, sage ich. »Es ist ein Ratgeber fürs Drehbuchschreiben. Das Buch heißt Save the cat, weil einer der Tipps im Buch ist, dass der Protagonist in den ersten zehn Minuten irgendetwas machen soll, was ihn sympathisch macht. Zum Beispiel eine Katze retten.«
»Na und?«
(Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Apokryphen. Berlin: Ullstein 2018, S. 51)
(1) Die Katze
Marc-Uwe Kling, das wird deutlich, kennt die Filmratgeber. Und er spielt damit. Sicherlich ist das Känguru keine Katze, es ist ein überdimensionales Beuteltier, es kann sprechen, es meint „mein“ und „dein“, das sind „doch bürgerliche Kategorien“. Und es macht sich in der Wohnung des Autors Marc-Uwe Kling breit. Das ist so etwas wie die Rettungshöhle. Für das Känguru. Und eine Zumutung für den Höhleneigner. Aber nicht nur.
James Stewarts „Mein Freund Harvey“ (1950), Mel Gibsons „Bieber“ (2011), das sind Filme mit männlichen Hauptfiguren und mindestens so wichtigen animalischen Begleitern. Bill Wattersons „Calvin“ ist mit dem Tiger „Hobbes“ innig verbunden. Und weiß bei allem kindlich betulichen Spiel, dass er animalisch und inkorrekt die Moral der Erwachsenen brechen kann, zumindest begrenzt, solange er sich vorstellt, ein Dinosaurier zu sein. Ähnlich radikal agiert das Känguru. Und so ist Marc-Uwe Kling ein Spieler, er sitzt am Piano der popkulturellen und politischen Anspielungen. Und er greift voll in die Tasten.
Abb. 1: Der Boxhandschuh
(2) Der Boxer und die Storyline
Das Filmplakat der „Känguru-Chroniken“ zeigt ein Känguru in triumphaler Position mit hochgereckter roter Boxhandschuhfaust. Im Hintergrund erkennbar die Silhouette von Berlin. Links der Ostberliner Fernsehturm, 368 Meter hoch, 200 Millionen Ostmark schwer. Kleiner im Hintergrund die Reichstagkuppel. Repräsentanten von politischer Macht. Von vergangener und gegenwärtiger. Man muss die Details dieses Plakates in keiner Weise dechiffrieren können. Und dennoch erhöht es den Spaß, wenn weitere Hintergründe aufblitzen: „Rocky Bilboa“ lässt grüßen. Der Quest mit dem Gegner, die Herausforderung, das Training, der Kampf, der Sieg.
Abb. 2: Rocky Balboa
Unser Känguru liest eine kommunistische Tageszeitung, die „kvz“ mit dem Signet der erhobenen Faust. Es lässt sich hinten und vorne bedienen, es ist genaugenommen eine parasitäre Existenz. Aber als das Biotop bedroht ist, kein aber, weil das nährende Biotop bedroht ist, bedroht vom föhnfrisierten, gelbhaarigen Immobilienhai Jörg Dwigs und seinem Bauvorhaben, da nimmt es den Kampf auf. Es kann boxen wie Rocky. Und es beherrscht die Storyline.
Eine radikale Gruppe bildet sich: Die Kneipenbesitzerin Herta „Hier bin ich geboren, eine Sturzgeburt. Keiner bringt mich von hier fort.“), die alleinerziehende Mutter Maria mit ihrem kleinen Sohn Jesus, die türkischstämmigen Spätibetreiber Otto von und Friedrich Wilhelm – das „asoziale Netzwerk“. Maria, eine mütterliche Lisbeth Salander („Verblendung“; 2009), kann mit dem tricksigen Känguru zusammen Dwigs/Trumps/Haiders Computer hacken. Das Imperium bricht zusammen. Das Kleinbiotop hat gesiegt.
(3) Seelentherapie und Grammatikmanie
Natürlich nimmt sich die Storyline nicht ernst, sie will mit den anarchischen Erwartungen spielen und bedient dabei intelligent und durchaus erwachsen-ironisch das Kasperltheater für den erwachsen-kindlichen Zuschauer und seine Gelüste. Die Arabesken und Schleifen breiten sich ringsum aus und verbreiten jenseits von Berlin Mitte ihren Glanz.
Da gibt es gleich als Exposition eine Streitgespräch zwischen Marc-Uwe Kling und dem Känguru, wessen Film das eigentlich ist. Man einigt sich, dass das „unser Film“ ist.
Und dann gibt es ein Streitgespräch, wie man anfangen soll: Marc-Uwe Kling beginnt mit dem Urknall weit vor unserer Zeit und lässt die Kamera in einer rasanten Sturzfahrt in die versiffte Wohnung des Kleinkünstlers und Schluffis rasen. Am Türschild „Kling“ klingelt das Känguru, auf der Milchpackung findet sich der Hinweis „Film-Milch“, Der Autor stoppt den Metadialog über den Film, indem er die Taste „Audiokommentar aus“ drückt und im CD-Spieler ist kurz ein Vortrag des geschäftstüchtigen, wienerisch schleifenbildenden Therapeuten zu hören. Ein Film, der sich spiegelt und spiegelt und freut.
Die Therapiesession führt dann ins Zentrum von Komik, Fiktion, Rationalität und all dem:
»Aha. Und dieses Känguru …«, fragt der Psychiater, »… hören Sie nur dessen Stimme oder können Sie es auch sehen?«
»Was’n das für ’ne blöde Frage? Natürlich kann ich das auch sehen. Das wohnt ja bei mir.«
»Aha.«
»Ja.«
»Verstehen Sie, wenn Sie nur die Stimme in Ihrem Kopf hören könnten, hätte mich interessiert, woher Sie wissen, dass es ein Känguru ist.«
»Na, es hat zwei große Füße, ’ne lange Schnauze, spitze Öhrchen und ’nen Beutel.
Klingt für mich nach ’nem Känguru …«
»Aha. Und dieses Känguru …«, fragt der Psychiater, »… springt das vielleicht gerade hier im Zimmer herum?«
»Natürlich nicht! Sehen Sie hier etwa ein Känguru?«
»Nein«, sagt der Psychiater. »Sicher nicht. Aber warum ist es jetzt gerade nicht hier?«
In Hertas Kneipe, dem Kommandostand der asozialen Kleinzelle, taucht der Feind auf. Das Känguru spricht eine Drohung aus: „Ich kann sehr unangenehm werden. Und ich spreche hier nicht von einem hässlichen Graffiti“. Und der Kleinkünstler am Kneipentisch schaltet plötzlich in den Korrekturmodus.
„Graffitooo.
Die Graffiti.
Ein Graffito, das Graffito.“
Herta protestiert: „Ist doch Quatsch, das mit dem Graffito. Sie sagen doch auch nicht zu jemandem, entschuldigen Sie mal. Sie haben da ein Spaghetto am Kinn. Und wenn das der korrekteste aller Singulare wäre.“
Marc-Uwe genervt: „Singuli, Herta.“
Spaghetto, 8´10´´ff.
(4) Eindrücke
Und wie geht es dem Publikum? Vor der Corona-Krise sah ich den Film im Arri-Kino in München. Viele keckernde Kleinkinder. Nicht minder keckernde Erwachsene.
Stimmen danach und jetzt:
„Ich fand die Idee mit diesem Känguru und so mega-toll. Es war auch nicht schlecht und eigentlich recht witzig. Aber was mich einfach ein wenig störte, war dieses ganze Politikzeugs. Das fand ich nicht sonderlich spannend. Und bei manchen Begriffen und Dialogen, die sie geführt haben, habe ich nur Bahnhof verstanden, weil mich das alles absolut nicht interessiert.“
„Ein ziemlich lauer Film. Völlig unverständlich, warum das sehr unfreundliche und ebenso unkameradschaftliche, also unsympathische Känguru dort bei diesem Kleinkünstler wohnen bleiben darf. Ein bleiernes Känguru, künstlich, künstlich. Nicht echt.
Man atmet richtiggehend auf und durch, wenn ausschließlich echte Menschen die Dialoge führen. Das passiert leider viel zu selten. Das Känguru ist ein aufdringlicher, fast dauerpräsenter Nörgel-Zeitgenosse. Der Inhalt des Films ist ziemlich belanglos. Hoffentlich gibt es keine Fortsetzung.“
„Mein Gott, Dieter! Wer Augen und Ohren hat und .... Das ist ein kommunistisches Känguru. Es ist ein parasitäres, kommunistisches Känguru. Es ist albern-komisch, weil es unter Kommunismus versteht, dass man …“
„Jetzt hör auf, Willibald. Wenn Kommunismus heisst, dass es Menschen hervorbringt, die sich wie dieses höchst unsympathische Känguru verhalten, dann mag ich keine Kommunisten. Und auch keine Fortsetzung.“
"Was wir brauchen, Frau Merkel, das sind nicht unbedingt solche Filme in dieser Zeit. Im Streaming. Wir brauchen jetzt eine Monitoring-Gruppe. Für das Pflegepersonal. Man muss die Missstände aufnehmen. Und die Politik sollte darauf reagieren."
"Das Känguru, Herr Weinberg, ist da bei aller Komik ein Stimulus und zielführend. Eine solche Monitoring-Gruppe sollte nicht nur von der Linkenfraktion getragen werden. Und ich werde die entsprechenden Berichte ganz gewiss lesen. Ich bin ja ein aufmerksamer Zeitmensch - um nicht Genosse zu sagen."
Nachweis:
Die Bilder stammen aus dem Bildmaterial des X Verleihs.
Manche Sentenzen von D. R.
Merkels Selbstbezeichnungen als "Zeitmensch" und "Fastgenosse" aus der Fragestunde vom 13. Mai.
Die Känguru-Chroniken. Film. X Verleih 2020
Kommentare zu diesem Teamkolumnenbeitrag
Gestern abend auf arte gesehen: Höhere Gewalt, Schweden 2014.
Großartig.
Salute
ww
Isolation ist da allerdings das Gegenteil von.
"Splendid" ist es auch nicht, eher traurig.
Du ergehst dich in Vorurteilen ohne Absicherung im Detail. So ist weder Kommunikation mit einem Film, noch mit einem Buch noch mit einem Dialogpartner.
Aber das hast du sicher so oft gehört, dass es nichts mehr bringt.
Die am Ende zitierte Äußerung Angela Merkels habe ich (in Kontext einer Anfrage der Links-Fraktion) als schönes Beispiel für Merkels Humor empfunden.
Nun zu dem, was ich eigentlich sagen möchte: Dieter weist darauf hin, daß gestern abend der schwedische Film "Höhere Gewalt" gezeigt worden ist, und das ist ein guter Film, der uns nachdenklich gemacht hat im Hinblick auf den offenbar leichtfertigen Wunsch in so mancher ehelichen Diskussion ("Das hast du so gesagt!" - "Nein, das habe ich nicht so gesagt!"), man möge eine Ton- oder Filmaufnahme der Szene als Beweismittel haben. Ein sehr leichtfertiger Wunsch, denn der Film zeigt, daß dann, wenn die Streitfrage durch einen Beweis entschieden ist, die Probleme erst beginnen: denn jetzt hat einer der beiden Kontrahenten sein Gesicht verloren, das sie zuvor, solange Meinung gegen Meinung, Erinnerung gegen Erinnerung stand, noch beide wahren konnten. Ein aufschlußreicher Film über eheliche Konflikte - auch wenn so manche Zuschauerin meinen mag, es sei ein Film über ein Männerproblem gewesen.
Das Happy-end im Nebel kam mir märchenhaft vor, die Schlußszene "irgendwie" das Miteinander glorifizierend: Wenn wir zusammenhalten - und sei es gegen einen unbeholfenen Busfahrer -, können wir Krisen bewältigen.
Aber was ich ganz eigentlich sagen möchte: Der noch sehr viel bessere Film wurde erst anschließend gesendet: "Loveless" von Andrei Swjaginzew. Ein schlichtweg großartiger Film über eine Hauptperson, die lediglich drei oder vier kurze Auftritte hat (einer davon zerreißt einem das Herz) und ansonsten gerade durch ihre Abwesenheit die Filmhandlung bestimmt. Welche Abgründe in uns (tua res agitur) werden da offengelegt! Da ist ein Mann, der (vgl. "Höhere Gewalt") angesichts einer Lawine als erstes daran denkt, seine Skihandschuhe und sein i-Phone zu retten, im Vergleich beinahe ein Sympathieträger, ein netter, ziviliseirter Schwede halt. "Loveless": ein schonungsloser, schwer erträglicher und dadurch herausfordernder Film über unseren Egoismus. Ganz ohne Happy-end, versteht sich.
Der Bocksgesang-Kling hat seine kathartische Funktion schon nicht minder. Bei den Känguru-Chroniken bin ich hängengeblieben im 21. Kapitel. Dann war ich über weite Strecken von Kling fasziniert.
»Ach du immer mit deinem ich. Ich, ich, ich, ich, ich. Wie in deinen Geschichten: Ich wache auf. Ich gehe ans Telefon. Ich sage, ich frage, ich denke, ich will.«
»Willst du damit kritisieren, dass ich nur Ich-Erzähler-Geschichten schreibe?« »Nein, nein«, sagt das Känguru. »Jeder, wie er’s kann. Das ist halt am einfachsten.« »Ich kann auch die Erzählperspektive wechseln«, sagt Marc-Uwe aufgebracht. »Jetzt bist du der Erzähler.« Ich schüttele den Kopf, stecke heimlich den Aschenbecher des Restaurants in meinen Beutel und sage: »Das ändert doch nichts. Immer noch schreibst du als Ich-Erzähler.« Das Beuteltier regt mich echt auf. Will mir vorschreiben, wie ich zu schreiben habe! Pah! Ich sag ihm doch auch nicht, wie es zu hüpfen hat! Der Käsekuchen sieht lecker aus. Ich kannte mal eine, die zwanghaft jeden Gedanken, den sie hatte, sofort ausgesprochen hat. Zum Glück dachte sie nicht so viel. Hm. Mein Bein ist irgendwie eingeschlafen. Aua. Was war das? Aua.
»Hallo, McFly! Jemand zu Hause?«, ruft das Känguru und klopft mir auf den Kopf. »Was soll das sein? Innerer Monolog? Immer noch Ich-Perspektive!« Marc-Uwe stutzte. »Kein Problem. Kein Problem«, sagte er dann. »Allwissender Erzähler.«
Die Kritik an seinem Werk hatte die Aufmerksamkeit des braunhaarigen, mittelgroßen, feingliedrigen jungen Mannes so in Beschlag genommen, dass ihm darüber entging, dass das Känguru diese Kritik nur formuliert hatte, um geschickt davon abzulenken, dass es mal wieder nicht bezahlen konnte. Als Marc-Uwe dies endlich begriff, hatte das Känguru das Café schon längst unauffällig verlassen. Pech für das Känguru, denn die hübsche Kellnerin spendierte allen Gästen einen Käsekuchen aufs Haus.
Dann kam wieder der verrückte Billionär vorbei und verteilte 500-Euro-Scheine. »Ich kann das jeden Tag zwei Stunden machen und habe trotzdem jeden Abend mehr Geld als am Morgen«, sagte er zu Marc-Uwe. »Irre, nicht? Man muss den Kapitalismus einfach gernhaben.« Am Nebentisch saß ein Fremder in Cowboyklamotten mit einem beeindruckenden grauen Schnurrbart. Er drehte sich zu Marc-Uwe und lächelte ihn an. »Sagen Sie nichts«, sagte Marc-Uwe. »Sie wollen mich fragen, ob ich den Rest Ihres Käsekuchens haben möchte.« »Woher weißt du das?«, fragte der Fremde mit rauer Stimme.
»Ich bin der allwissende Erzähler«, sagte Marc-Uwe. »Soso«, sagte der Mann. »Weißt du also auch, wohin und für wen die Busse und U-Bahnen unterwegs sind, auf denen ›Betriebsfahrt‹ oder ›Nicht einsteigen‹ steht?« »Äh … äh …«, sagte Marc-Uwe. »Also … äh …« »Bist du dir sicher, dass du wirklich ein allwissender und nicht vielmehr ein unzuverlässiger Erzähler bist?«, fragte der Fremde. »Einer wie Münchhausen?«
»Nein. Sicher bin ich mir nicht«, sage ich, als sich der Fremde in eine Schnapspraline verwandelt. Das Känguru steckt seinen Kopf zur Tür herein. »Wird das heute noch was?«, ruft es. »Kommst du endlich? Oh! Eine Schnapspraline …«
Kling, Marc-Uwe: Die Känguru-Chroniken (Die Känguru-Werke) Berlin: Ullstein 2015, Kapitel 21
Da gibt es übrigens auch ein sehr überzeugendes Theodizee-Kapitel. Das dürfte dem Graeculus und Logikaf(f)icionado zusagen.
greetse
ww