„Herr Doktor, bitte sagen sie mir die Wahrheit! „
Langsam presste der verstörte junge Mann diese Worte heraus,
Er redete langsam.
Aber er sprach mit Nachdruck, gerade so, als wollte er die bittere Gewissheit zwingen aus ihm herauszukommen.
Endlich heraus aus seinem Inneren,
heraus aus dem Herzen -
dem Zentrum seiner Angst.
Der Schweiß perlte ihm auf der Stirn.
Er wirkte verstört.
Nachdem er seine Befürchtungen in Worte gekleidet hatte, fühlte er sich keinen Deut besser.
Ganz im Gegenteil.
Sein unrasiertes Kinn fiel auf die Brust.
Die Hände im Schoß krampfhaft gefaltet, so saß er da.
Im Behandlungszimmer tickte eine Uhr.
Schob den Zeiger wieder eine Minute nach vorne.
Wieder eine Minute,
in der das Leben des Mannes verrann.
Er sah sehr müde aus.
Seit Tagen hatte er kaum geschlafen.
Er war hierher in das Krankenhaus seiner Kreisstadt gekommen
um schließlich, nach langen Zweifeln und ängstlichem vor sich her schieben,
die endgültige Diagnose zu erfahren.
Die Diagnose eines Spezialisten.
Ein unumstößliches Urteil!
Er war auf alles gefasst.
Auch auf darauf, dass seine schlimmsten Befürchtungen einen Namen bekommen:
Einen Namen, der ein Todesurteil ist:
Magenkrebs!
„Herr, Doktor, Sie brauchen mich nicht schonen, -
ich bin auf alles gefasst!“
„Sagen Sie es mir doch! Habe ich Krebs?“
Der junge Mann wusste:
dass es wahr ist, was die alten Leute immer sagen::
Alles, was man ausspricht wird wahr.
Man soll es nicht verschreien!
„Darum rede nicht davon, verschluck deine Worte!“ So schrie eine Stimme in ihm.
Aber jetzt war es zu spät, jetzt war es ausgesprochen.
Jetzt gab es kein zurück mehr!
Seine Haare waren mittlerweile schweißnass.
So blass wie er war, sah er wirklich sterbenskrank aus.
Bekommt man Magenkrebs, wenn man davon spricht, wenn man ausspricht,
was als Möglichkeit schon in uns angelegt ist?
„Verdammter Aberglaube“, - stöhnte er aus sich heraus.
Der Arzt zuckte zusammen.
„... und das Wort ist Fleisch geworden ...“,
flüsterte der Patient, so leise, so abwesend,
dass es fast wie ein Stoßgebet klang.
„Aber mein Lieber, so beruhigen Sie sich doch, ich bitte Sie!“
Die Stimme des Arztes rief den jungen Mann zurück.
Zurück in die Gegenwart. Zurück in seine Wirklichkeit.
Zurück ins Leben.
„Was reden Sie denn!“
Doktor Kess lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Zündete sich langsam ein Zigarette an und studierte die Krankenkarte
die vor ihm lag.
„Bevor ich den Laborbericht nicht eingesehen habe, kann ich keinen endgültigen Befund stellen, das müssen Sie schon verstehen.
Ein bisschen Geduld, darf ich von Ihnen schon erwarten, junger Mann!“
Ungläubig blinzelte sein Patient nach oben.
Dem Licht der Schreibtischlampe entgegen.
Er war so tief in den Polstersessel hineingesunken, dass er sich erst einmal aufrichten musste um zu verstehen, was der Arzt sagte.
„Was sagen Sie? - Sie können mir also nicht ....?“
„Ich bitte Sie Herr .... , wie war noch einmal Ihr werter Name,
ach ja, ... Knappersbusch heißen Sie, ...tschuldigen Sie vielmals, ich bin etwas überarbeitet – müssen Sie wissen!“
... „keine Ursache!“ ....
Dr. Kress hat es als erfahrener und anerkannter Spezialist des öfteren mit Patienten zu tun, die mit den Nerven am Ende waren.
Aber mit diesem Herrn Knapperbusch, ledig 27 Jahre alt,
- einer Sportskanone, dem Belastungs - EKG nach –
war er schon nach einer halben Stunde mit seinem Latein am Ende.
Zudem interessierte ihn der Fall nicht besonders.
Gastritis und eine lästige Refluxösophagitis.
Unter Umständen Ulcus Duodeni.
Ungewöhnlich für einen jungen Mann; aber bei entsprechender ungesunden
Lebensführung; - war es schon möglich, was der überweisende Hausarzt auf den Überweisungsschein gekritzelt hatte.
Ungeduldig schnippte der Arzt die Asche von seiner filterlosen Zigarette.
„Tut mir leid, Herr Knappersbusch, so sehr Sie mich auch drängen.
Heute ist Karfreitag, und ich glaube kaum, dass ich die Laborwerte der Magenspiegelung
noch vor morgen Mittag auf den Tisch bekomme.
Dann habe ich ein paar Tage frei.
Sie müssen sich schon bis Dienstag nach Ostern gedulden.“
Der Junge Mann lies es über sich ergehen, was der Arzt sagte.
Er hatte nun wirklich keine Kraft mehr.
Verstört blinzelte er seinen Arzt an und kaute an seinen Fingernägel herum.
Wie in Trance hörte er Dr. Kress weiter sprechen:
„Wie gesagt:
Vorher kann ich Ihnen nichts genaueres sagen.“
Außerdem verstehe ich Ihre Befürchtungen nicht!
Sie haben doch gar keinen Anlass, an so etwas furchtbares zu denken.
Er schüttelte den Kopf, signalisierte etwas Interesse und beugte
sich zu Knappesbusch vor:
„Waren etwa Ihre Eltern an Magenkrebs erkrankt,
weil Sie so darauf fixiert sind?
Ihr Vater vielleicht?
„Aber ich muss mich nun wirklich kurz fassen,
ich bin heute für die Nachtbereitschaft eingeteilt,
die Osterfeiertage, sie verstehen ... –
ich muss in einer Minute bei der Notaufnahme sein!“
Dr. Kress wurde nun bestimmt.
„Wir sehen uns also am kommenden Dienstag wieder,
Kopf hoch, mein Bester, wird schon werden!“
Nach einem kurzen Augenzwinkern, schob der Arzt seinen Lehnstuhl zurück, stand auf
und reichte dem jungen Mann die Hand.
„Äh! Und gute Besserung auch ....“
Knappersbusch nahm das alles gar nicht mehr wahr.
Gedankenverloren drückte er dem Doktor zum Abschied die Hand,
verließ das Sprechzimmer auf der Station und taumelte den Krankenhausflur entlang –
in Richtung Ausgang.
Erst als er an der Pforte vorbei war,
merkte er wie elend er sich fühlte.
Er hätte Dr. Kress wenigstens um ein Schmerzmittel bitten sollen.
Das währe doch das Mindeste, was er für ihn tun könnte.
Er glaubte nicht, dass er es bis nach Hause schaffen würde.
Erst musste er sich irgendwohin setzten.
Die Dämmerung war schon hereingebrochen.
Die Schatten der Bäume wirkten bedrohlich.
Im Garten der Klinik war nur noch ein Patient zu sehen..
Ein alter Mann saß im Rollstuhl; - frische Beinamputation!
Er hatte den Schlafmantel eng um seinen Körper geschlungen.
Gierig zog er an seiner Zigarette.
Ein letzter Zug noch,
und als der die Kippe weggeschnippte hatte,
rollte auch er auf dem glänzenden Linoleum
zurück auf seine Krankenstation.
Nun war er alleine.
Der junge Mann setzte sich auf die Holzbank zwischen den
Forsythiensträuchern und den Blumenbeeten.
Die wenigen kümmerlichen Osterglocken gaben ein lächerliches Bild ab.
Jürgen Knappersbusch stellte den Kragen seines Mantels er hoch.
Er wollte sich vor dem kühlen Nachtwind schützen.
Außerdem war er wütend auf Dr. Kress.
Er hat leicht reden!
Dienstag nach Ostern!
So lange will er mich also hinhalten.
Wenn es kein Krebs ist, dann hätte er es mir doch gesagt;
mit ruhigem Gewissen hätte er zu mir sagen können:
Herr Knappersbusch, sie sind hundertprozentig gesund, - machen Sie sich keine Sorgen und gehen sie nach hause..
Aber so...
Ja, aber so –
wartet er nur darauf, bis er die letzte Gewissheit hat.
Solange es das Labor noch nicht schriftlich bestätigt hat,
darf er mir die Diagnose gar nicht stellen.
Knappesbusch wusste es aber schon vorher.
Er hätte gar nicht herkommen brauchen.
Hätte sich den Weg ersparen können.
All die Untersuchungen.
Aber bitte! Wenn sein Hausarzt unbedingt wollte,
dann würde er ins Krankenhaus gehen; - ambulant.
Sollten sie doch ihre beschissene Magenspiegelung haben, wenn sie unbedingt meinten.
Er jedenfalls brauchte sie nicht.
Er wusste es auch so,
er wusste es schon länger.
Und er war alleine mit seiner Gewissheit:
Er hatte Magenkrebs!
Als er sich die erste Träne abwischte,
war er schon so verzweifelt, dass ihm die Kraft fehlte aufzustehen,
wegzugehen,
zu den Anderen,
zu seiner Familie ...
Aber so, - wie er verloren da saß,
musste er mit ansehen,
wie aus dem Licht des Frühlingstages ein schmutziggrauer Himmel wurde.
Aus grau wurde bald violett.
Und diese schmutzige Farbe erinnerte den sterbenskranken immer an Beerdigungen.
Die Nelken waren weiß und rot.
Die Schleifen an den Kränzen waren weiß, schwarz oder violett.
Meistens aber violett. Violett mit goldgeprägten Buchstaben:
- Geliebt und unvergessen –
...stand darauf,
... oder
- deine dich liebende, ... weiß Gott was ...
Wie auch immer.
Es war zum heulen.
Und dann, nach einer Stunde,
muss das Violett schwarz werden, undurchdringlich schwarz.
Denn dann kommt die Nacht.
Knappersbusch fror.
Ihm war furchtbar kalt.
So einsam und allein hatte er sich noch nie gefühlt.
Er war verlassen.
Niemandem interessierten seine Leiden.
Schon als sein Großvater starb,
der einzige Mensch, den er liebte
war es für ihn zur Gewissheit geworden,
wenn er einmal sterben müsste,
dann würde er es allein tun.
Heute, als er zur Klinik gefahren war,
da hatte er es sich schon fest vorgenommen:
Niemand sollte die Schmach sehen,
wenn er bettelte,
dass der bittere Kelch des Magenkarzinoms
doch an ihm vorübergehen sollte.
Dass doch hoffentlich die Ärzte eine andere Antwort wussten.
Nein!
Keiner sollte seine Klagen hören,
sein Flehen, sein Rufen.
Niemand würde ihm beistehen,
nirgends würde Hilfe sein.
Niemand sollte mit dabei sein,
wenn er ins Dunkel getrieben wurde,
von der unheilbaren Krankheit,
wenn er stürzte -
mit seinem Magenkrebs in die Tiefe.
In die abgrundtiefe Verzweiflung ....
Die Tränen waren nun nicht mehr zu bändigen.
Sein Taschentuch war nass, vollgeheult und vollgerotzt.
Knapperbusch erschrak,
als sich eine Hand auf seine Schulter legte.
„Entschuldigen Sie, junger Mann. Auch wenn es Ihnen nicht gut geht!
Hier können Sie nicht bleiben, - die Pforte wird jetzt geschlossen!
Wenn Sie Hilfe, brauchen ....“
„Nein danke, ... sehr freundlich ...
ist nicht nötig.
Es geht schon wieder!“
Knappersbusch floh!
Er floh weg!
Er lief die Auffahrt zur Nothilfe hinunter,
die paar Meter zur Ausfahrt.
Ein, zwei Strassen weiter hatte er seinen Wagen geparkt.
Er brauchte nur noch über die Strasse zu laufen,
dann konnte er drüben im Bistro noch eine Tasse Kaffe trinken.
Heißen Kaffe.
Vielleicht währe dann alles nur noch halb so schlimm.
Später würde er dann
mit seinen Eltern reden, mit Magdalea – seiner Freundin.
Dann konnte er
wieder heraufsteigen aus der Grube der Angst
In die er gestürzt war.
Dann konnte er vielleicht
wieder heruntersteigen vom Kreuz,
wohin ihn seine Krankheit geschlagen hatte.
Alles würde besser werden –
bei einer Tasse Kaffe.
Jürgen Knappersbusch lief auf die Straße,
übersah in seiner Panik den Wagen,
hörte aber das Kreischen der Reifen, die Hupe, er sah die Lichter der Scheinwerfer
die ihn blendeten;
die neongelb zum Himmel zeigten.; - im Reflex riss er seine Arme hoch.
Doch es war zu spät!
Der Aufprall war dumpf. Er hörte ihn nicht mehr.
Denn Knappersbusch wurde frontal von der Motorhaube erfasst
und über den Wagen geschleudert.
Mit dem Kopf schlug er auf der Bordsteinkante auf.
Dort hauchte er sein Leben aus.
Eigenartig verrenkt, lag er dann auf der Straße.
Sein Kopf war grotesk nach hinten verdreht.
So als wollte er zurückschauen, -
so als wollte er uns noch etwas sagen.
Eine Blutlache breitete sich aus.
Der quittengelbe Vollmond spiegelte sich darin.
Ein paar Passanten, die zufällig vorbeikamen starrten auf das Bündel Mensch.
„Schaut euch den an.
Wahrscheinlich besoffen,“
sagte einer – der es ja wissen musste.
Zum Glück war der Notdienst schon nach zwei Minuten da.
Aber für Knappersbusch kam offensichtlich jede Hilfe zu spät.
Sie sahen, das der junge Mann schon tot war.
Der junge Notarzt diagnostizierte:
„Vermutlich Genickbruch, bestimmt auch Schädelfraktur.
Aber wegen der schweren Kopf- und Gesichtsverletzungen, wegen dem vielen Blut – kann ich es nicht mit Bestimmtheit sagen.“
„Wir bringen ihn zur Notaufnahme!“
Sie hatten, das was von Knappersbusch übriggeblieben war
auf der Krankenbahre festgeschnallt.
Seine Gesichtzüge, seine Todesangst - konnte man nicht mehr erkennen.
Aber es war ein bedrückendes Bild:
„Ein Haupt voll Blut und Wunden“,
und das ausgerechnet am Karfreitag; - so eine blutige Sauerei“,
bemerkte der diensthabende Krankenpfleger der Unfallstation.
„Lasst ihn hier liegen, ich hole Dr. Kress“.
Der junge Notarzt wartete auf seinen erfahrenen Kollegen.
Es war seine erste Leiche heute;
und hoffentlich auch die letzte.
Jüngere Kollegen bewunderten Kress.
Fachkompetent und jovial.
Und kein bisschen Standesdünkel.
„Was haben wir denn da?“
Der Jüngere berichtete im Telegrammstil:
„Autounfall, letaler Ausgang.
Die Polizei kümmert sich gerade um den Fahrer.
Vermutlich Trunkenheit am Steuer.“
Kress kratze sich am Kinn,
schob das weiße Leintuch vom Gesicht des Unfallopfers,
zog das Augenlid nach unten,
ein kurzer Reflextest mit der Stablampe.
Dann das Urteil:
„Nichts mehr zu machen, Herr Kollege, -
da kommt alle ärztliche Kunst zu spät!“
„Kommen Sie mit hoch, - in mein Büro, dort können wir den Totenschein
fertig machen.
Um die Feststellung der Personalien, und der Benachrichtigung der Angehörigen
... und den anderen Schnickschnack, - können Sie sich ja später kümmern.
„Einen Kognak, Herr Kollege; - zur Feier des Tages?
Am Sonntag ist doch Ostern, nicht wahr?“
Der junge Notarzt genoss die beruhigende Wirkung des Weinbrands, der bernsteinfarben im Neonlicht glänzte.
Kress rauchte.
Er wirkte konzentriert als der die Krankenkarte und den Totenschein ausstellte.
Die Zeilen mit den persönlichen Daten,
Name, Alter, Wohnort, etc., lies er frei.
Darum würde sich der Assistenzarzt kümmern.
„Schauen Sie, wieder einmal hat das Schicksal blind zugeschlagen:
Der Kerl da unten, wurde mitten aus dem Leben gerissen.
Der Statur nach war das Unfallopfer bestimmt nicht älter als dreißig!
Der Tod kam für ihn bestimmt unvorbereitet und überraschend.
In dem Alter macht man sich um so was keine Gedanken ...
Dr. Kress schmunzelte,
„Ich zeige ihnen mal was.“
Gönnerisch warf er einen Laborbericht über den Schreibtisch.
„Lesen Sie Herr Kollege!“
Der Kognak machte gute Laune!
„War doch dieser Patient heute Abend bei mir.“
Mit dem Finger zeigte er auf das Krankenblatt
„Nötigte mir am Telefon einen Termin ab.
Hat es ganz dringend gemacht,
dieser Knappenheimer, Knappschrecker, oder wie er heißt!“
„Knappersbusch!“
Verbesserte ihn der junge Kollege und las weiter.
„Sie sehen es ja selbst“, dozierte Kress.
Leichte Reizung der Magenschleimhaut. – Sonst nichts; - nichts auffälliges!
Und da textet mich dieser Kerl eine Stunde voll,
jammert und faselt von Magenkrebs.
Sonst haben diese Leute keine Probleme!“
Der Assistenzarzt hatte den Laborbericht zuende gelesen
und nickte zustimmend.
„Na, ja – leicht haben wir es nicht“, stöhnte Kress,
erhob sich und legte seine Hand kollegial auf die Schulter des jungen Arztes.
„Ce la vie! Mein Guter!
Der Eine wird vom Schicksal auserwählt, obwohl der noch das ganze Leben vor sich hätte
und wird so mir – nichts, dir nichts - vom Auto überfahren,
der Andere jedoch, obwohl kerngesund – bildet sich weiß Gott was ein,
macht Panik – und lebt noch fünfzig Jahre weiter!
Oder wie heißt es in einem alten Gebet der Kirche:
„Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen!“
„Wissen Sie, was ich an Ihnen am meisten bewundere, Herr Dr. Kress?
Es ist Ihre humanistische Bildung, - einfach beneidenswert!“
Kress schmunzelte, trank den letzten Schluck Kognak im Stehen und ging aus dem Zimmer;
- kurz wandte er sich noch einmal um:
„Machen Sie noch das Licht aus, Herr Kollege?“
„... Und dann .... Frohe Ostern;“
„Danke gleichfalls.“