Alles im Fluß? Über Mauern im Kopf und anderswo

Essay zum Thema Freiheit/ Unfreiheit

von  Momo

Es gibt Mauern, die sind unsichtbar und andere, die nicht zu übersehen sind. Letztere werden extra zu dem Zweck gebaut, sich entweder etwas vom Leibe zu halten, mit dem man nichts zu tun haben möchte oder etwas zu behalten, was sonst entschwinden würde. Während erstere immateriell existieren, kommen letztere überwiegend materiell vor, wobei die Grenzen allerdings fließend sind. Es kommt vor, dass die materielle Mauer nur die geistige zum Ausdruck bringt, während die geistige Mauer, die sich in keiner Form materialisiert, oft bestrebt ist sich aufzulösen bzw. abgerissen zu werden.
Mauern werden errichtet, um das Unerwünschte vom Gewünschten zu trennen. Mauern sollen schützen und bewehren, das ist unbestritten, jedoch ist ihre Wirkung äußerst ambivalent. Wenn sie etwas schützen, grenzen sie auch ein, schirmen ab und isolieren das eine vom anderen.
So kann es vorkommen, dass unter dem wachsenden Druck der Isolation und der Unwissenheit, die mit ihr einhergeht, der Wunsch entsteht, die Mauer durchlässiger, kleiner zu machen, um sie schließlich eines Tages ganz abzureißen. Doch Vorsicht ist geboten.
Die größere Freiheit kann Fallstricke bergen, wenn mit dem größeren Terrain auch ehemals Unerwünschtes sichtbar wird.
Ist die Mauer erst einmal niedergerissen, verbindet sich unwiderruflich das, was ehemals getrennt war.

Die neue Sicht gibt den Blick frei auf eine möglicherweise unermessliche unbekannte Weite, die mutig durchschritten werden will. Sie führt Fremdes und Vertrautes, Schönes und
Hässliches, Krankes und Gesundes, Starres und Lebendiges zusammen. Es ist offensichtlich, dass unter diesen neuen Bedingungen nichts mehr bleiben kann wie es war. Der Abriss einer Mauer führt zu Veränderungen.
Wo ehemals eine Grenze den freien Fluss behinderte, was zu Stagnation, Starre und Bewegungslosigkeit führte, kommen die Dinge nun wieder in Fluss. Der Blick kann schweifen, die Gedanken machen sich auf zu fernen Ufern und neue Ziele werden sichtbar, wenn da nicht noch die unerwünschten Kleinigkeiten wären, weshalb die Mauer ja ehedem errichtet worden war. Auch diese haben nun mit dem Niederriss der Mauer ihre Freiheit erlangt. Sie fristen nun nicht mehr ein Mauerblümchendasein, sondern fordern ihr Recht als vollwertige Teile der Realität.
Ob diese sich nun als individuelle Komplexe,  als soziokulturelle Randerscheinungen oder als Asylbewerber manifestieren, ohne den Schutz einer Mauer muss man sich mit ihnen auseinandersetzen.

So ist ein Freiheitsbegriff nur zu denken im Zusammenspiel zwischen Gewünschtem und Unerwünschtem., zwischen mir und den anderen, Fremdem und Vertrautem, Reichtum und Armut. Einen erweiterten Horizont, eine tolerante multikulturelle Gesellschaft kann es nur geben, wenn die Bereitschaft da ist, bisher nicht Wahrgenommenes und Verdrängtes anzuschauen, um in der Auseinandersetzung mit deren Inhalten sich diesen anzunähern und sie irgendwann einmal anzunehmen. Für das Individuum als Repräsentant der Gesellschaft wie auch für das komplexe Gebilde einer ganzen Gesellschaftsform bedeutet es
zum einen den Weg der Individuation und zum anderen den Mut, den Finger auf eine offene Wunde zu legen und Fehlentwicklungen aufgrund von illusionären Idealen zu benennen, um Vernunft gesteuerte neue gesamtgesellschaftliche Ziele zu entwickeln.

In einer globalisierten hoch industrialisierten Welt, in der es für das Kapital keine Grenzen mehr gibt und in der die Spielregeln der kapitalistischen Marktwirtschaft in allen Bereichen das menschliche Miteinander zu bestimmen scheinen ist es unerlässlich, sich dem Schatten zu stellen, den unsere Art zu leben wirft, um einen dauerhaften Weltfrieden zu gewährleisten.

Solange aber ängstlich in einem falschen Sicherheitsdenken alte Mauern aufrechterhalten werden, die nur den eigenen Blick widerspiegeln, ist weder im individuellen noch im gesellschaftlichen Bereich ein Aufbruch zu neuen Ufern möglich.
Wir müssen realisieren, dass die Mauern faktisch längst gefallen sind und Anpassung an die neue Situation Not tut statt beharrliches Kreisen um eigene Pfründe und Befindlichkeiten.
Der Blick muss gerichtet werden weg vom Eigennutz hin zu dem Anderen, mit dem wir in einer offenen Welt in Frieden leben möchten. Wenn nur dem Kapital erlaubt ist, frei zu fließen, den meisten Menschen aber, die die Folgen zu tragen haben, diese Freiheit verwehrt wird, muss es zu einer Verzerrung und zu einem ungesunden Ungleichgewicht der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen kommen. Alle Menschen, die daraus kurzfristig ihren Nutzen ziehen ohne bereit zu sein, sich verantwortlich zu fühlen für die daraus resultierende ökonomische und ökologische Schieflage, werden für ihre Unbeweglichkeit bezahlen müssen. Um es mit Brecht zu sagen: „Daß das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.“

Es ist, als hätte der Mensch mit den Geistern, die er rief, etwas freigesetzt, das ein Eigenleben, eine eigene Dynamik entwickelt hat. Geld, das so genannte Kapital, scheint eine magische Macht zu besitzen, insofern alles, was mit ihm in Berührung kommt, verwandelt wird. Diese Verwandlung hat sich mittlerweile über den gesamten Globus erstreckt, das Bild der Erde verwandelt und das Denken der Menschen verändert. Seine Macht  speist sich aus den ungeheuren Energien, die darauf verwendet werden, das Kapital zu erhalten und zu vermehren.
Die Entwicklung des Geldes und die sittlich geistige Entwicklung des Menschen scheinen umgekehrt reziprok zu verlaufen. Die wachsende Macht des einen geht mit einer zunehmenden Dekadenz des anderen einher. Und nicht nur das. Die wachsende Freiheit bzw. Entfesselung des Kapitals scheint eine mangelnde Kreativität im Denken der Menschen zur Folge zu haben. Es fällt auf, dass sich in öffentlichen Medien so genannte Repräsentanten des Volkes immer öfter in stupiden Argumentationsmustern, die übrigens fast immer der Logik des Geldes folgen, und leeren Floskeln ergehen.

Nur wenn der schreckliche Geist aus der Flasche als solcher erkannt wird, wird ihm Einhalt geboten werden können. Bisher ist es allen aber noch nicht aufgegangen, dass es ihn gibt geschweige denn, dass er frei ist.
So ist denn alles im Fluss bis auf die paar Kleinigkeiten.

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