Maurice

Kurzprosa zum Thema Annäherung

von  souldeep

Illustration zum Text
Gegenüber
(von souldeep)
lV

Manchmal, wenn sie halbnackt auf der schmuddeligen
Matratze lag, die ihr gerade als Bett diente, fühlte sie
einen unerklärlichen Schmerz in ihrem Körper.
Dieser Körper, der ihr noch nie vertraut oder gar lieb
geworden war. Er war immer nur Strafe.
Deshalb schnitt sie sich manchmal ins eigene Fleisch mit
diesem alten Messer, welches sie vor Jahren aus einer
Mülltonne ergattert hatte. Es war so sehr benutzt, dass die
Klinge mittlerweile ganz klein erschien, durch das unzählige
Schleifen, im Vergleich zum Knauf. Doch Angelina hatte aus
einem alten Stück Leder eine praktische Scheide genäht, die sie
jetzt an ihren Strümpfen oder am Rockgürtel befestigen konnte.
Mit den Nieten sah es einfach Hammer aus, fand sie.

Kühl und zuverlässig, klar und scharf schnitt die Klinge
jeweils in ihr festes, feinhäutiges Stück Aussenhülle an den
Unterarmen… Weil sie dies aber selten tat, stellte sie sich
danach auch damit zur Schau. Sie trug dann ein Shirt mit
Spaghetti-Trägern und liess das Blut ungehindert an den
Armen entlang tropfen, bis es gerann. Ab und zu verschmierte
sie auch ihr Gesicht damit.
Die Leute auf der Strasse, die ihr begegneten waren
immer schockiert und blickten oft besorgt weg.
Meist hatte das Mädchen noch eine Flasche Gin oder Vodka
in einer Hand und dunkle Schminke –mehr als sonst- und eine
verfilzte Frisur. So zeigte sie, dass sie nicht nur anderen
zur Last fallen konnte, sondern auch sich selbst für ihr
unzulängliches Sein bestrafen wollte.
In solchen Phasen sprach sie kaum ein Wort, und das
zog sich manchmal bis zu einer Woche hin oder länger.
Sie schlief fast den ganzen Tag im leer stehenden Haus,
das wohl bald abgerissen werden sollte.
Gegen Abend, bevor der Feierabendverkehr die Stadt mit
Abgasen und Dröhnen erfüllte, schlich sie sich raus, um etwas
Essbares aufzutreiben.
Dabei traf sie dann und wann andere dunkle Gestalten,
die ebenfalls auf der Strasse ihr Leben verbrachten.
Mit der Zeit kannten sie einander – auch ohne sich wirklich
kennen zu lernen. Alles wortkarge Menschen mit düsteren
Geschichten. Ein jeder am Überleben…
Manchmal stritten sie sich um ihre Funde, um Schlafplätze,
Alkohol und anderes. Angelina hatte jedoch kaum Kontakt mit ihnen.

Einmal kam ein junger Mann, kaum achzehn, mit einem Stück
Torte auf sie zu, lächelte sie an und bot ihr von seinem
Reichtum an. Dem Zauber des gebenden Augenblicks
geradezu verfallen, öffnete Angelina ihren Mund und liess
sich einfach füttern von Maurice. Er hatte so sanfte Augen…
wie mit einem bleichen Schleier beschattet und sein Mund zog
sie fast magisch an. Er verstand es, nicht nur diese süsse Torte
darzubieten, sondern flüsterte unentwegt zarte Dinge in
ihrer Anwesenheit. Wie ein Kind, das mit einem Einhorn
spricht, dachte das Mädchen.

Erst als Maurice in jener Nacht, nachdem der süsse Kuchen
alle war, ihre Lippen kosten wollte und gleichzeitig ihre Brüste
sanft liebkoste, spürte Angelina zum ersten Mal in ihrem Leben,
dass dieser unendlich scheinende körperliche Schmerz,
welcher sie wie eine Folter immer und immer wieder heimsuchte,
eine neue Dimension erhalten könnte…

Maurice war kein schlechter Mensch. Er war einfach auch eine
einsame kranke Seele und ein geschundener
Körper.
So suchte er ebenfalls Verständnis und Liebe, wie sie alle,
die sie die Normen der Gesellschaft mit schmutzigen Füssen traten.
Auf eine ehrlichere Weise wie viele andere.

In den liebevollen Dingen hatte keiner von ihnen gute
Vorbilder gehabt.
Was sich jedoch zwischen den beiden jungen Menschen
entspann, war eine rührende Werbezeit und Romanze.
Angelina dachte an ihre um einige Jahre ältere Schwester
zurück, die damals, ersten Freund lange Nächte in- und ausserhalb
des Elternhauses verbrachte. Was damals uninteressant
und höchstens eklig auf die Kleine gewirkt hatte, war heute
brisant!
Am eigenen Körper dieses Kribbeln, diese abertausend
hauchzarter flügeliger Insekten zu erleben, das war mitunter
das Grösste, was Angelina jemals an angehemen Gefühlen
zuteil geworden war.

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Kommentare zu diesem Text

Balu (57)
(21.06.07)
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 souldeep meinte dazu am 21.06.07:
wieder schenkst du mir deinen tiefblick, guter bär,
und ich lasse mich gerne erneut in jene welt begleiten,
wo angelina lebt und waltet...

hab dank, lieber balu, für dein so intensives mitgehen,
das tut gut!

:)))
kirsten
(Antwort korrigiert am 22.06.2007)

 rela (22.06.07)
Dieser Abschnitt der Erzählung klärt nun einige meiner
nicht ausgesprochenen Gedankengänge auf. Angelina
hat das Borderline-Syndrom. Ich hatte nur ein einziges Mal
persönliche Berührung mit einem jungen Menschen, der
darunter litt und diese Neigung zu verstecken versuchte.
Viel zu wenig kenne ich mich mit diesem Thema aus. Die
Hauptfigur Deiner Geschickte zeigt ihre Verletzungen offen.
Mir scheint es ein sehr grosser Hilfeschrei zu sein.
Doch von wem soll sie Hilfe erwarten?. Dass sie offenbar
auf der Strasse lebt und den Gegebenheiten eines solchen
Lebens ausgesetzt ist, macht die Sache noch schwerer.
Dann kommt ein junger Mann ins Spiel der ihr so etwas wie
Zuneigung entgegenbringt. Selbst ein Mensch ohne wirkliche
Chancen. Ich sehe da wenig Hoffnung für ein Happy End.
Dennoch würde ich Angelina wünschen zu erfahren, dass
es noch andere Gefühle gibt als Schmerz. Vielleicht können die beiden jungen Menschen ja etwas voneinander lernen.
Lasse mich gerne Überraschen, welches weitere Schicksal die
Erzählerin ihrer Hauptfigur zugedacht hat. LG Rela

 souldeep antwortete darauf am 23.06.07:
du sprichst vieles an, liebe Rela, was ich angedeutet habe - ich will
mich aber nicht festlegen. viel eher möchte ich wirklich skizzen machen,
denn wer vermag schon wirklich und ganz hinter die fassade oder das
tun eines menschen zu blicken?
hab dank, dass du es trotzdem versuchst - ich ja auch.
ja, es schürt hoffnung und befürchtung im selben atemzug, nicht wahr?!

danke von herzen,
kirsten
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