Die Bündelfrau

Kurzprosa zum Thema Wahrhaftigkeit

von  souldeep

Illustration zum Text
Wenn sie erzählt...
(von souldeep)
.

Mit ihren vielen Packen, die sie ringsum an ihrem Körper angehängt hat, erinnert sie
an eine Lastenträgerin aus dem letzten Jahrhundert. Ihr Blick liegt in tiefen Höhlen verborgen
und in ihrem Gesicht herrscht gleichzeitig namenloser Schatten, wie auch heimliches Lächeln.
Dunkle Haut bettet ihre Glieder in einen warmen Ton, die weichen Falten, welche sie
beherbergt, machen ihre Person zu einer Landkarte aus Geschichten vergangener Zeiten.
Ihre Hände sind immer mit irgendwas beschäftigt, sie tasten nach den kleinen Gürteln und
Schnüren, mit welchen die unterschiedlichen Bündel an ihr festgezurrt sind.
Ständig kontrolliert sie, ob auch jedes einzelne Stück hält.
So habe ich sie schon viele Male an jener Ecke stehen sehen.

Ihr Gang ist schwer und bedächtig – man möchte meinen, sie würde bald unter ihrer
Last zusammenbrechen oder zumindest eine lange Pause brauchen.
Fragt man sie, was sie denn alles mit sich schleppe, erntet man einen etwas erbosten
Blick, so wie Mütter ihre Kinder mit ihren sonst liebenden Augen strafen, wo diese
doch genau wissen, dass ihr Gebettel unnütz ist.  Blieb man hartnäckig und fragte noch
einmal etwas rücksichtsvoller und interessierter nach, bekam man folgende Antwort:
Ja, was glaubst du denn? Ich kann nichts dafür, dass es so viele sind. Sie werden mit
dem Lauf der Jahre einfach wie von selbst mehr…

Wer ihr in diesem Moment ein Lächeln schenkt und ihr bedeutet, sich an den nächsten
Bistrotisch zu setzen, ihr etwas zu essen und zu trinken anbietet, der kann sich auf
spannende Geschehnisse einlassen. Sie wird sich leise seufzend niederlassen,
erst einige Augenblicke einfach sitzen, den Atem beruhigen und mit dem Blick in die Ferne
schweifen. Dann bringt die Bedienung das verführerisch duftende Essen und die
Getränke und die Frau wird genüsslich alles einverleiben – ohne nur einmal an ihre
Packen zu denken.

Ist das Geschirr weggeräumt, wird das Dunkel dieser Augen der Frau sich lange und
ausgiebig mit dem Gegenüber beschäftigen, sodass man das Gefühl hat, sie würde einen
erstmals wahrnehmen und in Einzelteile zerlegen – nein, nicht seziererisch, sondern in
einer sommerlich-glühenden Art. So, als könnte sie im Innern des anderen wandern und
lächelnd begutachten, woraus dieses Gegenüber besteht.

Dann wird man, mittlerweile etwas ungeduldig, die Frage wiederholen.

Achja…, wird sie seufzen, die Bündel. Die sind so wichtig, das sind alles Sorgen und
Probleme von anderen und um Menschen, die ich kenne und im Herzen trage.
Da! Zum Beispiel, (hier wird sie einen braunen, speckig aussehenden Lederbeutel
von der Seite nach vorn zerren,) das ist ein Missbrauch von einem Vater an seiner Tochter.
Er hat ihn nicht sexuell ausgeführt; mit seinem übergriffigen Verhalten hat er einfach ihren
Verstand und ihr Talent, sowie ihre kindliche Unwissenheit missbraucht.
Er machte sie zu seiner Vertrauten.

Und in diesem grossen schweren Sack, da liegen all die losen Liebschaften, die wie welke
Blätter sind und niemals fruchten können. Egoistisches befriedigen an anderen
Menschen, ein Wegrennen vor den eigenen Gründen, ein Betrügen von Partnern
und eigener, wie fremder Würde mit dem Zuschütten wahrer Bedürfnisse…

Hier wird der Mund der Frau etwas trocken wirken und man wünscht, eine Flasche Wasser
zu einer Kanne Rotwein zu bestellen, denn der Abend legt sich müde auf die Dächer und
die Stimmung ist grad so gut, dass es keines Unterbruchs mehr bedarf, die Erzählungen
sollen weiter gehen wie eine lange Wanderung an einem lauen Herbsttag.

Ein Päckchen, das ehemals weiss gewesen sein mochte, dreht die Frau oft mit den weichen,
zarten Fingern ihrer Linken, ganz unbewusst und in eine wehmütige Innenschau versunken.
Da wird man nachfragen müssen, was es auf sich habe, mit diesem kleinen Etwas…und sie
wird eine Träne im Augenwinkel mit der Rechten hinfort wischen, um dann zu antworten,
es sei ein kleines Ungeborenes. Es wäre ein goldenes Kind gewesen, sagt sie.
Eines, das im Moment purer Liebe entstanden sei, als Verschmelzung von Frau und
Mann, es habe jedoch nicht leben dürfen, weil sonst eine ganze Familie, die schon bestand,
daran zerbrochen wäre… Also musste das Goldkind seinen Weg zurückgehen, den es eben
erst gekommen war. Im Innern des schmutzig weissen Bündels liegt ein zarter Haufen
kleiner Samenschirmchen, jene grossen, die ungeahnt weit fliegen können, so filigran sie
auch sind. Eine Feder, auf deren reinem Weiss eine Tränenperle zu schimmern scheint,
und eine Kastanie liegen daneben.
Äusserst zärtlich streicht sie mit dem Zeigefinger nochmals
über die Kostbarkeiten, nimmt
eines der Schirmchen vorsichtig heraus, hebt es soweit ihr Arm reicht in die Höhe, flüstert
etwas Unverständliches, steht auf und pustet den Samen in den Wind, verschliesst den Beutel
dann zärtlich mit dem schmalen goldenen Band. Ein heiseres Husten wird diese Szene beschliessen.
Man möchte gerne trösten – und wüsste doch nicht wie…

Viele der geschnürten Dinger werden hervorgekramt, aufgemacht, gezeigt, besprochen.
Viel Elend, dunkle Abgründe, Trauer in allen Facetten und ein paar tragische Liebesgeschichten
sind dabei.

Die Nacht ist schon hereingebrochen und zum Sitzen im Freien ist es längst zu kalt geworden,
weshalb man an einen gemütlichen Tisch im Innern des Restaurants gewechselt hat.

Die Frau öffnet bedächtig einen dunklen herben Stoff, den sie oberhalb ihres Bauches trägt
und zeigt den Inhalt mit einer verschwörerischen Miene. Man wird sich wundern und doch
neugierig, mit einem etwas klammen Gefühl, den Inhalt ertasten, so, wie sie es erwartet.
Es ist nichts drin.
Verwirrt hält man einen Augenblick inne und fragt dann zögerlich, was es denn sei,
was sie hier zeigen wolle. Sie wird antworten, es sei die Angst. Jene Angst, die in allen
Menschen  Nahrung findet, die sich lautlos und bei jeder Tages- und Nachtzeit in die
Gedanken, ins Herz und ins Fleisch nistet. Sie wird wissend lächeln und sagen, du hast es
doch gespürt, bevor du hinein gelangt  hast, nicht wahr? Ein kleiner Anflug von Furcht, eine
winzige Spur von Angst, die sich bereits an dich geklammert hatte.
Man wird betreten nicken und sie fragen, warum sie diesen Beutel denn mit sich trage.
Die Antwort kommt erst nach einer Weile, sodass man Zeit für eigenes Denken hat.
Der Schatten in ihrem Gesicht wird mit einem Mal wieder sichtbar und sie flüstert,
dass es wichtig sei, die Ängste zu kennen und zu benennen, damit man sie dann bannen könne.
Sie würde dann und wann dies für andere Menschen tun, die weder Kraft noch Hoffnung hätten,
sich selbst gegen ihre riesenhaften Ängste zu wehren. Dann müsste sie diese bannen und für
eine lange Zeit im Beutel tragen.

Eine dunkle Stille wird sich über beide Menschen senken, die vielleicht vom hellen Lachen
einer jungen Frau durchbrochen wird.
Erleichtert über diese Veränderung wird die Frau noch einmal von der linken Seite ihres Ballastes
einen roten, wie neu glänzenden kleinen Ballen hervor zupfen und dann geöffnet hinhalten.
Dort wird in den vielen Farben des Regenbogens ein Spiegel eingenäht sein, und darin erkennt
man natürlich sich selbst.
Es wird einen Augenblick der Stille geben, eine wohltuende Stille, die den Raum füllt.
Die Frau wird mit ihrer warmen Stimme einige Zeilen eines tief berührenden Gedichtes aufsagen,
welches die Einmaligkeit des Wesens im Spiegel besingt und dankend beschreibt.

Nach diesem ausgedehnten Moment wird ein Seufzer sich ihrer alten Kehle entringen,
ein Lächeln alle Schatten hinfort wehen und sie wird aufstehen, mit einem letzten
gutmütigen Blick dieses Begegnen beschliessen und weggehen, ohne ein weiteres Wort.



Man wird sich nicht erinnern, wie die Zeilen jenes zauberhaften Gedichtes lauteten –
nur deren Wirkung wird man gleich einer unvergesslichen Melodie im Herzen mitnehmen…



Randvoll mit Bildern, Empfindungen und Worten stehe ich auf, reisse mich innerlich davon los,
verabschiede mich in Gedanken von der Dame in weiss, die dort am Bahnhof schon seit vielen
Jahren haust und steige in meinen Zug südwärts.

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Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(17.11.07)
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 souldeep meinte dazu am 17.11.07:
Da freu ich mich, dass du überhaupt da warst, und es in dich
gelassen hast, liebe Gerda.
Deine Spuren sagen mir etwas und ich freue mich sehr darüber!

:)
herzvoll
Kirsten

 franky (17.11.07)
Hey liebe Kirsten,

Es ist fast ein Theaterstück für zwei Personen.
Spannend und lebensnah werden Bündel für Bündel geöffnet, stets neugierig was nun kommen wird.
Eine ganz tolle Geschichte die wahrlich ihre Spuren zeichnet. Solche Momente tragen Lösungsmöglichkeiten in sich, wenn man den Fragen und Sorgen auf den Grund geht.
Schicke dir einen herzlichen Gruss übern Berg, momentan in helles Sonnenlicht getaucht, es reicht bis zu dir
Franky:()))

 souldeep antwortete darauf am 17.11.07:
ja, lieber franky, es war ein schauspiel, das stimmt...
dass du dich neugierig hineingegeben hast, das freut mich
sehr. deine sicht ist der meinen sehr nahe, welche mich
zum schreiben brachte...
es gäbe noch einiges dazu zu sagen...aber das ist was für
ein mündliches gespräch.
:)))

liebe grüsse auch dir in deine nacht...
kirsten
:)

 Isaban (17.11.07)
Gut ist sie, deine Geschichte, nimmt einen in ihrem geruhsamen Stil gefangen und irgendwo zwischen deinen Zeilen wird man auch sich wiederfinden.

Liebe Grüße, Kirsten.
Sabine

 souldeep schrieb daraufhin am 17.11.07:
von dir empfinde ich das als ein spezielles lob, liebe sabine.
hab ganz herzlichen dank und freudige grüsse gen norden,
kirsten
:)
Balu (57)
(17.11.07)
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 souldeep äußerte darauf am 17.11.07:
verehrter herr baluderbär,
das stimmt, dass nicht nur das kind in einem wohnend beachtung
verdient, sondern ebenso der oder die alte weise.
:)
fein, wie du das so herausschälst. mir tut das gut als rückmeldung.

sei lieb gegrüsst
kirsten

(schau, da flattert ein rosa engelchen um dich...du weisst, rosa heilt.)
:)))

 Traumreisende (18.11.07)
jetzt geb ich dir mal ein kompliment zurück, DU schreitest da auch sehr tief auf neuen wegen ud ich bin ungeheuer beindruckt wie weit jetzt das spektrum ist. in welche richtungen du schaust, und gerade so eine geschichte weist auf einem menschen der betrachtet und weit unter die oberfläche sieht, von unserer freundschaft weis ich das schon lange!!!

dir ganz liebe grüße
silvi

 souldeep ergänzte dazu am 18.11.07:
das, meine liebe, ist mir ein geschenk.
eines, das ich hüten werde und dankend
grüsse ich zurück,

von herzen,
kirsten
:)))
AugenBlick (32)
(19.11.07)
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 souldeep meinte dazu am 19.11.07:
:)))

das freut mich innig, liebe Christiane - es gibt immer bilder, worte,
ideen, formen, etc, die mensch aus dem all pflücken kann...oder
eben geschenkt bekommt.

:))))
von herzen
kirsten
Herzwärmegefühl (53)
(19.11.07)
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 souldeep meinte dazu am 19.11.07:
dass du es innen gemalt fühlst, auf zarteste weise, das ist mir ein
sehr feines kompliment, das ich hüte...

:)))
herzensdank dir
kirsten
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