Lutz aus Anderwelt

Reportage zum Thema Arbeit und Beruf

von  apocalyptica

Lutz ist achtundvierzig Jahre alt. Er ist nicht das, was man gemeinhin als intelligent bezeichnet, aber er ist auch alles andere als dumm. Er hat Erfahrungen, Lebenserfahrungen, die ihn reich machen. Lutz ist  Schäfer, Schafhirte. Mit Leib und Seele, seit vierunddreißig Jahren.

Er hat diesen Beruf von der Pieke auf gelernt. Mit vierzehn Jahren wurde Lutz aus der Volksschule entlassen und ging dann zu einem Schäfer in die Lehre, drei Jahre lang. Er lernte, die Schafe zu hüten. Sie zu scheren. Sie zu treiben.  Er wurde gleichzeitig zum Arzt und Geburtshelfer für die Tiere.

Von seinem Lehrherren übernahm er die erste eigene Herde und zog mit ihr über Land. Verkaufte Lämmer, verkaufte Wolle. Er selbst hat nie ein Lammkotelett gegessen und er denkt auch ungern den Gedanken zu Ende, was wohl mit den Lämmern geschieht, die er verkauft, um seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können. So manches Tier hat er mit der Flasche großgezogen und es ist ihm nicht immer gelungen, keine persönliche Bindung aufzubauen.

Der Handel mit der Wolle, ein ehemals lukratives  Geschäft, rechnet sich schon seit Jahren nicht mehr. Sicher könnte Lutz seine Tiere selbst scheren, aber er wäre damit viele Wochen beschäftigt. Die Schafscherer, die aus Neuseeland kommend in Europa über Land ziehen und sich verdingen, haben letzte Woche für seine Herde, die inzwischen auf über tausend Schafe angewachsen ist, einen einzigen Tag benötigt und dafür zwölfhundert Euro bekommen. Teils in Wolle, teils in bar. Zwei Groschen für ein Kilo Schafwolle, sagt Lutz. Davon kann man nicht leben.

Vor einigen Jahren hatte Lutz eine Wohnung gemietet, irgendwo in Ostbayern, er weiß heute nicht mehr, wo genau das war. Er hat dort nie wirklich gewohnt. Sein Zuhause ist ein alter, abgetakelter Wohnwagen, den er mit einem ebenso alten PKW über Land zieht. Er stellt ihn dort ab, wo er für seine Herde saftige Weiden findet und holt die Tiere dann nach, natürlich zu Fuß, zu Huf. Bis dahin sind seine vier Hunde die Wächter, sie haben die Herde voll im Griff und sind zuverlässig. Vielleicht zuverlässiger als manche Menschen, denn sie kennen ihre Aufgabe und geben keine Widerworte.

Lutz ist kräftig und muskulös, seine Haut ist vom Wetter gegerbt. Er hat lange, lockige Haare, trägt einen wollenen Mantel und seinen Hirtenstab. Er erinnert mich unweigerlich an ein Bild aus meiner damaligen Kinderbibel, der Hirte.

Er ist kein Aussteiger, vielleicht ist er auch nie eingestiegen. Er kennt kein anderes Leben als das des Wanderhirten. Er ist  nicht obdachlos, wenngleich er auch nicht sesshaft ist.  Lutz ist anders. Woran mag er wohl denken, wenn er abends auf der Weide allein an seinem Feuer sitzt?

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (20.05.08)
War gerade in Wien bei einer lesung zur Arbeitswelt. Dein text hätte auch gut gepasst. Ich kenne Schäfer als Naturschützer. Sie halten mit ihren Schafen Flächen frei, die sonst längst wieder bewaldet wären. Sie machen sich Gedanken über Gott und die Welt, vor allem abends am Feuer. LG

 apocalyptica meinte dazu am 20.05.08:
Danke, lieber Armin, auch für deine Stellungnahme.
Ich treffe Lutz häufig abends, wenn ich mit meinem Hund über die Wiese wandere. Er wird von vielen Leuten verlacht, teilweise sogar verachtet für sein Leben. Dafür habe ich wenig Verständnis. Er ist anders als viele andere Menschen, aber deshalb ist er kein schlechterer als sie.
Wahrscheinlich ist er sogar der bessere, der glücklichere, der zufriedenere Mensch. Schon mehrfach habe ich beobachten dürfen, wie seine Schafe ihre Lämmer zur Welt brachten und wie er den "Kindergarten" betreut. Das ist noch wirklich ein Stück heile Welt!
Herzliche Grüße von der Bea.

 Traumreisende (20.05.08)
vielleicht weil wir ganz oft in unserem streß danach sehnen und es nicht schaffen auf der eigene auszubrechen, ist es dennoch eine anderwelt, oh nein, eine sehr nahe, aber...

die sache mit der wohnung, vielleicht da ein hatte...?? das hat mehr vom abschluss drin??

lg dir silvi

 apocalyptica antwortete darauf am 20.05.08:
stimmt, liebe Silvi, in jeder Beziehung! Danke und liebe Grüße dir von der Bea!
C.S.Steinberg (43)
(20.05.08)
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 apocalyptica schrieb daraufhin am 21.05.08:
Danke, liebe Cashim, für deinen verständnisvollen Kommentar! Ich gestehe, ich habe eigentlich auch immer gedacht, Schäfer sind die Aussteiger, die in der eigentlichen Welt nicht klarkommen und sich mal eine Auszeit nehmen, für eine Saison oder so, und dann froh sind, wenn sie wieder ins "Normale Leben" zurück finden.
Lutz hat mich eines Besseren belehrt, es geht also auch anders. Aber ich denke, der Preis, den er dafür zahlt, ist recht hoch, denn er wird tatsächlich als Außenseiter angesehen, belächelt, bemitleidet, teilweise sogar verachtet.
Trotzdem, die abendlichen Unterhaltungen mit ihm zeigen mir seine Welt, seine Einstellung, eine ungeheure Zufriedenheit. Davon können viele von uns nur träumen. Gut, was er tief innen drinnen fühlt, wird er mir wahrscheinlich nicht erzählen, aber ich glaube fast, er ist wirklich so glücklich und zufrieden wie er es sagt.
Herzliche Grüße in deinen Tag von der -bea =)
Cat (21)
(29.08.08)
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 RomanTikker (24.05.11)
Eine schöne Beschreibung - ich hatte Lutz vor Augen. War beim lesen gespannt, wie du das Ende pointierst - die Frage ist treffend gewählt und rundet die Reportage ab, gibt ihr ein Stückchen mehr Substanz. Ich mag deinen Text, weil er ganauso am Boden geblieben und unauffällig ist, wie Lutz; zwischen den Zeilen aber Einblicke gibt, die man auch mit vielen tollen Worten gewiss nicht besser hätte offenbaren können. Ein schöner Text für einen ruhigen Start in den Tag!

Das ist die Meinung eines Dilettanten, der noch nie Schafe gehütet hat.

Liebe Grüße, und "mäh": Roman

PS: Und wegen dir weiß mich jetzt auch, wie man "Dilettant" schreibt. Was für ein merkwürdiges Wort! ;o)
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