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Es war ein grauer Tag. Das heißt, für mich war es ein grauer Tag. Eigentlich hätte man zufrieden sein können, denn die Sonne strahlte von einem makellos blauen Himmel herab, aber das nahm ich nicht wahr. Ich wollte es nicht sehen und nicht fühlen, seitdem ich in meine depressive Stimmung verfallen war.
Mein bester Freund hatte mich verlassen, für immer verlassen. Zum ersten Mal seit Wochen kam ich wieder hierher zum Ufer des Flusses, an dem wir so viele behagliche Stunden gemeinsam verbracht hatten. Ich wusste, es würde mich zerreißen, aber andererseits war es auch an der Zeit für mich, das Unabänderliche zu akzeptieren.
Ich hockte mich auf die rund gewaschenen Kieselsteine und schaute auf das Wasser, das leise seiner Wege zog. Es beruhigte mich. Wie oft hatten wir hier gesessen und über Gott und die Welt philosophiert! Nun hing ich traurig und allein meinen trüben Gedanken nach. Die Erinnerungen überwältigten mich, sie taten weh, sehr weh.
Ein tuckerndes Boot auf dem Fluss lenkte mich plötzlich ab. Es war ein ferngesteuertes Modellboot und ein kleines Stück flussabwärts hörte ich ein paar Jungen streiten, wer die Lenkung übernehmen durfte. Wie unzufrieden die Kinder doch waren! Ich dachte an Paul, den kleinen Jungen mit dem viel zu großen Kopf auf den schmächtigen Schultern. Paul, der mir vor längerer Zeit am Schlossteich gezeigt hatte, wie glücklich man auch dann sein kann, wenn das Schicksal es nicht so gut mit einem selbst gemeint hat. Paul, der aus Zeitungspapier Schiffchen faltete, um sie dann auf dem Wasser dem sicheren Untergang preiszugeben. Paul, der Junge mit dem Down-Syndrom, den ich seither nie mehr wieder getroffen hatte.
Noch oft war ich zum Schloss gewandert, immer in der Hoffnung, ihm wieder zu begegnen. Vergebens. Wo mochte er sein? Ob es ihm gut ging, besser als mir? Wer weiß?!
Ich lehnte mich zurück und spürte, wie die warme Sonne meine Augen streichelte. Völlig in Gedanken versunken beobachtete ich, wie unzählige Schmetterlinge in der lauen Luft tanzten. Schmetterlinge…was hatten sie hier am Fluss verloren? Es gab weit und breit keine Blüten, nur verdorrendes Gras und Kieselsteine überall. Sie mussten sich verirrt haben. Plötzlich schreckte ich auf, als einer der Falter sich auf meiner Nasenspitze niederließ. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und hatte…eine Papierschwalbe in der Hand. Gefalzt aus einem weißen Papierbogen und über und über mit ungelenken Buntstiftstrichen bemalt.
Als ich aufblickte, sah ich in zwei himmelblaue Augen, die glücklich lächelten. Himmelblaue Augen, viel zu großer Kopf…Paul.
Überraschend jedoch verfinsterten sich die Augen für einen kurzen Moment. e-a ei… flüsterte Paul mit einer Zärtlichkeit in der Stimme, die ich ihm nicht zugetraut hätte, und mit einer unbeholfenen Geste wischte er mir eine Träne aus dem Gesicht. e-a ei! Bea weint? Oder meinte er ei, das alte Wort aus der Babysprache? Das war aber nun nicht mehr wichtig, entscheidend war Pauls liebevolles Bemühen, mich wieder fröhlich zu stimmen, und er gab sich redlich Mühe.
e-a, e-a! rief er immer wieder. e-a albe ign! albe ign! Und ich ließ die Schwalbe fliegen! Paul reichte mir die Hand und ich setzte mich auf, ich war noch etwas benommen, hatte wohl geschlafen. Um mich herum sah ich lauter Papiervögel liegen, ich musste sie im Traum für Schmetterlinge gehalten haben. Paul hatte mich damit wahrlich bombardiert, um mich aufzuwecken.
Er hüpfte über die Kiesel, so gut und flink er konnte, um alle Flieger einzusammeln. Dann legte er sie mir in den Schoß. e-a albe oos!
Eine Schwalbe nach der anderen warf ich hoch in die Luft, begleitet von Pauls aufgeregtem Geschrei. Er blickte skeptisch, wenn einer der Papierflieger sofort abstürzte, und er jubelte, wenn der Flug gelang. Eine Schwalbe, die im Sturzflug zu Boden fiel, nahm er auf und knickte das Papier noch weiter ein. Dabei ereiferte er sich wieder so sehr, dass er sich auf die Unterlippe biss. Erst nach vielen weiteren Startversuchen und Korrekturen war er zufrieden mit dem Ergebnis und strahlte über sein ganzes Gesicht.
Lange sah ich seine Augen glücklich leuchten, bis ich begriff, was Paul mir voraus hatte: er haderte nicht mit seinem Leben, er sog die Glücksmomente förmlich auf und wuchs daran. Selbst kleine Erfolge ermunterten ihn und er steckte nicht gleich den Kopf in den Sand, wenn etwas nicht sofort klappte. Er gab nicht auf.
Und plötzlich wusste ich, dass auch mein Leben weiter gehen würde, ich musste es nur zulassen. Die Vergangenheit akzeptieren und neugierig und erwartungsvoll in die Zukunft blicken. Die Tränen trocknen und wieder lernen zu lachen.
Als hätte Paul diese Veränderung in mir bemerkt, umfasste er plötzlich meine Hüften und lehnte seinen so schweren Kopf an mich. Er schaute zu mir hoch und zwinkerte mir zu. e-a, ieb, e-a, ieb!
Paul, du großer kleiner Junge, ich habe dich auch lieb. Du hättest das Recht, traurig zu sein, aber du zeigst mir, was glücklich sein ist.