Heute war wieder einer dieser Tage. Ich stand im schummerig-bequem beleuchteten Badezimmer und betrachtete mein Gesicht. Meistens sind es doch nur beiläufige Blicke. Sitzt die Frisur? Hat man etwas zwischen den Zähnen? Beiläufig fixierte Kontrollblicke eben. Manchmal betrachtet man sich jedoch einfach, nicht aus Narzissmus, sondern aus schierem Interesse. Ich weiß nicht wie lange es her ist, dass ich es das letzte Mal tat, aber es muss lang her gewesen sein. Heute jedoch schien mir wohl mal wieder danach gewesen zu sein.
Da stand ich also und betrachtete mich. Im Grunde hatte sich nicht viel verändert, wenn man davon absieht, dass ich schrecklich unrasiert war. Doch plötzlich machte ich eine Entdeckung. Nicht gerade die Art Entdeckung, die ein Christoph Kolumbus gemacht hat- das ist klar. Generell nicht gerade eine Entdeckung, über die man sich auch nur ansatzweise freuen könnte. Nein, ganz im Gegenteil. Was ich an diesem vergrauten Nachmittag in dem Lichte der Badezimmerlampe entdeckte, verschlug mir den Atem. Ich entdeckte komische Linien, die sich scheinbar nach einem bestimmten Muster über mein Gesicht ausbreiteten.
Gut, ich muss zugeben, ich neige zu Theatralik, aber das Entsetzen, das mir der Typ im Spiegel entgegenwarf, entsetzte mich irgendwie. Mit analytischem Sachverstand versuchte ich dem ruhig und besonnen auf den Grund zu gehen: WAS ZUR HÖLLE?! Meine Augen waren weit aufgerissen, in etwa so wie wohl die Augen eines Rehs aussehen müssen, das nachts gemütlich die Landstraße überqueren möchte und plötzlich vom Dröhnen und dem heran rasenden Frontlicht eines 7-Tonners überrascht wird. Was mich da so entsetzte, war erstaunlicherweise nicht die frappierende Ähnlichkeit mit den Blicken eines imaginären Rehs, es waren die Ansätze von diesen Linien, die begannen mein Gesicht zu durchwandern, wie einst die Pilgerväter die “neue Welt”. Uff, das war ein Schock, erstmal durchatmen.
Natürlich ist einem klar, dass sich irgendwann die ersten Falten auf dem eigenen Gesicht abzeichnen, aber der Moment in dem man sie dann wirklich entdeckt, ist ein Moment, auf den man doch herzlich gerne verzichten würde. Ich zumindest, hätte es wirklich gern. Jesses, wenn ich wenigstens schon ein gestandenes Alter erreicht hätte! Aber ich war doch gestern noch in der Pubertät, vorgestern noch ein Kind! Das erste Vierteljahrhundert und heute schon die ersten Falten.
Gut, mein bisher doch noch recht kurzes Leben war schon ein wenig turbulent, selten stressfrei und der Lebensstil weit davon entfernt, was man „gesund“ nennen könnte. Klar, auch mit sachgemäßer Pflege geht die Zeit nicht spurlos an einem vorüber. Und genau das sind ja Falten nun mal: Zeichen der Zeit. Prägemale der erlebten Jahre. Ob wohl ein Fachmann auf dem Gebiet -ein Furchologe?- das erlebte Alter eines Menschen an den Falten herauslesen kann wie man das Alter eines Baumes an seinen Ringen erkennt? Ich mein, wenn man schon aus den Linien der Handinnenfläche das ganze Leben, sogar die Zukunft herauslesen kann... Nichtsdestotrotz sollte man in dem Alter doch noch keine Falten bekommen. Nee, nee... damit will ich mich nun wirklich noch nicht abfinden müssen. Müssen. Klar. Bleibt mir ja keine andere Wahl.
Langsam fand ich meine Fassung wieder und der aufgewirbelte Staub der innerlichen Explosion schien sich langsam über das Chaos zu legen. Der Typ im Spiegel schien das aber noch nicht bemerkt zu haben, der schaute immer noch recht verstört drein. Mein Gehirn meldete sich zu Wort und begann in militärischem Ton mit mir die Lage zu besprechen. Sir, wir haben ein gottverdammtes Problem und wir brauchen schleunigst eine gottverdammte Lösung! So gingen wir nun die Mittel und Möglichkeiten durch, wie könnten wir bloß diese Mission angehen? Facelifting? Beliebt, aber das würde vermutlich den Rahmen meiner finanziellen Mittel sprengen. Anti-Aging-Cremes? Hey, die sind doch DER Renner. Die Werbung erzählt doch ständig, dass sie durch die grandiosen Errungenschaften der Forschung die Effektivität eines Bügeleisens erreichen, den Gesichtskrater, rabiat wie eine Dampfwalze, wieder schön eben formen und die Haut dazu noch zart machen, wie einen Babyhintern. Und sehr angenehm duften sie noch dazu. Ich könnte die Lage aber auch einfach ertragen wie ein Mann, jawoll!
Diese ganzen Auseinandersetzungen mit der Kommandozentrale langweilten mich jedoch wie immer schnell. Und den Typen im Spiegel schien die ganze Operationsplanungsgeschichte auch nicht wirklich zu beruhigen. Als ich ihn da so entgeistert stehen sah, musste ich wieder an meinen Freund das Reh denken. Ich schien langsam wieder zu mir selbst zu finden. Denn ich überlegte was sich wohl das Reh denken würde, das nachts auf der Landstraße vor dem Spiegel steht und im Lichte des Frontscheinwerfer des mit überhöhter Geschwindigkeit heranrasenden Lkws, seine ersten Falten entdeckt.
Das brachte mich nun zum Schmunzeln und wie so oft wurde aus dem Schmunzeln schnell ein Lachen. Da stand ich nun im Badezimmer vor dem Spiegel des Verderbens, den ich am liebsten verflucht hätte, hätte dies nur einen Sinn, und lachte grenzdebil. Der Typ im Spiegel stimmte sofort mit ein, der fand diese groteske Situation anscheinend auch sehr komisch.
Und als wir da so nach Luft japsend dastanden, und unser Lachen das Gezeter von General Großhirn übertönte, machte ich eine weitere Entdeckung. Diese Entdeckung sollte die vorangegangene jedoch bei weitem übertreffen. Dem wirr lachenden Typen fiel nämlich etwas ins Auge was Mr. Oberschlau in seiner dramaqueenesken Panikmacherei wohl völlig übersehen hatte. Diese Falten, diese Schandmale des Lebens, waren Lachfalten. LACHFALTEN!
Das änderte den Sachverhalt natürlich völlig. In diesem Moment erkannte ich, dass der große Bauer der Zeit, der sein Feld -mein Gesicht!- anhand meines Lebens durchpflügte, eigentlich niemand ist den ich verdammen sollte. Im Grunde ist er sogar ein ziemlich dufter Kerl. Dank dieser Erkenntnis wurde aus dem irr anmutenden Lachen nun ein sanftes Lächeln. Und dieses Lächeln ziert mein Gesicht auch jetzt noch.