Überraschendes Wiedersehen
Erzählung zum Thema Begegnung
von DariusTech
Es ist schwierig, seine Pizza zu genießen, wenn man dabei Reggie gegenüber sitzt. Nicht, dass Reggie selber einem die Lust am Essen verdirbt, dass könnte man wirklich nicht sagen. Aber irgendwie bringt er es selbst beim Essen fertig, pausenlos zu quatschen.
"Der Typ dahinten soll der reichste Mann in der Stadt sein. Hätte nicht gedacht, dass jemand wie er ausgerechnet hier zum Essen hingeht... Kaum zu glauben, dass er eine zwanzigjährige Tochter hat. Er sieht ja selber kaum älter aus."
Außerdem wusste er anscheinend über jeden in der Stadt bescheidt, wirklich jeden. Dortmund war zwar keine Weltstadt, trotzdem war das eine Leistung.
"Er heißt Gilbert Kahusch... sag mal, jetzt schau doch wenigstens mal rüber,... ich finde ihn total heiß," er hatte mich natürlich ertappt, dass ich ihn völlig ignorierte.
"Reggie, Du weißt ich habe kein Interresse an Männern habe. Warum soll er nicht hier essen? Und dieses Attribut würde ich allenfalls der Kleinen..." Nun war ich dummerweise doch seiner Aufforderung gefolgt. Aber dass, was, oder besser der, den ich dort sah, war einfach nicht möglich. Es widersprach jeder Logik...
"Hey, Erde an Marius! Sag mal hast Du einen Geist gesehen?"
Ich hatte den Fremden sekundenlang angestarrt ohne es zu wahrzunehmen. Jetzt sah ich mich vorsichtig um, doch niemand schien die Situation bemerkt zu haben, was mich einigermaßen erleichterte. Niemand, außer Reggie natürlich.
"Wie sagtest Du, heißt er?" fragte ich wenig hilfreich zurück.
"Gilbert Kahusch."
Du kannst mich Gilbert nennen. Meinen wahren Namen hat der Wind verweht...
Fünfhundert Jahre, es konnte nicht sein. Er konnte es nicht sein. Ich hatte seine Anwesenheit nicht gespürt, spürte ihn selbst jetzt nicht, wo er doch keine zehn Meter von mir entfernt saß, und seine Pasta verspeiste, scheinbar ohne großen Appettit... Er schien dabei mit seinem Gegenüber zu verhandeln... Aber er konnte es unmöglich sein. Und doch sah er ganz genauso aus wie ich ihn in Erinnerung hatte, sein Gesicht, der Körperbau, die Haare, alles... Nur, dass er jetzt einen Businessanzug trug, keinen Fellumhang.
"Du kennst ihn doch?! Er ist ein Unsterblicher, genau wie Du! Mann ist das aufregend...!", er sprach nicht gerade leise.
"Reggie!" Es ging nicht anders, ich musste seine Euphorie stoppen, und ganz nebenbei meine Verwirrung. "Sag mal hast Du noch alle am Lattenzaun, hier über dieses Thema zu reden? Und nein, ich kenne ihn nicht. Er sieht nur jemandem sehr ähnlich. Ein dummer Zufall. Du hast doch selbst gesagt, dass er einen Tochter hat, also erzähl' nicht so einen Blödsinn."
"Und wenn er sie nur adoptiert hat?" konterte er. "So wie Du mich?"
"Das interessiert mich nicht, jedenfalls ist er ein ganz normalsterblicher Mensch. Also krieg' Dich ein! Außerdem habe ich Dich nicht OFFIZIELL adoptiert." Es war mir durchaus klar, dass ich die einzige Vaterfigur war, die Reggie kannte.
Anscheinend war Reggie ein wenig eingeschnappt. Eigentlich tat es mir leid ihn so angefaucht zu haben. Nur eine zufällige Ähnlichkeit, es war nicht seine Schuld. Aber immerhin war das Thema jetzt beendet. Das reichte mir für den Moment.
Ab und zu warf ich noch einen versteckten Blick auf das seltsame Paar, beide waren etwas overdressed, und sie schienen sich trotz augenscheinlicher Höflichkeit nicht wirklich grün zu sein. Auch wenn ich sie einfach ignorieren wollte, war die Ähnlichkeit doch zu groß. Immer wieder sah ich hinüber, wenn auch bemüht, es so unauffällig wie möglich zu tun. Ich versuchte dabei so zu wirken als sähe ich auf die große Uhr, die über dem Bahnhofseingang hing.
Ihr Gespräch schien sehr plötzlich beendet, hektisch winkte der eine von beiden die Kellnerin heran, beide zahlten mit einem großen Schein und gingen, ohne auf Wechselgeld zu warten. Nur Sekunden später standen zwei weitere beanzugte Männer auf, die jeder für sich, in direkter Nähe der beiden gesessen hatten. Sie gingen ohne weitere Worte, und ohne die Kellnerin zu beachten, die sie allerdings auch ziehen ließ.
"Das war ja ein krasser Auftritt," meinte Reggie. "War das ein Maffiatreffen oder sowas?"
"Du bist doch hier der Klatsch und Tratsch Experte," gab ich überreizt zurück. Ich ignorierte die Tatsache, dass er wie meistens zu laut gesprochen hatte. Als er mich nur weiter mit großen Augen ansah, lenkte ich aber nun doch lieber ein. "Soetwas würde wohl kaum hier stattfinden, und schon garnicht so auffällig, was weiß ich was das war?! Ich weiß nicht mal wer das war."
"Von dem Einen weiß ich es auch nicht..."
"Das ich den Tag noch erlebe,...!" Ich zwinkerte Reggie dabei zu, um keinen weiteren Streit heraufzubeschwören. Der achtzehnjährige ahnungslose Nachwuchsunsterbliche war in der letzten Zeit ohnehin kratzbürstig genug. Insgeheim hoffte ich nur, dass die Episode damit beendet war. Manche Geister waren viel besser in der Vergangenheit aufgehoben.
Genau das war der Moment, in dem einer der beiden Schatten zurück in das Lokal kam. Die Kellnerin sah ihn erstaunt an, und fragte, ob er seinen Zug verpasst habe. Er murmelte eine, von unserem Platz aus, unverständliche Antwort und drückte der Kellnerin Geld in die Hand. Dann kam er geradewegs auf unseren Tisch zu.
Reggie und ich blickten uns verwirrt an. Unfähig eine sinnvolle Erklärung für diese Situation abzugeben, harrten wir der Dinge, die auf uns zukommen mochten. Konnte ER es doch gewesen sein? Aber wie sollte das möglich sein? Und was wollte jetzt DIESER Mann von mir?
"Mein Vorgesetzter bittet sie in einer Viertelstunde auf der Rückseite des Bahnhofs zu stehen, allein!" Er blickte kurz zu Reggie hinüber. "Ihre Rechnung ist bezahlt, damit Sie nicht aufgehalten werden. Seien sie bitte pünktlich." Damit drehte er sich um und ging.
Er war es, er war es tatsächlich. Nach einem halben Jahrtausend... und schon wieder versuchte er über mich zu bestimmen. Einfach so! Und ich... würde ich gehorchen?
"Von wegen Du kennst ihn nicht! Wirst Du jetzt mit ihm kämpfen? Du wirst doch siegen oder?" Reggies Blick drückte eine Mischung aus Aufregung, Faszination und Angst aus. Irgendetwas musste ich ihm sagen, aber was nur?
"Nein, wenn er es doch ist, weiß ich nur eins, er ist kein Feind. Auch wenn ich nicht weiß ob er ein Freund ist..."
Eine Minute später eilte ich die Treppe zum Bahnhof hinunter und durch das Bahnhofsgebäude in Richtung Norden. Unglaublich aber wahr, ich gehorchte ihm schon wieder. Vor fünfhundert Jahren ließ er mich in einer Hütte mitten auf einem Berg sitzen, und jetzt folgte ich seinem Ruf ohne Zögern. Oder war er es doch nicht? War er nur ein Millionär, der sich darüber ärgerte, dass ich ihn beobachtet hatte? Oder waren die Beiden vorhin doch Maffiosi, und ich wurde gleich niedergeschossen oder bekam Betonschuhe verpasst? Er sah ihm mehr als ähnlich, dem Mann vom Brunnen... Nur ein Zufall? Aber der Vorname? Doch wie war es möglich, dass ich seine Anwesenheit nicht gespürt hatte? Verwirrt und voller Fragen erreichte ich den rückwärtigen Ausgang des Gebäudes.
Zunächst passierte garnichts. Ich wartete. Bahngäste liefen an mir vorbei zu ihren Autos, oder stiegen in ein wartendes Taxi. Es war später Nachmittag und es herrschte viel Betrieb. Ich kam mir idiotisch vor. Die Viertel Stunde war längst um, vielleicht sollte ich einfach gehen. Ich haderte mit mir selbst, meinem Fluchtinstinkt und meiner Neugier, als ein leuchtend rot lackiertes Mottorad vorfuhr, ich hatte zwar wenig Ahnung von Motorrädern, aber die Maschine sah nach reichlich PS aus. Der Fahrer trug eine schwarze Motoradkluft und einen ebenso schwarzen Helm, aus dem hinten ein Stück von einem braunen Pferdeschwanz herausschaute. Dann nahm der Fahrer den Helm ab, und Gilbert kam darunter zum Vorschein.
"Du bist es wirklich!" sagte er, auf mich zukommend. "Ich dachte ich sehe Dich nie wieder!"
Ich war zu perplex um reagieren zu können, stattdessen starrte ich ihn nur schweigend an. Was war das vorhin für eine Nummer? Und nun das mit dem Motorrad, und diese Begrüßung? Nach fünfhundert Jahren, als wären wir alte Schulkameraden, oder so etwas... Und wieso tauchte er gerade jetzt wieder auf?
Und was in aller Welt wollte er nun von mir? Mich so hierher zu zitieren, oh Mann. Und erst saß er völlig overdressed in einem billigen Straßenlokal, und jetzt machte er einen auf Motorradrocker. Was würde er wohl als nächstes tun...?
"Tut mir leid, mit dem Auftritt vorhin," sagte er jetzt. Hielt er mein Schweigen für Ärger? War ich verärgert? "Ich war nicht gerade privat unterwegs... Und mein Gegenüber sollte besser nicht erfahren, dass ich Dich kenne. Das wäre schlecht für uns beide. Und der Junge ist ein Fremder, also..."
"Wieso habe ich Dich nicht gespürt?" eine blödere Antwort war mir wohl nicht eingefallen... Kaum stand er vor mir, setzte mein Gehirn aus, toll!
Und wer durfte jetzt wieso nicht erfahren, dass wir uns kannten? Meine Verwirrung stieg nur weiter an.
"Ich erkläre es Dir gerne. Aber nicht hier. Kommst Du mit?" ich zögerte noch. "Bitte!" Und jetzt sah er wieder so aus, als ob das schlimmste, was ich ihm antun könnte eine Ablehnung sei.
Als ich schließlich nickte holte er einen zweiten Helm aus dem Hinterteil des Motorrads hervor und reichte ihn mir herrüber. Der gehört meiner Tochter, aber sie ist ein ziemlicher Dickschädel, er müsste Dir passen."
Er hatte mich ernsthaft darum gebeten ihn zu begleiten... aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wäre ich wohl so oder so mit ihm gekommen. Was war nur mit diesem Mann? Nein, was war nur mit mir? Ich nestelte ungeschickt mit dem Verschluss des Helms. Ich wollte nicht, dass er mir dabei half, auf gar keinen Fall. Zum Glück hatte er es wohl nicht eilig, mit einem leicht amüsierten Gesichtsausdruck beobachtete er mich dabei. Für diesen Ausdruck hätte ich ihn am liebsten gegrillt.
"Ich bin wirklich froh, dass es Dir gut geht," sagte er, als ich schließlich hinter ihm auf die Maschine stieg. "Ich habe mich nie getraut danach zu fragen..." Damit zündete er den Motor und erstickte meine Gegenreaktion im Keim.
Wen in aller Welt hätte er das fragen können?
Wir fuhren auf Seitenstraßen stadtauswärts. Hier gab es eine Vielzahl kleiner Orte, zum Teil Vororte von Dortmund, zum Teil gehörten sie bereits zu umliegenden kleineren Städten. In den letzten Jahrhunderten war ich ein ziemlicher Stadtliebhaber geworden. Das rächte sich jetzt, ich hatte bald keine Ahnung mehr wo wir waren.
Großartig! Ich saß mit IHM auf einem Motorrad, fuhr auf ein unbekanntes Ziel zu,... und was würde mich dort erwarten?! Hätte er nicht in der Stadt mit mir reden können?
Stumm hielt ich mich an den dafür vorgesehenen Griffen des Motorrads fest, sorgfältig bedacht darauf, möglichst wenig Körperkontakt zu ihm zu haben. Der Versuch war absurd... zum einen war er von wenig Erfolg gekrönt, ließ sich eine Berührung doch ohnehin nicht vermeiden, und zum anderen war es absurd, wenn ich daran dachte, was vor fünfhundert Jahren vorgefallen war. Das aber war es, an das ich am wenigsten denken wollte. Und genau das war der Grund, warum es mir lieber gewesen wäre, dieses Motorrad wäre mindestens einen halben Meter länger.
Schließlich bogen wir nach rechts in einen asphaltierten Feldweg ein. Die Fahrt hatte bereits eine halbe Stunde gedauert... mindestens. Oder kam es mir nur so vor?! Was kam als nächstes, ein Trampelpfad? Oder mussten wir wieder auf einen Berg klettern? Wir fuhren eine Kurve um ein kleines Wäldchen, dann kam scheinbar ein alter Gutshof in Sicht. Er bog in die Einfahrt ein und brachte die Maschine zum stehen. Irgendwo bellten mindestens zwei große Hunde. Erst das Maffiatreffen, dann das Motorrad und jetzt ein Bauernhof... Das ganze wurde immer seltsamer.
"Du musst schon als erster absteigen!"
Peinlich... ich hatte einfach nur da gesessen und der Dinge geharrt. Hastig und ungeübt stieg ich von der Maschine. Außerdem hatten meine Bemühungen Distanz zu ihm zu bewahren zu einer recht verkrampften Sitzhaltung geführt, was sich jetzt unangenehm zu spüren machte .Während er seinerseits abstieg fummelte ich wenig geschickt an dem Verschluss meines Helms herum, schließlich bekam ich ihn doch noch auf, bevor Gilbert auf die Idee kam mir zu helfen. Ich reckte mich ein wenig ausgiebiger als nötig. Wertvolle Sekunden um die ich alles weitere hinauszögerte.
"Du fährst nicht gerade oft Motorrad, wie?"
Seine Stimme war frei von Spott, keine Spielchen wie damals, oder versteckte er sie nur geschickter?
"Nein," antwortete ich schließlich. "Auch nicht mehr viel Auto. Die Straßenbahn ist schneller."
"Wenn Du nicht so hektisch gewesen wärest, hättest Du die Schnalle auch aufbekommen... und wenn Du nicht so verkrampft gesessen hättest, dann hättest Du die Fahrt vielleicht genießen können. Übrigens, wir sind hier hinter Bönen, wenn man zurück zur Straße geht, und dann nach rechts, dann kommt man bei der Kreuzung zu einer Haltestelle. Von dort fährt ein Bus nach Nordbögge, und von da ein Zug nach Dortmund." Er kam einen Schritt auf mich zu. "Nur für den Fall, dass Du flüchten möchtest, allerdings hoffe ich, dass Du noch bleibst. Ich hatte nicht vor über Dich herzufallen. Und soweit ich mich entsinne, habe ich niemals etwas mit Dir getan, dass Du nicht gewollt hättest."
Er sah mich an. Ich spürte, dass ich rot geworden war, schaffte es aber irgendwie seinem Blick standzuhalten. Er hatte schließlich recht. Auch wenn ich es nur äußerst ungern zugab. Und ich sollte allmählich aufhören mich wie ein Blag aufzuführen, wenn er in der Nähe war. Ich hatte ein halbes Jahrtausend Abstand zu den Ereignissen von damals. Ein Ausrutscher, ein Unfall, mehr nicht... ich fragte mich was Reggie JETZT wohl dazu sagen würde, wüsste er was in meinem Kopf vor sich ging.
Schließlich wandte er sich um und begann ums Haus zu gehen. Er winkte mir mit der Hand zu, dass ich ihm folgen solle. Als ich einen Moment zögerte rief er nach mir.
"Komm schon, ich will Dir jemanden zeigen."
Das Hauptgebäude war ein altes Fachwerkgebäude, aber im Augenblick gingen wir um einen später hinzugefügten Anbau modernerer Bauart. Als wir auf der Rückseite ankamen spürte ich es, ihn,...?! Der selbe Unsterbliche wie damals, ganz sicher, diese gewaltige Energie hatte ich nur ein einziges mal gespürt. Auf dem Berg, nach der Schlacht, als ich Gilbert zum ersten Mal begegnet war. Aber Gilbert war doch die ganze Zeit über bei mir gewesen, und ich hatte ihn bislang auch nicht gespürt. Was ging hier vor? Und etwas war anders... als wäre es mehr, nein mehrere Energien.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. "Was geht hier vor?"
"Er sah mich mit einer Mischung aus Resignation, Hoffnung und etwas unerfindlichem an. "Nichts, nicht so wie Du denkst, jedenfalls. Was auch immer Du gerade denkst. Ich war genauso überrascht Dich wiedersehen, wie Du. Du warst leider verschwunden, als ich damals nach Hause zurückkam. Ich wurde länger aufgehalten als geplant. Komm schon mit, ich bin gespannt ob er Dich auch erkennt."
"Na ja, wenn ich bis hierher gekommen bin, machen ein paar Schritte mehr oder weniger auch nichts aus," ich begann ihm weiter zu folgen. "Aber wer soll mich denn erkennen?"
Er sah mich mit einem rätselhaften Lächeln an. "Schön!"
Aber eine Antwort auf meine Frage bekam ich nicht, dennoch folgte ich ihm um den Anbau. Schließlich liefen wir auf einige großzügige Stallungsanlage zu. Auf der Weide standen einige Pferde. Die meisten Tiere hielten sich am fernen Ende der Weide auf, waren mehr zu erahnen als klar zu erkennen, aber vorne am Zaun standen ein Rappe und ein Schimmel bereit. Als hätten sie unser Kommen geahnt, oder gespürt?! Je näher wir den beiden Tieren kamen, desto unheimlicher wurde es mir. Der Gedanke der sich mir formte waberte mir durch den Geist, zu absurd um begreifbar zu sein... ich kannte den Schimmel. Es war absolut unmöglich. Es konnte nicht sein, durfte nicht sein... Und doch spürte ich es ganz genau. Ich hatte nie zuvor und auch niemals wieder einen so reinen Schimmel gesehen. Und als ich dem Tier schließlich gegenüber stand war ich mir absolut sicher. Das war Gilberts Pferd. Nicht irgendeines. Es war das gleiche Tier, dass ihn damals im Wald erwartet hatte.
"Das kann nicht sein!"
Gilbert lächelte. "Wenn Du es sagst, Du musst es ja wissen! Viento erkennt Dich jedenfalls."
Der Schimmel schien mich genau zu betrachten, als ich ihm die Hand entgegenstreckte beschnupperte er sie und reckte mir den Kopf entgegen, gerade so als erwarte er eine ordnungsgemäße Begrüßung. Ein wenig zögerlich klopfte ich ihm den Hals. Mehr um mir selber dieses traumwandlerische Gefühl zu nehmen, als um dem Tier einen Gefallen zu tun. Es war real. Es war kein Geist, keine Einbildung. Vor mir stand ein Pferd das mindestens ein halbes Jahrtausend alt war. Das war unglaublich.
Schließlich schnaubte er und drehte sich von mir weg, um Augenblicke später los zu gallopieren, über der Weide auf die anderen Pferde zu. Der Rappe betrachtete uns einen weiteren Moment lang, scheinbar neugierig, doch dann folgte er dem anderen Tier. Es war ein ganz normaler Hengst,… zumindest sah er so aus. Aber sah ich nicht auch wie ein normaler Mensch aus?
„Pferde sind nicht unsterblich! Das gibt es nicht.“
Gilbert schien amüsiert. „Nun ja, ich denke die meisten Bewohner dieses Planeten würden das gleiche über Menschen sagen, nicht wahr?!“
Wenn das wahr war… so unglaublich es mir erschien… „Heißt das, dass ich auch damals auf dem Berg nicht Dich, sondern ihn gespürt habe?“
„Ganz richtig, ich bin nicht von Deiner Art, deswegen kannst Du mich nicht spüren,“ sein Gesichtsausdruck war völlig ernst, aber seine Worte wollten keinen rechten Sinn machen.
„Willst Du sagen, ER sei von meiner Art? Er ist ein Pferd, und Du ein Mensch. Wie kann er da von meiner Art sein, wenn Du es nicht bist?“
„Ja und nein, auf beides. Doch das was ihn unsterblich macht, macht auch Dich unsterblich. Meine Unsterblichkeit ist anderer Natur.“
Ich betrachtete ihn ungläubig, wie konnte es verschiedene Arten geben unsterblich zu sein? Das allein war schwer zu glauben… aber es stimmte, ihn hatte ich im Restaurant nicht gespürt. Erst als ich mich den Pferden genähert hatte, hatte sich auch das vertraute Gefühl eines anderen Unsterblichen eingestellt.
„Nun?“ fragte er. „Bist Du bereit mir zu glauben?“
„Es macht keinen Sinn, aber es scheint logisch,“ antwortete ich widersprüchlich… „Ich weiß nicht was ich glauben soll, aber eine andere Erklärung fällt mir auch nicht ein. Also glaube ich Dir die Geschichte erst einmal.“ Ich lächelte etwas ungeschickt. Meine Güte, was für einen Stuss ich da redete…
„Das habe ich gehofft, mehr kann ich wohl gerade nicht erwarten.“ Er sah mich an, es war auch jetzt kein Spott in seinem Gesicht zu erkennen. Anders als damals, damals hatte ich stets das Gefühl gehabt, dass er mit mir spielte.
„Wie alt ist er, sind die beiden?“ Ein wenig unsicher war ich mir schon, ob ich die Antwort hören wollte. Nach den bisherigen Überraschungen rechnete ich mit so ziemlich allem.
„Das kann ich Dir nicht genau sagen, sie waren bereits recht >altnur< Zweitausend Jahre leben?
Oder gar ein Pferd, das Fünfundsechzigtausend Jahre lebte? Aber wenn man Zwei Jahrtausende überleben konnte, wie ich es getan hatte… war meine unlogische Existenz nicht Grund seinen Behauptungen glauben zu können?
„Du kannst niemals schon alles verstehen, alles wissen,“ sagte er schließlich. „Und wir haben unsere Existens stets vor Euch, wie vor den Sterblichen verborgen. Du konntest nichts von uns wissen. Aber ich sage Dir die Wahrheit, ob Du es glaubst, oder nicht.“
„Warum? Warum bist Du jetzt so… anders als damals? Und warum erzählst Du mir das alles?“
Er schmunzelte leicht, um mich dann mit etwas ratlosem Gesicht anzusehen. „Das ist eine gute Frage. Vielleicht verliere ich auf meine alten Tagen den Verstand, oder ich breche einfach nur gerne Regeln.“
„Welche Regeln?“
„Meine Art muss sich an uralte Regeln halten. Seit wir von Eurer Art wissen, gilt für uns ein Verbot, mit Euch Kontakt aufzunehmen.“
„Aus welchem Grund brichst Du diese Regel dann?“
„Wenn es um Dich geht, ich weiß es nicht…“ Er schien nach Worten zu suchen. „Du lässt mich Dinge tun, die ich sonst nicht täte.“
„Ja,“ das sagte mir etwas. „Das ist das erste was Du heute gesagt hast, dass ich völlig verstehe.“
Es entstand ein etwas unbequemes Schweigen… eigentlich war alles an dieser Situation unbequem. Wir standen an einer Pferdekoppel und schwiegen uns an. Ganz schön bescheuert!
"Der Typ dahinten soll der reichste Mann in der Stadt sein. Hätte nicht gedacht, dass jemand wie er ausgerechnet hier zum Essen hingeht... Kaum zu glauben, dass er eine zwanzigjährige Tochter hat. Er sieht ja selber kaum älter aus."
Außerdem wusste er anscheinend über jeden in der Stadt bescheidt, wirklich jeden. Dortmund war zwar keine Weltstadt, trotzdem war das eine Leistung.
"Er heißt Gilbert Kahusch... sag mal, jetzt schau doch wenigstens mal rüber,... ich finde ihn total heiß," er hatte mich natürlich ertappt, dass ich ihn völlig ignorierte.
"Reggie, Du weißt ich habe kein Interresse an Männern habe. Warum soll er nicht hier essen? Und dieses Attribut würde ich allenfalls der Kleinen..." Nun war ich dummerweise doch seiner Aufforderung gefolgt. Aber dass, was, oder besser der, den ich dort sah, war einfach nicht möglich. Es widersprach jeder Logik...
"Hey, Erde an Marius! Sag mal hast Du einen Geist gesehen?"
Ich hatte den Fremden sekundenlang angestarrt ohne es zu wahrzunehmen. Jetzt sah ich mich vorsichtig um, doch niemand schien die Situation bemerkt zu haben, was mich einigermaßen erleichterte. Niemand, außer Reggie natürlich.
"Wie sagtest Du, heißt er?" fragte ich wenig hilfreich zurück.
"Gilbert Kahusch."
Du kannst mich Gilbert nennen. Meinen wahren Namen hat der Wind verweht...
Fünfhundert Jahre, es konnte nicht sein. Er konnte es nicht sein. Ich hatte seine Anwesenheit nicht gespürt, spürte ihn selbst jetzt nicht, wo er doch keine zehn Meter von mir entfernt saß, und seine Pasta verspeiste, scheinbar ohne großen Appettit... Er schien dabei mit seinem Gegenüber zu verhandeln... Aber er konnte es unmöglich sein. Und doch sah er ganz genauso aus wie ich ihn in Erinnerung hatte, sein Gesicht, der Körperbau, die Haare, alles... Nur, dass er jetzt einen Businessanzug trug, keinen Fellumhang.
"Du kennst ihn doch?! Er ist ein Unsterblicher, genau wie Du! Mann ist das aufregend...!", er sprach nicht gerade leise.
"Reggie!" Es ging nicht anders, ich musste seine Euphorie stoppen, und ganz nebenbei meine Verwirrung. "Sag mal hast Du noch alle am Lattenzaun, hier über dieses Thema zu reden? Und nein, ich kenne ihn nicht. Er sieht nur jemandem sehr ähnlich. Ein dummer Zufall. Du hast doch selbst gesagt, dass er einen Tochter hat, also erzähl' nicht so einen Blödsinn."
"Und wenn er sie nur adoptiert hat?" konterte er. "So wie Du mich?"
"Das interessiert mich nicht, jedenfalls ist er ein ganz normalsterblicher Mensch. Also krieg' Dich ein! Außerdem habe ich Dich nicht OFFIZIELL adoptiert." Es war mir durchaus klar, dass ich die einzige Vaterfigur war, die Reggie kannte.
Anscheinend war Reggie ein wenig eingeschnappt. Eigentlich tat es mir leid ihn so angefaucht zu haben. Nur eine zufällige Ähnlichkeit, es war nicht seine Schuld. Aber immerhin war das Thema jetzt beendet. Das reichte mir für den Moment.
Ab und zu warf ich noch einen versteckten Blick auf das seltsame Paar, beide waren etwas overdressed, und sie schienen sich trotz augenscheinlicher Höflichkeit nicht wirklich grün zu sein. Auch wenn ich sie einfach ignorieren wollte, war die Ähnlichkeit doch zu groß. Immer wieder sah ich hinüber, wenn auch bemüht, es so unauffällig wie möglich zu tun. Ich versuchte dabei so zu wirken als sähe ich auf die große Uhr, die über dem Bahnhofseingang hing.
Ihr Gespräch schien sehr plötzlich beendet, hektisch winkte der eine von beiden die Kellnerin heran, beide zahlten mit einem großen Schein und gingen, ohne auf Wechselgeld zu warten. Nur Sekunden später standen zwei weitere beanzugte Männer auf, die jeder für sich, in direkter Nähe der beiden gesessen hatten. Sie gingen ohne weitere Worte, und ohne die Kellnerin zu beachten, die sie allerdings auch ziehen ließ.
"Das war ja ein krasser Auftritt," meinte Reggie. "War das ein Maffiatreffen oder sowas?"
"Du bist doch hier der Klatsch und Tratsch Experte," gab ich überreizt zurück. Ich ignorierte die Tatsache, dass er wie meistens zu laut gesprochen hatte. Als er mich nur weiter mit großen Augen ansah, lenkte ich aber nun doch lieber ein. "Soetwas würde wohl kaum hier stattfinden, und schon garnicht so auffällig, was weiß ich was das war?! Ich weiß nicht mal wer das war."
"Von dem Einen weiß ich es auch nicht..."
"Das ich den Tag noch erlebe,...!" Ich zwinkerte Reggie dabei zu, um keinen weiteren Streit heraufzubeschwören. Der achtzehnjährige ahnungslose Nachwuchsunsterbliche war in der letzten Zeit ohnehin kratzbürstig genug. Insgeheim hoffte ich nur, dass die Episode damit beendet war. Manche Geister waren viel besser in der Vergangenheit aufgehoben.
Genau das war der Moment, in dem einer der beiden Schatten zurück in das Lokal kam. Die Kellnerin sah ihn erstaunt an, und fragte, ob er seinen Zug verpasst habe. Er murmelte eine, von unserem Platz aus, unverständliche Antwort und drückte der Kellnerin Geld in die Hand. Dann kam er geradewegs auf unseren Tisch zu.
Reggie und ich blickten uns verwirrt an. Unfähig eine sinnvolle Erklärung für diese Situation abzugeben, harrten wir der Dinge, die auf uns zukommen mochten. Konnte ER es doch gewesen sein? Aber wie sollte das möglich sein? Und was wollte jetzt DIESER Mann von mir?
"Mein Vorgesetzter bittet sie in einer Viertelstunde auf der Rückseite des Bahnhofs zu stehen, allein!" Er blickte kurz zu Reggie hinüber. "Ihre Rechnung ist bezahlt, damit Sie nicht aufgehalten werden. Seien sie bitte pünktlich." Damit drehte er sich um und ging.
Er war es, er war es tatsächlich. Nach einem halben Jahrtausend... und schon wieder versuchte er über mich zu bestimmen. Einfach so! Und ich... würde ich gehorchen?
"Von wegen Du kennst ihn nicht! Wirst Du jetzt mit ihm kämpfen? Du wirst doch siegen oder?" Reggies Blick drückte eine Mischung aus Aufregung, Faszination und Angst aus. Irgendetwas musste ich ihm sagen, aber was nur?
"Nein, wenn er es doch ist, weiß ich nur eins, er ist kein Feind. Auch wenn ich nicht weiß ob er ein Freund ist..."
Eine Minute später eilte ich die Treppe zum Bahnhof hinunter und durch das Bahnhofsgebäude in Richtung Norden. Unglaublich aber wahr, ich gehorchte ihm schon wieder. Vor fünfhundert Jahren ließ er mich in einer Hütte mitten auf einem Berg sitzen, und jetzt folgte ich seinem Ruf ohne Zögern. Oder war er es doch nicht? War er nur ein Millionär, der sich darüber ärgerte, dass ich ihn beobachtet hatte? Oder waren die Beiden vorhin doch Maffiosi, und ich wurde gleich niedergeschossen oder bekam Betonschuhe verpasst? Er sah ihm mehr als ähnlich, dem Mann vom Brunnen... Nur ein Zufall? Aber der Vorname? Doch wie war es möglich, dass ich seine Anwesenheit nicht gespürt hatte? Verwirrt und voller Fragen erreichte ich den rückwärtigen Ausgang des Gebäudes.
Zunächst passierte garnichts. Ich wartete. Bahngäste liefen an mir vorbei zu ihren Autos, oder stiegen in ein wartendes Taxi. Es war später Nachmittag und es herrschte viel Betrieb. Ich kam mir idiotisch vor. Die Viertel Stunde war längst um, vielleicht sollte ich einfach gehen. Ich haderte mit mir selbst, meinem Fluchtinstinkt und meiner Neugier, als ein leuchtend rot lackiertes Mottorad vorfuhr, ich hatte zwar wenig Ahnung von Motorrädern, aber die Maschine sah nach reichlich PS aus. Der Fahrer trug eine schwarze Motoradkluft und einen ebenso schwarzen Helm, aus dem hinten ein Stück von einem braunen Pferdeschwanz herausschaute. Dann nahm der Fahrer den Helm ab, und Gilbert kam darunter zum Vorschein.
"Du bist es wirklich!" sagte er, auf mich zukommend. "Ich dachte ich sehe Dich nie wieder!"
Ich war zu perplex um reagieren zu können, stattdessen starrte ich ihn nur schweigend an. Was war das vorhin für eine Nummer? Und nun das mit dem Motorrad, und diese Begrüßung? Nach fünfhundert Jahren, als wären wir alte Schulkameraden, oder so etwas... Und wieso tauchte er gerade jetzt wieder auf?
Und was in aller Welt wollte er nun von mir? Mich so hierher zu zitieren, oh Mann. Und erst saß er völlig overdressed in einem billigen Straßenlokal, und jetzt machte er einen auf Motorradrocker. Was würde er wohl als nächstes tun...?
"Tut mir leid, mit dem Auftritt vorhin," sagte er jetzt. Hielt er mein Schweigen für Ärger? War ich verärgert? "Ich war nicht gerade privat unterwegs... Und mein Gegenüber sollte besser nicht erfahren, dass ich Dich kenne. Das wäre schlecht für uns beide. Und der Junge ist ein Fremder, also..."
"Wieso habe ich Dich nicht gespürt?" eine blödere Antwort war mir wohl nicht eingefallen... Kaum stand er vor mir, setzte mein Gehirn aus, toll!
Und wer durfte jetzt wieso nicht erfahren, dass wir uns kannten? Meine Verwirrung stieg nur weiter an.
"Ich erkläre es Dir gerne. Aber nicht hier. Kommst Du mit?" ich zögerte noch. "Bitte!" Und jetzt sah er wieder so aus, als ob das schlimmste, was ich ihm antun könnte eine Ablehnung sei.
Als ich schließlich nickte holte er einen zweiten Helm aus dem Hinterteil des Motorrads hervor und reichte ihn mir herrüber. Der gehört meiner Tochter, aber sie ist ein ziemlicher Dickschädel, er müsste Dir passen."
Er hatte mich ernsthaft darum gebeten ihn zu begleiten... aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, wäre ich wohl so oder so mit ihm gekommen. Was war nur mit diesem Mann? Nein, was war nur mit mir? Ich nestelte ungeschickt mit dem Verschluss des Helms. Ich wollte nicht, dass er mir dabei half, auf gar keinen Fall. Zum Glück hatte er es wohl nicht eilig, mit einem leicht amüsierten Gesichtsausdruck beobachtete er mich dabei. Für diesen Ausdruck hätte ich ihn am liebsten gegrillt.
"Ich bin wirklich froh, dass es Dir gut geht," sagte er, als ich schließlich hinter ihm auf die Maschine stieg. "Ich habe mich nie getraut danach zu fragen..." Damit zündete er den Motor und erstickte meine Gegenreaktion im Keim.
Wen in aller Welt hätte er das fragen können?
Wir fuhren auf Seitenstraßen stadtauswärts. Hier gab es eine Vielzahl kleiner Orte, zum Teil Vororte von Dortmund, zum Teil gehörten sie bereits zu umliegenden kleineren Städten. In den letzten Jahrhunderten war ich ein ziemlicher Stadtliebhaber geworden. Das rächte sich jetzt, ich hatte bald keine Ahnung mehr wo wir waren.
Großartig! Ich saß mit IHM auf einem Motorrad, fuhr auf ein unbekanntes Ziel zu,... und was würde mich dort erwarten?! Hätte er nicht in der Stadt mit mir reden können?
Stumm hielt ich mich an den dafür vorgesehenen Griffen des Motorrads fest, sorgfältig bedacht darauf, möglichst wenig Körperkontakt zu ihm zu haben. Der Versuch war absurd... zum einen war er von wenig Erfolg gekrönt, ließ sich eine Berührung doch ohnehin nicht vermeiden, und zum anderen war es absurd, wenn ich daran dachte, was vor fünfhundert Jahren vorgefallen war. Das aber war es, an das ich am wenigsten denken wollte. Und genau das war der Grund, warum es mir lieber gewesen wäre, dieses Motorrad wäre mindestens einen halben Meter länger.
Schließlich bogen wir nach rechts in einen asphaltierten Feldweg ein. Die Fahrt hatte bereits eine halbe Stunde gedauert... mindestens. Oder kam es mir nur so vor?! Was kam als nächstes, ein Trampelpfad? Oder mussten wir wieder auf einen Berg klettern? Wir fuhren eine Kurve um ein kleines Wäldchen, dann kam scheinbar ein alter Gutshof in Sicht. Er bog in die Einfahrt ein und brachte die Maschine zum stehen. Irgendwo bellten mindestens zwei große Hunde. Erst das Maffiatreffen, dann das Motorrad und jetzt ein Bauernhof... Das ganze wurde immer seltsamer.
"Du musst schon als erster absteigen!"
Peinlich... ich hatte einfach nur da gesessen und der Dinge geharrt. Hastig und ungeübt stieg ich von der Maschine. Außerdem hatten meine Bemühungen Distanz zu ihm zu bewahren zu einer recht verkrampften Sitzhaltung geführt, was sich jetzt unangenehm zu spüren machte .Während er seinerseits abstieg fummelte ich wenig geschickt an dem Verschluss meines Helms herum, schließlich bekam ich ihn doch noch auf, bevor Gilbert auf die Idee kam mir zu helfen. Ich reckte mich ein wenig ausgiebiger als nötig. Wertvolle Sekunden um die ich alles weitere hinauszögerte.
"Du fährst nicht gerade oft Motorrad, wie?"
Seine Stimme war frei von Spott, keine Spielchen wie damals, oder versteckte er sie nur geschickter?
"Nein," antwortete ich schließlich. "Auch nicht mehr viel Auto. Die Straßenbahn ist schneller."
"Wenn Du nicht so hektisch gewesen wärest, hättest Du die Schnalle auch aufbekommen... und wenn Du nicht so verkrampft gesessen hättest, dann hättest Du die Fahrt vielleicht genießen können. Übrigens, wir sind hier hinter Bönen, wenn man zurück zur Straße geht, und dann nach rechts, dann kommt man bei der Kreuzung zu einer Haltestelle. Von dort fährt ein Bus nach Nordbögge, und von da ein Zug nach Dortmund." Er kam einen Schritt auf mich zu. "Nur für den Fall, dass Du flüchten möchtest, allerdings hoffe ich, dass Du noch bleibst. Ich hatte nicht vor über Dich herzufallen. Und soweit ich mich entsinne, habe ich niemals etwas mit Dir getan, dass Du nicht gewollt hättest."
Er sah mich an. Ich spürte, dass ich rot geworden war, schaffte es aber irgendwie seinem Blick standzuhalten. Er hatte schließlich recht. Auch wenn ich es nur äußerst ungern zugab. Und ich sollte allmählich aufhören mich wie ein Blag aufzuführen, wenn er in der Nähe war. Ich hatte ein halbes Jahrtausend Abstand zu den Ereignissen von damals. Ein Ausrutscher, ein Unfall, mehr nicht... ich fragte mich was Reggie JETZT wohl dazu sagen würde, wüsste er was in meinem Kopf vor sich ging.
Schließlich wandte er sich um und begann ums Haus zu gehen. Er winkte mir mit der Hand zu, dass ich ihm folgen solle. Als ich einen Moment zögerte rief er nach mir.
"Komm schon, ich will Dir jemanden zeigen."
Das Hauptgebäude war ein altes Fachwerkgebäude, aber im Augenblick gingen wir um einen später hinzugefügten Anbau modernerer Bauart. Als wir auf der Rückseite ankamen spürte ich es, ihn,...?! Der selbe Unsterbliche wie damals, ganz sicher, diese gewaltige Energie hatte ich nur ein einziges mal gespürt. Auf dem Berg, nach der Schlacht, als ich Gilbert zum ersten Mal begegnet war. Aber Gilbert war doch die ganze Zeit über bei mir gewesen, und ich hatte ihn bislang auch nicht gespürt. Was ging hier vor? Und etwas war anders... als wäre es mehr, nein mehrere Energien.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. "Was geht hier vor?"
"Er sah mich mit einer Mischung aus Resignation, Hoffnung und etwas unerfindlichem an. "Nichts, nicht so wie Du denkst, jedenfalls. Was auch immer Du gerade denkst. Ich war genauso überrascht Dich wiedersehen, wie Du. Du warst leider verschwunden, als ich damals nach Hause zurückkam. Ich wurde länger aufgehalten als geplant. Komm schon mit, ich bin gespannt ob er Dich auch erkennt."
"Na ja, wenn ich bis hierher gekommen bin, machen ein paar Schritte mehr oder weniger auch nichts aus," ich begann ihm weiter zu folgen. "Aber wer soll mich denn erkennen?"
Er sah mich mit einem rätselhaften Lächeln an. "Schön!"
Aber eine Antwort auf meine Frage bekam ich nicht, dennoch folgte ich ihm um den Anbau. Schließlich liefen wir auf einige großzügige Stallungsanlage zu. Auf der Weide standen einige Pferde. Die meisten Tiere hielten sich am fernen Ende der Weide auf, waren mehr zu erahnen als klar zu erkennen, aber vorne am Zaun standen ein Rappe und ein Schimmel bereit. Als hätten sie unser Kommen geahnt, oder gespürt?! Je näher wir den beiden Tieren kamen, desto unheimlicher wurde es mir. Der Gedanke der sich mir formte waberte mir durch den Geist, zu absurd um begreifbar zu sein... ich kannte den Schimmel. Es war absolut unmöglich. Es konnte nicht sein, durfte nicht sein... Und doch spürte ich es ganz genau. Ich hatte nie zuvor und auch niemals wieder einen so reinen Schimmel gesehen. Und als ich dem Tier schließlich gegenüber stand war ich mir absolut sicher. Das war Gilberts Pferd. Nicht irgendeines. Es war das gleiche Tier, dass ihn damals im Wald erwartet hatte.
"Das kann nicht sein!"
Gilbert lächelte. "Wenn Du es sagst, Du musst es ja wissen! Viento erkennt Dich jedenfalls."
Der Schimmel schien mich genau zu betrachten, als ich ihm die Hand entgegenstreckte beschnupperte er sie und reckte mir den Kopf entgegen, gerade so als erwarte er eine ordnungsgemäße Begrüßung. Ein wenig zögerlich klopfte ich ihm den Hals. Mehr um mir selber dieses traumwandlerische Gefühl zu nehmen, als um dem Tier einen Gefallen zu tun. Es war real. Es war kein Geist, keine Einbildung. Vor mir stand ein Pferd das mindestens ein halbes Jahrtausend alt war. Das war unglaublich.
Schließlich schnaubte er und drehte sich von mir weg, um Augenblicke später los zu gallopieren, über der Weide auf die anderen Pferde zu. Der Rappe betrachtete uns einen weiteren Moment lang, scheinbar neugierig, doch dann folgte er dem anderen Tier. Es war ein ganz normaler Hengst,… zumindest sah er so aus. Aber sah ich nicht auch wie ein normaler Mensch aus?
„Pferde sind nicht unsterblich! Das gibt es nicht.“
Gilbert schien amüsiert. „Nun ja, ich denke die meisten Bewohner dieses Planeten würden das gleiche über Menschen sagen, nicht wahr?!“
Wenn das wahr war… so unglaublich es mir erschien… „Heißt das, dass ich auch damals auf dem Berg nicht Dich, sondern ihn gespürt habe?“
„Ganz richtig, ich bin nicht von Deiner Art, deswegen kannst Du mich nicht spüren,“ sein Gesichtsausdruck war völlig ernst, aber seine Worte wollten keinen rechten Sinn machen.
„Willst Du sagen, ER sei von meiner Art? Er ist ein Pferd, und Du ein Mensch. Wie kann er da von meiner Art sein, wenn Du es nicht bist?“
„Ja und nein, auf beides. Doch das was ihn unsterblich macht, macht auch Dich unsterblich. Meine Unsterblichkeit ist anderer Natur.“
Ich betrachtete ihn ungläubig, wie konnte es verschiedene Arten geben unsterblich zu sein? Das allein war schwer zu glauben… aber es stimmte, ihn hatte ich im Restaurant nicht gespürt. Erst als ich mich den Pferden genähert hatte, hatte sich auch das vertraute Gefühl eines anderen Unsterblichen eingestellt.
„Nun?“ fragte er. „Bist Du bereit mir zu glauben?“
„Es macht keinen Sinn, aber es scheint logisch,“ antwortete ich widersprüchlich… „Ich weiß nicht was ich glauben soll, aber eine andere Erklärung fällt mir auch nicht ein. Also glaube ich Dir die Geschichte erst einmal.“ Ich lächelte etwas ungeschickt. Meine Güte, was für einen Stuss ich da redete…
„Das habe ich gehofft, mehr kann ich wohl gerade nicht erwarten.“ Er sah mich an, es war auch jetzt kein Spott in seinem Gesicht zu erkennen. Anders als damals, damals hatte ich stets das Gefühl gehabt, dass er mit mir spielte.
„Wie alt ist er, sind die beiden?“ Ein wenig unsicher war ich mir schon, ob ich die Antwort hören wollte. Nach den bisherigen Überraschungen rechnete ich mit so ziemlich allem.
„Das kann ich Dir nicht genau sagen, sie waren bereits recht >altnur< Zweitausend Jahre leben?
Oder gar ein Pferd, das Fünfundsechzigtausend Jahre lebte? Aber wenn man Zwei Jahrtausende überleben konnte, wie ich es getan hatte… war meine unlogische Existenz nicht Grund seinen Behauptungen glauben zu können?
„Du kannst niemals schon alles verstehen, alles wissen,“ sagte er schließlich. „Und wir haben unsere Existens stets vor Euch, wie vor den Sterblichen verborgen. Du konntest nichts von uns wissen. Aber ich sage Dir die Wahrheit, ob Du es glaubst, oder nicht.“
„Warum? Warum bist Du jetzt so… anders als damals? Und warum erzählst Du mir das alles?“
Er schmunzelte leicht, um mich dann mit etwas ratlosem Gesicht anzusehen. „Das ist eine gute Frage. Vielleicht verliere ich auf meine alten Tagen den Verstand, oder ich breche einfach nur gerne Regeln.“
„Welche Regeln?“
„Meine Art muss sich an uralte Regeln halten. Seit wir von Eurer Art wissen, gilt für uns ein Verbot, mit Euch Kontakt aufzunehmen.“
„Aus welchem Grund brichst Du diese Regel dann?“
„Wenn es um Dich geht, ich weiß es nicht…“ Er schien nach Worten zu suchen. „Du lässt mich Dinge tun, die ich sonst nicht täte.“
„Ja,“ das sagte mir etwas. „Das ist das erste was Du heute gesagt hast, dass ich völlig verstehe.“
Es entstand ein etwas unbequemes Schweigen… eigentlich war alles an dieser Situation unbequem. Wir standen an einer Pferdekoppel und schwiegen uns an. Ganz schön bescheuert!
Kommentare zu diesem Text
Danke für den Kommentar, trotz später Antwort. Na ja, braucht noch Überarbeitung, von wegen Tippfehler und Nachschliff, weiß ich. Hab auch im Kopf wie es weitergeht, aber mit Gastrojob in der Weihnachtszeit war da nichts zu machen. Jetzt wird es ja auch da ruhiger, also geht es hoffentlich bald weiter mit den beiden.
lg darius
lg darius