Hellbein und ich

Erzählung zum Thema Abgrenzung

von  Mutter

Es kam mit der Morgenpost: ein ganz normal aussehendes Paket in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Doppelschnur. Es unterschied sich in nichts von den Tausenden anderer Pakete, wie sie die Postboten tagtäglich austragen. Mit diesem aber hatte es eine besondere Bewandtnis – eine ganz besondere.
Das Paket war nicht für mich bestimmt. Und doch lag es seit fast zwei Wochen dort auf meiner Kommode, im fahlen Licht der Flurlampe.
Jeden Tag lief ich unzählige Male an diesem Paket vorbei, hatte längst aufgehört, mich zu fragen, wann Hellbein es abholen würde. Nein, das stimmt nicht ganz. Jedes Mal fragte ich mich erneut, wann er es endlich holen würde. Und mein Ärger wurde täglich größer.
Zunächst ging ich davon aus, er sei im Urlaub, dass er nichts weiß von dem Paket. Für mehrere Tage hatte ich auch oben keinen Lärm gehört. Vor allem nicht das charakteristische Poltern am Wochenende, das mir anzeigte, sein hyperaktiver Sohn sei wieder zu Besuch, gerne Sonntagmorgen um halb sechs.

Aber seitdem war ein ganzes Wochenende mit Hellbein-typischem Lärm vorüber gegangen, und ich wusste, dass er inzwischen zu Hause gewesen sein musste. Den Briefkasten geleert und die blaue Karte entnommen hatte, die der Paketbote unter meinen wachsamen Augen dort hinterlassen hatte.
Als der Mann mich im Flur angesprochen hatte, ob ich das Paket für Hellbein annehmen konnte, hatte ich noch gezögert. Ich hasse es, mich um anderer Leute Post zu kümmern. Ich bin ein Schatten in diesem Haus, eine Nachtgestalt. Nicht mal die alte Hammerschmidt sieht mich kommen und gehen.
Aber ich ließ mich überreden und sah zu, wie er dankbar die Karte ausfüllte und bei Hellbein in den Schlitz warf. Wartete - wochenlang.

Seitdem ist mir Hellbein schon im Treppenhaus begegnet. Aber er hat nichts gesagt, mir nur seinen wortlosen Gruß entgegengeschickt. Den gleichen, den er mir die anderen beiden Male in den letzten vier Jahren entboten hat. Nachtgestalt.
Für einen ganz kurzen Augenblick war ich versucht, ihn anzusprechen. Ihn zu fragen, ob er die Karte erhalten hätte, und wann er endlich sein verdammtes Paket abzuholen würde.
Aber warum sollte ich das tun?
Er wusste, dass sein Paket bei mir lag. Will er etwas von mir, oder ich von ihm? Ich sollte nicht derjenige sein müssen, der das Ganze anstößt.
Jeden Tag betrachte ich das Paket, und mehr und mehr überkommt mich der Wunsch, es loszuwerden.
Aber das kann ich nicht, oder?
Er weiß, dass ich es habe. Wenn er mich irgendwann danach fragt, endlich die erlösenden Worte spricht – was sage ich dann? Tut mir leid, Pakete werden bei uns nur maximal zehn Werktage aufbewahrt und danach entsorgt?
Hellbein wird mich fragen, warum ich ihn nicht angesprochen habe. Warum ich nichts davon gesagt habe – das eine Mal, wo wir uns im Treppenhaus getroffen haben. Und ich werde keine Antwort haben. Es war mein beschissener Stolz – soll ich das sagen?
Dass ich der festen Meinung bin, es wäre seine Bürgerpflicht gewesen, das Paket so schnell wie möglich abzuholen?

Inzwischen ist das Paket schon zu so etwas wie einem Witz verkommen. Bekannte von mir, die mich besuchen, in den letzten zwei Wochen bereits besucht haben, begrüßen das Paket wie einen alten Freund. Ich verziehe dann nur das Gesicht.
Tatsächlich fühlt es sich für mich eher so an, als würde ich einen unliebsamen Mitbewohner beherbergen. Einen, den man nur schwer wieder loswird.
Warum holt er es nicht ab? Weiß er, von wem es ist? Was sich darin befindet? Und will es deswegen nicht haben?
Wie oft stand ich schon kurz davor, das kleine rote Küchenmesser zu holen, diese grobe Schnur zu durchtrennen und mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Davon, warum zum Teufel er dieses Paket nicht haben will.
Aber das konnte ich auch nicht tun.
Das wäre nicht besser, als das Ding einfach verschwinden zu lassen. Er würde irgendwann danach fragen, und ich würde straucheln. Stammeln, es gäbe einen guten Grund, warum ich es hatte öffnen müssen. Ich sei in Sorge gewesen. Um ihn, um das Paket, um seinen hyperaktiven Sohn. Außerirdische hätten mir mental befohlen, das Paket zu öffnen.
Ich würde die Beherrschung verlieren, vielleicht rumbrüllen. Ihm vorwerfen, dass er mich nicht richtig grüßt, so wie ich das tue. Er grüßt mich, als sei ich irgendwer. Nicht sein Nachbar, der jedes Wochenende seinen hyperaktiven Sohn erträgt. Sogar morgens um halb Sechs.
Ist ein freundlicher Gruß da zu viel verlangt? Wirklich zu viel?
Er weiß, dass ich weiß, dass er … Und so weiter.
Aber ich bin schlauer.

Ich schiebe das Paket etwas zur Seite. Drehe es so, dass es längsseits oben auf der Kommode liegt. So hat es schon ein paar Tage nicht mehr gelegen. Meistens liegt es quer. Droht jetzt weniger schnell herunter zu fallen.
Immerhin ist seitdem meine Kommode aufgeräumt. Ich hatte den Gedanken, meine Sachen könnten auf, um oder unter seinem Paket liegen, nicht ertragen. Jetzt liegt es nur noch alleine dort, auf der sanften Holzmaserung.
Sieht fast ein wenig idyllisch aus. Wäre ich in der Lage zu malen, hätte ich wahrscheinlich bereits einen Nachmittag im Flur verbracht, um das Teil zu verewigen. In Acryl, vielleicht.
Aber ich kann nicht malen, nicht mal mit Buntstiften.
Außerdem braucht man dazu bestimmt Tageslicht. Bei Kunstlicht malt es sich vermutlich nicht gut, Farbechtheit und so.

Mir fällt auf, dass ich mir nie ernsthafte Gedanken gemacht habe, was in dem Paket sein könnte. Ein Absender steht nicht drauf. Ist es von der Verwandtschaft oder von einem Freund? Sicher nichts Geschäftliches, da würde man mit Sicherheit einen Absender hinschreiben. Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand keinen Absender auf ein Paket schreiben würde. Irrläufer gibt es immer.
Es sei denn, es ist illegal. Ist es dann auch strafbar, dass ich das Paket aufbewahre? Vielleicht solange, bis die Luft rein ist?
Ich seufze und starre wieder auf das Paket. Dann wäre Loswerden vielleicht doch eine gute Idee. Aber nicht wirklich einfach. Was wäre, wenn mich jemand dabei beobachtet? Nachts am Lietzensee, zum Beispiel. Und dann findet man Körperteile, Drogen oder belastbares Material jeglicher Couleur darin. Mitschuldig bin ich dann, aber richtig. Möglicherweise wartet der Hellbein auch genau darauf. Dass ich diesen Fehler mache - will mich so richtig drankriegen, mit der Scheiße.
Aber irgendwie glaube ich das alles nicht.
Da ist bestimmt was drin, was der Hellbein nicht braucht. Und es deswegen bei mir liegen lassen kann, nur um mich hochzukochen.
Oder er hat das Paket an sich selbst geschickt. Das traue ich ihm zu. Und feixt sich jetzt eins, weil ich auf dem Scheiß-Teil sitzen bleibe, die kleine Drecksau.
Wartet, um zu schauen, wie lange ich brauche, bis ich einknicke. Und wenn ich dann endlich angekrochen komme, oben zu ihm, aufgegeben habe, sagt er ganz entspannt: Och, das wäre doch nicht nötig gewesen. Da ist nichts Wichtiges drin.
Aber da kannste lange warten, Freundchen. So nicht! Ich kenne so Leute wie Dich. Halten sich für furchtbar oberschlau, und wollen mich aus meinem Bau ausräuchern. Aber ich bin da schon mit ganzen anderen als dir fertig geworden, Meister.

Maja wollte nachher vorbei kommen. Sie wird sich wieder beschweren. Weiß nie, wo sie klingeln soll. Will mich schon seit Ewigkeiten dazu bringen, meinen Namen am Klingelschild anzubringen, mich zu ’nem Spießer machen.
Bei uns gibt’s viele Leute ohne Namen. Das iss in Kreuzberg halt so, sage ich immer. Da gewöhnt man sich dran. Außerdem, warum kann die Tante sich nicht mal merken, wo sie klingeln muss? So schwer kann das bei acht Klingeln nicht sein.
Ist doch nicht meine Schuld, dass sie ein Gedächtnis wie ein Goldfisch hat.
Aber Maja versteht ja auch nicht, wieso ich keinen Briefkasten brauche. Das läuft alles noch über Theo, meinen ehemaligen Mitbewohner. Da bin ich vor drei Jahren raus, und irgendwie klappt das ganz gut. Ist mein persönlicher kleiner Ausstieg, nehme ich an. Keine SIN, keine System-Identifikations-Nummer.

Jedenfalls hat sie mich bis jetzt immer gefunden. Ich weiß also gar nicht, was sie hat.
Auf dem Weg in die Küche fällt mein Blick wieder auf das Paket.
Wenn der dämliche Hellbein morgen nicht kommt, schlitze ich ihm vielleicht mal den Fahrradreifen auf. Der schließt das Ding eh immer so dumm-dreist überall an.
Strafe muss sein – vielleicht rafft er’s dann endlich.


Anmerkung von Mutter:

Anmerkung: Teil des Projektes „Vorgegebener Anfang mit vorgeschriebener Länge“. Guckstu hier:  Click me to project me ...

Erlaubt waren 1357 Wörter, dieser Text hat: 1357 Wörter. Punktlandung, Bullseye - nix mit 10% Toleranz. Die gilt nur bei 180 in der Fußgängerzone.

Lustiges Experiment, auch wenn die Texte sicher besser wären, wenn man nicht wie ein Haferflockerzähler jedes Mal den dummen Reiter ‚Extras’ bemühen müsste … :D

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Kommentare zu diesem Text

KeinB (29)
(13.01.09)
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 Mutter meinte dazu am 13.01.09:
Ja, "hat mich funktioniert" ... :D

Klingt irgendwie bekannt, die Geschichte mit dem Hammer - gibt's ja wahrscheinlich auch in den verschiedensten Formen, deswegen vermutlich sicher schon mal irgendwie irgendwo gehört.

Meine Ex hat immer gesagt, Höhepunkte seien ohnehin völlig überbewertet. Aber ja, so'n bisschen hatter mir auch gefehlt. Vielleicht fällt mir ja noch was Prickelndes ein, und dann findet man sicher vorher genug, was man wegschneiden kann ... ;)
KeinB (29) antwortete darauf am 13.01.09:
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 Mutter schrieb daraufhin am 13.01.09:
Na gut, ich geb's zu, ich hab' gelogen. ICH habe behauptet, Höhepunkte werden überbewertet, und zwar ihre. Ich nehme an, deswegen isses jetzt auch 'ne Ex ... :(

:D

Aber ich sollte mich nicht in irgendwelche Kommentar-Debatten mit KeinB verstricken, hat meine Tante Gerda immer gesagt - da kommt man nicht mehr raus, die will nämlich imma das letzte Wort haben ... ;)
KeinB (29) äußerte darauf am 13.01.09:
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 Mutter ergänzte dazu am 13.01.09:
Och, kannst es Dir auch selber als Mantra vor'm Spiegel aufsagen - zwanzig Mal. Ersparste mir die Arbeit ... ;)
Kitten (36)
(13.01.09)
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 Mutter meinte dazu am 13.01.09:
Dachte mir schon fast, dass ich da wieder zu viel Eisberg verwendet habe ... :D
Nicht mal die alte Hammerschmidt sieht mich kommen und gehen. Nachtgestalt.

Ist halt schwer, wenn man eigentlich gar nicht da ist. Ich kenn' das Problem von der anderen Seite - musste mal ein paar Wochen auf mein Paket warten, obwohl ich wusste, wer's hat.

Und vor die Tür legen würde man Pakte in allen Häusern, in denen ich in Berlin gewohnt habe, NIE. Es sei denn, man braucht es nicht mehr ... :D
Die klauen da sogar das Graffitti an den Wänden ...
Kitten (36) meinte dazu am 13.01.09:
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The_black_Death (31)
(13.01.09)
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 Mutter meinte dazu am 13.01.09:
Arrrghs ... :D

*losgehumharmlosesunschuldigeswortzueleminieren*

So, die haben Streichhölzer gezogen, und irgendein armes 'von' hat den Kürzesten gezogen ...

BÄMM

*aufatme*
Gibt doch in jedem Text genug unnütze Wörter ...

Danke ... :)
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