Der Abschiedskuss

Erzählung zum Thema Trennung

von  Mutter

Ich sitze im Bett, mit dem Rücken an die hölzerne Stirnseite gelehnt, alle drei Kissen hinter mich gestopft und sehe Manuel beim Packen zu. Während er herumgeht, seine wenigen Sachen in die kleine Sporttasche stopft, vermeidet er es, mich anzusehen. Ich nehme an, es hat unter anderem damit zu tun, dass ich mir nicht die Mühe mache, meine Brüste zu bedecken. Das Recht, sich meine nackten Brüste anzusehen, hat er vor wenigen Minuten freiwillig verwirkt.
Merkwürdigerweise hatte er bereits begonnen, zu packen, bevor er sich komplett angezogen hatte. Ich sehe also zu, wie er sich etwas unbeholfen seine Socken angelt und anzieht. Dann in seine Jeans schlüpft. Wundere mich über ihn. Dabei sollte ich ihn doch kennen, inzwischen.
Eben hat er den grauen Wollpullover in der Hand, den, den ich so sehr geliebt habe. An ihm, aber auch an mir. Den habe ich oft angezogen, und ich weiß genau, wie er riecht. Ist so eine ganz vertraute Mischung aus mir und Manuel.

Nehmen wir an, ich müsste eine Liste mit den schlimmsten Sünden beim Schluss-Machen erstellen.  Käme das Beenden einer Beziehung kurz nach dem Sex morgens vor oder hinter den Post-Its oder einer SMS? Ich bin nicht sicher, aber, es wäre definitiv unter den Top Drei.
Mir entfährt ein kleiner Seufzer.
Erschrocken sieht er zu mir hinüber. Fast zu mir hinüber.
Es ist echt schwer zu erkennen, warum jemand seufzt, wenn man denjenigen nicht ansehen will. Und fragen kann er natürlich auch nicht. Ahnt ja zumindest, warum ich wohl seufze.
Er greift unvermittelt in einen BH von mir. Lässt ihn wieder fallen, als stehe der unter Strom. Ich weiß, was er jetzt denkt. Natürlich denkt er an meine Brüste, die er so geliebt hat. Sicher mehr als ich seinen Wollpullover.
Ich betrachte ihn, wie er sich unsicher durch meine Wohnung bewegt und denke darüber nach, wie es wohl sein wird, keinen Manuel mehr zu haben.

Dabei bin ich gar nicht wirklich getroffen. Kein verletzter Stolz, kein Sich-Ungeliebt-Fühlen oder etwas, was mir tief im Innern wehtun würde. In mir gibt es nur so einen feinen leisen Schmerz, weil wir im Begriff sind, etwas sehr Schönes für immer zu verlieren. Und weil er keinen Schmerz, sondern nur Scham zeigt, muss ich den Verlust doppelt fühlen.
Für uns beide, sozusagen.
Irgendwie bin ich mir sicher, dass es nur kurze Zeit, vielleicht einen Monat, vielleicht zwei, dauern wird, und Manuel will reden. Er wird mir erzählen, wie leid ihm alles tut, wie vernagelt er doch war, und wie sehr ihm klar geworden ist, dass er mich braucht. Dass er ohne mich nicht leben kann.
Aber ich kann jetzt schon die Trauer spüren, die Wehmut der Gewissheit, dass es kein Zurück mehr für uns gibt.

Ich habe Manuel wirklich geliebt – ich hätte mir auch vorstellen können, mit ihm den Rest meines Lebens zu verbringen. Vielleicht mit ihm zwanzig Kinder auf einem Hof in Ost-Westphalen großzuziehen.
Aber er war nie die Liebe meines Lebens. Die Liebe, die so groß, so einzigartig ist, dass sie alles verzeiht, alles vergisst.
Wenn er das nächste Mal vor mir steht, dann werde ich bereits lange genug ohne ihn gelebt haben, dass mir klar geworden ist: Es muss nicht Ost-Westphalen sein, und es braucht auch keine zwanzig Kinder. Jedenfalls nicht mit Manuel.
Meine Liebe zu ihm war groß genug, um eine gemeinsame Zukunft zu planen, aber nicht groß genug, um diesen Verrat zu überstehen. Diesen zusätzlich so ungemein linkischen und tölpelhaften Verrat.
Er steckt die gestreiften Shorts in die Tasche. Die habe ich öfters angezogen, nur so zum Spaß. Bestimmt habe ich alle seine Sachen irgendwann schon einmal angehabt. Ich hab’ das oft gemacht. Manchmal, um ihn zu ärgern und manchmal, um ihn zum Lachen zu bringen. 

Welcher Kerl glaubt ganz ehrlich, dass es eine gute Idee sei, morgens mit der Freundin schnell noch eine Runde zu vögeln, um ihr dann zu sagen, dass man sich wohl besser eine Weile nicht sehen solle? Dass die Beziehung gerade in einer Sackgasse stecke?
Getoppt würde das vermutlich nur von einem, der die Beziehung beim Vögeln beendet.
Ich betrachte Manuel, während er weiterhin die Fragmente seines Lebens innerhalb meines Lebens zusammensammelt.
Frage mich, was da passiert ist.
Normalerweise ist er nicht so … merkwürdig? Nein, nennen wir das Kind ruhig beim Namen: Normalerweise ist er nicht so dämlich. Besitzt mehr Feingefühl – oder sogar einfach mehr gesunden Menschenverstand.

Ich muss wieder geseufzt haben, denn erneut schaut Manuel mich an, ohne mich dabei anzusehen. Das macht er inzwischen sogar ganz gut.
Dabei fällt mir auf: Ich habe ihn nie gefragt, wie er seine anderen Beziehungen beendet hat – möglicherweise hat er so viel Übung im Hinzusehen-ohne-Hinzusehen, weil er seine Beziehungen immer auf diese Weise beendet.
Wenn man es richtig gründlich macht, also das Schlußmachen, dann bekommt man ja auch hinterher vermutlich selten viel konstruktive Kritik.
Vielleicht fragt er mich gleich, draußen auf dem Flur: Und, wie war ich? So beim Schluss-Machen?
Du warst super, Manuel. Einsame Spitze.

Er scheint fertig, mit dem Fragment-Auflesen und dem ungelenken Anziehen, und steht etwas unglücklich mitten im Zimmer. Ich sage einfach mal nichts und sehe ihn aufmerksam an.
Jetzt steht er vor der Entscheidung, wortlos zu gehen, oder mich doch anzusehen. Er hat wenigstens den Anstand, Letzteres zu tun.
‚Ich glaube, ich habe alles’, sagt er kleinlaut und muss schlucken.
Mit einem Nicken antworte ich und stehe dann auf. Mache mir nicht die Mühe, mir was anzuziehen. Als ich an ihm vorbeigehe, merke ich, wie sehr er jetzt in Schwierigkeiten ist. Mich bloß nicht ansehen, diese Nacktheit, die er so gut kennt, bloß nicht eingehender betrachten.
Ich registriere seinen Angstschweiß, aber er ist mir egal. Es spielt keine Rolle für mich, ich nehme es einfach nur zu Kenntnis.
Im Flur öffne ich ihm die Wohnungstür, weit, und denke kurz darüber nach, was wohl der alte Herr Jablonski, mein Nachbar, sagen wird, wenn er mich dort so stehen sieht. Aber in dem kleinen Drama zwischen mir und Manuel ist für Herrn Jablonski und mögliche prüde polnische Gedanken kein Platz.

Im engen Flur muss Manuel ganz dicht an mir vorbei. So dicht, dass sein Arm fast meine Brustwarzen streift.
Er muss eine ganz merkwürdige seitliche Bewegung machen, weil er sonst nackte Haut berühren würde. Ich weiche keinen Zentimeter zurück, aber er schafft es trotzdem, ohne Körperkontakt nach draußen zu kommen.
Dann steht er da, im Hausflur, die alte Sporttasche über der Schulter, und schaut mich an. Wahrscheinlich ist er so erleichtert, es aus der Wohnung geschafft zu haben, dass auch der Nicht-Anschauen-Bann gebrochen ist. Etwas ungelenk schiebt er sich von einem Fuß auf den anderen, und ich muss fast lächeln, als ich diese Haltung wiedererkenne.
So hat er immer dagestanden, nach jedem Streit.
Wenn er beim Gehen nicht genau wusste, ob wir uns jetzt wieder vertragen haben oder noch im Streit lagen. Wenn er nicht genau wusste, ob er einen Abschiedskuss bekommen würde, oder nicht.
Ich sehe ihm ein letztes Mal in die braunen Augen, diese Augen, die ich so gut kenne, und schließe dann langsam die Tür.

Ich frage mich, wann er wohl rafft, dass er diesmal offensichtlich keinen Kuss bekommt.

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Kommentare zu diesem Text

inck (27)
(03.03.09)
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 Mutter meinte dazu am 03.03.09:
:)

Danke ...

 Isaban (03.03.09)
Gut und irgendwie überzeugend geschrieben. Aber: Kann wirklich jemand so durchweg selbstbeobachtend cool sein?

Liebe Grüße,

Sabine

(Es wurde übrigens mal eine Straßenumfrage unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, 16-25 Jahre, gemacht, wie man am besten Schluss macht. Am Telefon, per SMS und am besten nach dem Sex, damit man in guter Erinnerung bleibt waren unter den Top Ten (unter anderem) bei den männlichen Jugendlichen, bei den weiblichen waren außerdem (erstere wurden auch genannt) noch Gelegenheiten wie "im Restaurant, da kann er nicht so ausrasten", "schriftlich, mit dem Haustürschlüssel auf seinem BMW", "per Stepptanz auf seiner Plattensammlung" und "vor den Sommerferien, dann ist das Schlimmste überstanden, bis er dir wieder über den Weg läuft" genannt.)
(Kommentar korrigiert am 03.03.2009)

 Mutter antwortete darauf am 03.03.09:
'Vor den Sommerferien' finde ich super ... :D

 Isaban schrieb daraufhin am 03.03.09:
Ich glaube, nach dem Sex, bei Olli Geißen (oder wie die Nachmittagstanten da alle heißen) und per SMS ists am gemeinsten.
Steinwolke (65)
(03.03.09)
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 Mutter äußerte darauf am 04.03.09:
Mmmh, jaja, das mit der kalten Schnauze ... Ursprünglich war halt mal die Idee, dass die echt schon so abgegessen mit dem iss, dass sie den da so beobachten kann - aber vielleicht habt Ihr Recht, uns sie ist schon zu weit in der Umlaufbahn.

Hab' das allerdings schon mal versucht und bin nicht sicher, ob ich das hinkriege. Iss irgendwie widerspenstig die Kleine.

Und das mit dem 'ph': Überkompensation. Wahrscheinlich. :D
Da ich zu den Querköpfen gehöre, die am Liebesten immer noch 'Photografie' und 'Phantastik' schreiben würden, habe ich Westfalen da offenbar gleich mal mit eingemeindet.

Und kommt nicht sogar mein Vater aus Westfalen? O.o
Steinwolke (65) ergänzte dazu am 04.03.09:
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Angelika Dirksen (62)
(03.03.09)
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 Mutter meinte dazu am 04.03.09:
Tja, ich hab' ja ein paar so Texte, wo ich relativ früh die Info platzieren muss, wer da spricht ...
In diesem Fall haben mir die Brüste geholfen. :D
kontext (32) meinte dazu am 05.03.09:
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 Mutter meinte dazu am 05.03.09:
@ kontext: 1. Pffffff ...
2. Wäre das ohnehin keine Entschuldigung.

*edit: Unken = Unheil verkünden, schwarzsehen, Negatives prophezeien

?
(Antwort korrigiert am 05.03.2009)
kontext (32) meinte dazu am 05.03.09:
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 Mutter meinte dazu am 05.03.09:
Feuerkröte, ja?

Soso ...
kontext (32) meinte dazu am 05.03.09:
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inck (27)
(04.03.09)
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Leyla (29)
(20.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 20.04.09:
Ich glaube, bei der Stelle habe ich ohnehin weibliche Hilfe gehabt ... :)

Und ja (vor allem bezogen auf den Kommentar zum Zwei-Meter-Mann), sehe ja ein, dass das hier vielleicht nicht ganz gelungen iss.
Habe ich schon an anderer Stelle Schelte für bezogen. Aber ich hab's versucht, geschraubt und geprokelt, und am Ende ging irgendwie nich mehr ...
Soll vielleicht so sein. :)

Danke.
Leyla (29) meinte dazu am 20.04.09:
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 Mutter meinte dazu am 20.04.09:
Naja, gab ja schon mehr als eine (weibliche) Stimme, die berechtigte Zweifel angemeldet hat, ob das denn wirklich so (nachvollziehbar) (typisch) weiblich wäre ... und isses vermutlich nich.

Wie gesagt, geht manchmal besser. :)
Trotzdem wirklich danke. :D
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