Edi spürt die kühlen Grashalme unter ihren bloßen Füße, aber heute will es ihr keine Freude bringen. Sie findet an überhaupt nichts Freude heute. Ihre kurzen braunen Haare stehen ungekämmt in sämtliche Richtungen ab. Normalerweise hätte Großmama sie längst, sanft aber bestimmt, gekämmt und sie dann zum Gesichtswaschen geschickt. Aber Großmama ist noch nicht wieder zu Hause. Edi war mit Großpapa und Willi alleine. Willi ist Großpapas Kanarienvogel. Manchmal stellt sie sich eine Stunde lang vor seinen Käfig und sieht ihm zu, wie er sich putzt, oder einfach nur auf einer Stange sitzt.
Ella war mit Großmama gefahren, Edi hatte nicht mitgedurft.
Elaine ist 5 Jahre älter als sie, aber Edi fühlt sich mit ihren 9 Jahren schon fast erwachsen.
Großpapa hatte für sie beide gekocht: Spaghetti mit Tomatensoße. Die Soße war zu salzig und die Spaghetti waren zu hart, aber sie hat nichts gesagt, um Großpapa nicht zu kränken. Nach dem Essen stand Edi wieder vor Willis Käfig und beobachtete den kleinen Vogel. Großpapa schimpfte mit ihr, er will nicht, dass sie so nah an Willis Käfig geht, dabei fühle sich Willi nicht wohl, sagt er immer.
Sie spürt die Blicke von Großpapa auf ihr ruhen und sie versucht so normal wie immer zu wirken. Scheinbar geduldig fügt sie die Gänseblümchen in ihrer Nähe zu einem Kranz zusammen. Dabei wühlt sich ein unbekanntes Gefühl durch ihr Innerstes und ihr ist heiß und kalt zugleich.
Willi war Großpapa wichtig.
Sie würde Großpapa weh tun, so wie er ihr weh getan hatte.
Die Idee beflügelt sie.
Großmama sagte doch immer: „Wie du mir, so ich dir.“
Das traf sicher auch auf Großpapa zu.
„Werde dir auch weh tun, auch weh tun...“, summt Edi leise grinsend vor sich hin und legt sich den Gänseblümchenkranz auf den Kopf.
Eine Stunde später verschwindet Großpapa im Badezimmer und Edi tritt ein letztes Mal an Willis Käfig.
Er schlägt seinen kleinen Schnabel panisch in ihre Handfläche und hinterlässt kleine blutende Löcher, aber Edi zieht ihn, ohne darauf zu achten, sicher in ihrer Hand geborgen, aus dem Käfig. Dann legt sie beide Hände um Willi und drückt langsam zu. Unter ihren Händen spürt sie Willis Widerstand, er ebbt schnell ab. Zu schnell.
Es ist zu wenig. Viel zu wenig. Der Schmerz und das unbekannte Gefühl, von dem sie nun glaubt, dass es Hass ist, brennen noch immer wie Feuer in ihr. Sie legt den nun reglosen Kanarienvogel zurück in seinen Käfig und betritt die Küche.
„Dir weh tun... dir weh tun...“
Einen Moment lang steht Edi unschlüssig in der Küche, dann erinnert sie sich an ein Ereignis vor zwei Jahren, wobei sie sich an einem scharfen Messer geschnitten hatte.
Ihr Blick huscht nun zu dem großen Messerblock neben der Spüle. Zu dem Messerblock, den sie eigentlich nicht anrühren darf. Unbeholfen zieht Edi das größte der Edelstahlmesser heraus. Es wiegt schwer in ihrer kleinen Hand, aber in ihren Augen glimmt Entschlossenheit. Ein nahezu unmenschliches Grinsen läuft über ihr Gesicht. Einen Schritt vor den anderen setzend, läuft sie den Flur entlang. Hinter der vorletzten Tür, auf der linken Seite ist das Badezimmer. Leicht schwankend geht sie darauf zu, taumelt gegen die Wand. Ein Bild von Großmama und Großpapa an ihrer Hochzeit fällt hinunter. Das Glas splittert und im Badezimmer wird das Wasser ausgestellt. Großpapa horcht, denkt Edi, reckt das rundliche Kinn nach oben und wartet. Nach einigen Sekunden wird im Bad wieder das Wasser angestellt.
„Dir weh tun... dir weh tun...“
Großpapa liegt auf dem Duschvorleger, die Hände auf den Bauch gepresst. Blut quillt zwischen seinen Fingern hervor. Es verunsichert Edi, das hatte sie nicht gewollt.
So viel Blut...
Sie sieht Großpapa in die Augen und wendet sich ab, das Messer rutscht aus ihren Händen. Klappernd schlägt es auf den Fliesen auf.
Im Garten lässt sie sich fallen, der Gänseblümchenkranz rutscht ihr vom Kopf und landet neben ihr im Gras. Es riecht wie ein ganz normaler Sommertag und Edi fängt an zu weinen.