Die Mittagpause war gerade vorbei und alle Kollegen schlenderten, ein wenig zu satt, durch das Werk, aus der Kantine zurück zum Büro. Schlenski war nicht mit dabei. Er hatte den ganzen Tag Meetings und Telefonkonferenzen und machte sich ansonsten auch meistens recht rar.
Als die Kollegen nach der obligatorischen Zigarette und dem Anstieg durch das Treppenhaus, erschöpft und bereit für den Nachmittag, auf dem Weg zu ihren Schreibtischen an seinem Büro vorbeikamen, sahen sie ihn, wie er, neben sich den Telefonhörer liegend, in völliger Erstarrung aus dem Fenster sah.
Draußen war lausiges Wetter und der Anblick der traurigen Bodendecker auf der Grüninsel des Atriums machte es auch nicht besser. Schlenski erhob sich langsam, ließ Aktentasche und Brotbüchse liegen, nahm seinen Schlüssel und machte sich auf den Weg; weg vom Büro.
Aus dem, neben dem Telefon liegenden, Hörer drang im New-England-Englisch Keith's unaufhörlicher Redeschwall von Laubfärbung und Indian Summer.
Schlenski war schon weit, weit weg.
Weit weg. Das wollte er auch sein, einfach entkommen. Sich dem Alltag entziehen. Alle rennen immer nur ins Büro, erledigen irgendwelche Abläufe am Computer, aber wenn irgendwann einmal der Strom weg ist, war alles für die Katz.
Letztes Jahr zur Weihnachtsfeier hat er von seinem Chef eine Belobigung bekommen. 200 Euro und ein Händedruck vor dem gesamten Team. Wegen ausgezeichneter Recherchearbeit im vergangenen Jahr. Dabei hatte Schlenski nichts weiter zu tun, als akribisch Aktenstapel und Dateiinhalte umzugraben, auf der Suche nach einem Memo, das einen Geschäftspartner wegen Veruntreuung ans Messer liefern würde. Schlenski wurde fündig.
Natürlich hatte das allgemein Konsequenzen. Alle Partner mussten sich einer strengeren Prüfung unterziehen, das Misstrauen stieg. Es war ja nicht mal sicher, ob der Geschäftspartner die Information absichtlich, von sich aus oder lanciert durch einen Kollegen weitergegeben hatte. Jedenfalls hatte es Schlenski in der Hand. Und er hatte es so satt.
Für Frau und Kinder hat in seinem Leben die Zeit nicht gereicht. Da fiel ihm wieder ein, was er einmal an einer Skulptur gelesen hatte. Die Skulptur war ein Schafstorso aus Kunststoff.
"als dem menschen die natur scheinbar nicht mehr genügend zu bieten hatte
domestizierte der mensch die tiere als die zuchttiere dem menschen nicht mehr
genügend bieten konnten erschuf er sich etwas neues künstliches damit er den
anfang nicht vergass gab er ihm ein natürliches aussehen leider vergaß der mensch
sich dabei selbst"
Frau und Kinder. Dafür war es jetzt wohl zu spät. Das Leben wollte er genießen, wenn er endlich das Geld dafür zusammen hatte. Hatte er natürlich nie. Immer war etwas dazwischen gekommen. Ein neues Auto, ein weiteres Haus, Renovierungen, teure Hobbies und all das nur, um den anderen Bürozombies in nichts nachzustehen. Dabei hatte auch Schlenski sich selbst und seine Träume fast vergessen. Bis zu jenem Tag, als er das Büro verließ.
Das ist jetzt schon beinahe einen Monat her. Anrufe seines Chefs und seiner Mitarbeiter - alle unbeantwortet. Briefe, Drohungen, Mahnungen und schließlich, die Kündigung.
Nicht, das Schlenski nicht selbst hätte kündigen können. Klar wäre das gegangen. Erklärungen, "Viel Erfolg für das weiter Leben!", "Neuer Job, was ?", und immer wieder ein Akt der verhaßten Verwaltung. Verwaltet werden und verwalten. Nullen und Einsen. Unterschriften und Formulare. Prozesse und Prozeduren.
Aber wo blieb der Mensch. Hatte der Mensch Schlenski jemals eine andere Rolle denn als Cost Center oder als Profit Center gespielt? Schlenski wollte endlich Schlenski werden.
Nun steht Schlenski schon eine Weile sinnierend vor dem Schalter am Flughafen und findet sich nicht zurecht in den bunten, "Last Minute" schreienden Auslagen der Reiseanbieter. Erst wollte er Keith besuchen. Aber was war das denn anderes als die öde Grüninsel im Atrium seiner früheren Firma.
Keith hatte doch nur geschwärmt, weil er genau wusste, wie es in Schlenskis trostlosem Büro ausgesehen hatte. Privat hatte Schlenski nichts mit Keith zu tun. Es war weniger die Vorstellung eines besseren Herbstes als vielmehr die Erkenntnis, dass sich etwas ändern müsste.
Als Schlenski sich dessen bewusst geworden war, wendete er sich ab und verließ den Schalter. Genau da wollten sie Ihn doch hin haben. Geld verdienen und dann ab in die schöne Mittelmäßigkeit einer Fernreise mit Anspruch. Nur damit er sich das nächste Mal eine noch weitere, noch exotischere und, eventuell noch gefährlichere Fernreise buchte, für die er dann noch mehr Geld verdienen musste.
Völlige Überflutung. Wenn die Kohle alle ist, könnte er ja wieder in der alten Firma anfangen. Aber zu welchem Preis. „Na, Schlenski, Auszeit genommen? Naja, der Gebhardt hat ja jetzt Deinen Job. War ja auch `ne blöde Sache, wie Du so weg bist. Aber jetzt geht’s wieder gut, oder?“ „Kannst gleich mal bei Gebhardt vorbeischauen, der sucht noch einen Projektassistenten. Wird schon wieder!“.
Im Leben würde sich Schlenski dieser Schmach nicht hingeben. Wieso aber Schmach. Man muss doch etwas arbeiten, um zu Leben! Eben, das war das Problem. Weder konnte jemand Schlenski den Sinn des Lebens, noch jemand Schlenski den Sinn der Arbeit richtig erklären. Beides, Leben und Arbeiten hatte er verlernt. Aus Arbeit war Gehorsam, aus Leben Konsum geworden. Als sich Schlenski umgedreht hatte hörte er vom Schalter noch die Junge, dynamische Kundin im Gespräch mit der allzeit gut gelaunten Verkäuferin: „Ich müsste mal ein 4 oder 5 Tage raus, was käme denn da so in Frage?“ „Also am Besten Boston. Von da können Sie dann auch gleich noch …“
Kopf schüttelnd ging Schlenski, leicht grinsend, davon. Im Zug an die Nordsee fragte er sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die beiden Frauen am Schalter sich der Belanglosigkeit ihrer Unterhaltung bewusst würden. Oder, vielleicht auch nicht.