Kapitel2 - Flucht

Roman zum Thema Flucht/ Vertreibung

von  volpe

Seit ihrem Gedächtnisverlust waren einige Tage vergangen. Syri hatte sich damit abgefunden, dass Me ihr nichts erzählen wollte und half ihr so gut es ging auf dem Hof. So konnte sie sich wenigstens etwas revangieren.
Eines Abends, Syri hatte sich ein wenig hingelegt, da sie noch immer etwas geschwächt war, wurde sie durch laute Stimmen vor dem Haus geweckt. Gerade wollte sie nachschauen, was dort los war, als Me in das Zimmer gestürzt kam. Sie war blass und ihre Hand, die auf der Türklinge lag, zitterte.
"Syri, schnell, du musst verschwinden! Lauf zum Schuppen, dort unter dem Stroh ist ein Geheimgang. Er ist schmal, aber du solltest mühelos hindurchpassen." Erschrocken sah Syri Me an. Was ging hier vor sich? "Los, Syri, nun mach schon!" Me zog sie am Arm, drückte der Elfe ihr Schwert in die Hand und schob sie zur Hintertür. Syri wollte schon zum Schuppen hinüberlaufen als ihr auffiel, dass Me ihr nicht folgte, sondern stattdessen zur Eingangstür ging.
"Me? Wo willst du hin?" Me schaute sie traurig an und eine Träne lief ihre Wange hinunter. "Flieh, Syri! Ich werde sie ablenken. Es ist nicht wichtig, was mit mir geschieht. Wichtig ist nur, dass du deinen Auftrag erfüllst!" Me drehte sich um und ging. Ungläubig blickte Syri ihr hinterher, ehe sie sich mühsam abwandte und zum Schuppen lief. Wenn Me sich schon für sie opfern wollte, dann sollte dieses Vorhaben nicht durch unnötiges Zeitverplempern gestört werden. Auch wenn sie nicht so recht verstand, was hier überhaupt vor sich ging.

Im Schuppen angelangt kniete Syri sich neben den Strohhaufen und tastete mit ihrer Hand den Boden ab. Beim ersten Anlauf wurde sie jedoch von einer aufgeschreckten Maus gebissen. Fluchend setzte die Elfe ihre Suche mit der anderen Hand fort und als sie schließlich eine Klappe im Boden ertastet hatte, befreite sie die Stelle vom Stroh und öffnete den Geheimgang. Zu ihren Füßen befand sich ein quadratisches Loch.
Langsam ließ Syri sich in dieses gleiten, sodass nur noch ihr Scheitel zu sehen war. Vor ihr erstreckte sich nun der Geheimgang, doch selbst der schlanken Elfe kam er recht schmal vor. Aufrecht würde sie durch diesen Gang augenscheinlich nicht durchqueren können.
Zögernd zog sie die Klappe hinter sich zu, um nicht allzu bald von ihren Verfolgern entdeckt zu werden. Nun umgab sie völlige Dunkelheit. Die Luft war feucht und es roch nach Erde, was wohl kaum verwunderlich war, denn immerhin war der Gang nur eine Art Tunnel und kein Luxuskorridor.
Auf Knien und Händen tastete Syri sich nun langsam in den Gang hinein. Schon bald war ihre Haut aufgeschürft und auf ihrer Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Wie weit mochte sich der Tunnel wohl erstrecken? Und wie lange würde der Sauerstoff ausreichen? Lüftungsschächte schien es ja keine zu geben. Wo würde sie rauskommen? Und... was war mit Me geschehen?

Energisch schüttelte Syri den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um über solche Dinge nachzudenken. Sie musste sich konzentrieren und möglichst schnell den Ausgang erreichen. "Du schaffst das, Syri!", murmelte die Elfe, wie um sich selbst zu ermutigen, "Du bist schon einmal schwer verwundet dem Tod entkommen, dann wirst du auch so einen verdammten Tunnel lebend verlassen!" Syri... noch immer klang ihr eigener Name für sie ungewohnt, doch er hatte etwas Beruhigendes an sich. Mit neuem Ansporn krabbelte Syri weiter, bis sie plötzlich ein Geräusch weit hinter sich vernahm. Was war das?

Während die anderen sich um das Haus und seine Besitzerin kümmerten, war eine der Gestalten zielstrebig zum Schuppen hinüber gegangen. In ihrer Hast hatte Syri vergessen, die Schuppentür hinter sich zuzuziehen, und das war ihrem Verfolger nicht entgangen. Doch nicht nur die offenstehende Tür konnte ihn dorthin gezogen haben, denn kaum war er im Innern des Schuppen, da tastete seine Hand auch schon zielstrebig den Boden ab und wesentlich schneller als Syri wurde er unter der nun nur noch spärlichen Strohschicht, die sich nach dem Schließen der Klappe wieder über diese gelegt hatte, fündig.
"Hey, ich hab hier was!", rief er so laut, dass auch die Gestalten im Haus ihn gehört haben mussten. "Vergesst die Alter, sie ist überflüssig. Ich weiß, wo die Kleine hin ist." Inzwischen waren drei andere Personen zu im gestoßen. Eine davon trug eine Petroleumlampe bei sich und leuchtete vorsichtig in das Loch. "Zu eng für uns, verdammt! Wir werden ihr wohl überirdisch folgen müssen."


Längst waren die Stimmen hinter ihr verstummt und endlich schien es auch ein wenig heller zu werden. Bald schon erblickte Syri ein Stück weit voraus einen schwachen Lichtschein. War das der Ausgang? Hatte sie es geschafft? War sie nun endlich in Sicherheit? Ihre Anspannung schien sich langsam zu lösen, doch dadurch wurde sie auch unachtsam und stieß mit dem Kopf an eine große Baumwurzel, die in den Tunnel ragte. Fluchend hielt Syri kurz inne um sich die Stirn zu reiben, ehe sie weiterkroch. Nun konnte sie den Ausgang deutlich erkennen.
Seufzend atmete die Elfe die frische Luft ein und streckte vorsichtig ihren Kopf ins Freie. Um sie herum war es dunkel. Die Nacht war hereingebrochen. Im Schein des Mondes, der durch ein Loch im Blätterdach fiel, erkannte Syri die Umrisse einiger dichtstehender Bäume. Offensichtlich befand sie sich in einem Wald. Links und rechts des Ausgangs befand sich etwas Festes, holzartiges und als sie sich umdrehte erkennte sie, dass der Ausgang zwischen den Wurzeln eines riesigen Baumes lag.
Mit letzter Kraft zog Syri sich aus dem Geheimgang und blieb erschöpft auf dem Rücken liegen. Ihr Blick schweifte zu den Sternen. "Welch wunderschöner Nachthimmel doch über all diesen furchtbaren Ereignissen liegt", dachte sie und schlief ein.

Syri erwachte durch ein feuchtes Gefühl im Gesicht. Sie wollte sich die Wange abwischen, doch ihre Hand stieß gegen etwas Warmes und Pelziges. Erschrocken fuhr sie auf und öffnete schlagartig die Augen. Zeitgleich hatte sie instinktiv ihr Schwert gezogen und richtete es nun auf einen dunklen Wolf, der zwei Schritte von ihr entfernt stand. Syris plötzliches Aufspringen hatte ihn erschreckt, sodass er zurückgewichen war, doch nun kam er, von ihrem Schwert scheinbar vollkommen unbeeindruckt, langsam wieder auf sie zu.
Aufmerksam musterte Syri den Wolf. Sein Fell war pechschwarz und schien geradezu mit der Umgebung zu verschmelzen. Anders jedoch die Augen: diese leuchteten in einer rubinroten Farbe und blickten sie ruhig, aber durchdringend an. Trotz seiner unheimlichen Erscheinung schien von dem Tier keinerlei Gefahr auszugehen und erleichterte steckte Syri das Schwert zurück in seine Scheide, die sie sich während ihrer Flucht auf den Rücken geschnallt hatte.
Direkt vor Syri hielt der Wolf inne und setzte sich auf seine Hinterläufe. Die Beiden mussten sich wohl noch eine ganze Weile regungslos angestarrt haben, bis plötzlich näherkommende Stimmen zu vernehmen waren.

"Wieso bist du dir so sicher, dass der Gang ausgerechnet hier irgendwo endet?" "Na überleg doch mal, der Wald liegt nicht allzu weit vom Haus entfernt und mitten auf dem Feld wird der Ausgang wohl nicht sein." "Ja, schon, aber wieso hier? Wieso nicht weiter östlich oder westlich? Oder vielleicht ist der Tunnel ja noch viel länger..." "Dann würde die Sauerstoffversorgung nicht ausreichen. Außerdem habe ich so meine Quellen..." "Quellen? Aber die Alte wollte doch gar nicht reden, deshalb haben wir sie ja auch 'ruhiggestellt'. Oder wusstest du etwa schon vorher...?" "Ja und jetzt sei endlich still, wir sind gleich da."

Wie gelähmt hatte Syri den beiden Stimmen zugehört. Jemand wusste von dem Gang? Und das schon lange vor dem Überfall auf das Haus? Und... sie hatten Me 'ruhiggestellt'? Was hieß das? War sie... tot? Ein unerwartetes Zwicken in ihrem linken Bein riss Syri aus ihren Gedanken. Der Wolf stand nun neben ihr und hatte ihr leicht ins Bein gebissen. Als er sich sicher zu sein schien, dass die Elfe ihm ihre Aufmerksamkeit widmete drehte er sich um und setzte sich in Bewegung. Syri zögerte zunächst, ehe sie beschloss, ihm zu folgen. Immer wieder drehte das Tier den Kopf, als wolle es sich versichern, dass sie auch ja hinter ihm blieb. Schließlich beschleunigte es sein Tempo, sodass die Elfe nun laufen musste, aber dennoch problemlos mithalten konnte.
Gerade als Syri jedoch der Erschöpfung nahe war, stoppte der Wolf plötzlich. Zu den anfänglichen Laubbäumen hatten sich auf ihrem Weg mehr und mehr Nadelbäume gemischt und der Boden war unebener als zuvor. Zudem erstreckte sich nun vor ihnen eine, zumindest bei Nacht, unheimlich wirkende Felsformation. Erneut wandte der Wolf sich zu Syri um und verschwand dann zwischen den Felsen. Wohin hatte er sie geführt?

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram