Tagebuch des JWSCG (oder Hommage an Christian Morgenstern)

Tagebuch zum Thema Persönlichkeit

von  Schreiber

Hommage an Christian Morgenstern

Das nachfolgende Manuskript wurde als handschriftliches Fragment in einer Hausmüllverbrennungsanlage gefunden. Die Umstände sind nicht näher bekannt.
Es liefert einen wertvollen und ungeschönten Einblick in die persönlichen Sorgen und Hoffnungen eines Mitmenschen, der uns überall begegnen könnte. Somit ist diese Schrift Teil unseres Kulturverständnisses und wurde neben dem Hildebrandslied ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen.
Hier nun der erste unveränderte Nachdruck für ein breiteres Publikum außerhalb von Forschungseinrichtungen und Universitäten:



Mein Name ist Gutglaub.
Ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich heiße einfach so: Curt Gutglaub.
Ab jetzt werde ich Tagebuch führen. Sogar Zar Nikolaus hat Tagebuch geführt, ein stinklangweiliges. Alle großartigen Persönlichkeiten, die guten wie die schlechten, haben das gemacht. Für die Seite, der ich mich zurechnen möchte, habe ich mich noch nicht entschieden. Es erscheint mir bedenklich, mich widerstandslos den harmlosen Zeitgenossen beiordnen zu lassen. Man muss Charakter zeigen, wenn man sich nicht unterbuttern lassen will. Und ein vorzeigbarer Charakter ist in den meisten Fällen nichts weiter als Aggressivität oder Hinterlistigkeit. Wenn gesagt wird, der und der habe aber Charakter, also vor dem sollte man sich dann wirklich hüten. Andererseits möchte ich nicht charakterlos erscheinen. Die Entscheidung ist schwierig.

Aber jetzt muss es losgehen mit der Tagebucherei.
Ach so, ich sollte mir zunächst Gedanken um die Struktur der Aufzeichnungen machen.
Da wären vorangestellt das Datum, der Ort und die Wetterdaten, dann die körperliche Befindlichkeit und abschließend der (schon extrem) subjektive Report zum Tage.
So müsste es gehen.
So mach ich das mal.

Mittwoch, 9. September 2005
Regensburg
Warme, sonnige Herbstidylle, windstill, früh 6 Uhr etwa 11°C, tagsüber bis 23°C steigend, aber abends doch 20 Uhr schon dunkel und unangenehm kühl.
Ich bin gesund, zumindest innerhalb des Rahmens, der für den zivilisationsdeformierten Industriebürger als normal und arbeitsfähig definiert worden ist, ein Spielraum, der unscharf zwischen Asthmaanfall, Depression und Herzinfarkt liegt. So gesehen fühle ich mich nicht nur gesund sondern auch leistungsbereit.
Ich bin zeitig in der Produktionsstätte erschienen, kurz nach sieben, denn ich muss Fehlzeiten ausgleichen. Ich fehle halt auch ab und zu. Nein, nicht den ganzen Tag, das würde meinen Chef unruhig werden lassen, aber mal ein Stündchen eher nach Hause gehen, bei dem Wetter… das ist doch normal, wenn man Gleitzeit hat. Deswegen gibt es die ja.
Ich arbeite in einem angenehm eingerichteten Büro und produziere beschriebenes Papier. Die inhaltlichen Vorgaben sind leider eng und der Leserkreis ist klein, aber ausgesprochen kritisch, was Einhaltung oder Verfehlung des jeweiligen Themas angeht.
Heute habe ich mit meinem Chef gestritten, es ihm aber nicht gesagt. Er muss nicht alles wissen. Weil mir Streit unangenehm ist, bin ich vorhin in eine verlängerte Mittagspause eingetreten. Wie verlängert, das ist doch egal. Mir jedenfalls hat es nicht genügt, wirklich nicht, aber mich fragt keiner. Mich fragt nie einer. Nur eben der Chef manchmal. Und das Zeiterfassungssystem dauernd. Das war heute Mittag außer Betrieb. Schön.
Vorn an der Ecke beim Fleischer bin ich für stolze 4,95 Euro einem Blumenkohlauflauf mit Kartoffeln nicht entkommen. Im Grunde bin ich ein wenig zu dick, aber es ging nicht anders.
Am Nachmittag habe ich vierundsiebzig Papierflugzeuge gefaltet, alle aus misslungenen Schreibversuchen zum Thema Arbeitszeitausnutzung. Dazu musste ich die sämtlichen angefangenen Texte erst noch auf dem Rechner in meinem Arbeitsverzeichnis wiederfinden und ausdrucken, eine anstrengende Sache. Bis jetzt eben hatte ich noch alle Hände voll zu tun, die gefalteten Objekte im Aktenvernichter unkenntlich zu machen.
Der Zyklus drucken, bearbeiten, entsorgen hat mich voll gefordert.
Ich bin gespannt auf morgen.


Dienstag, 15.9.05
Regensburg
Regnerisch und kalt (8°C früh) seit Tagen. Heute soll es aber wieder sonniger werden.
Schmerzen in der linken Kniekehle lassen mich schaudernd an Chirurgen, Blut und Rollstühle denken. Es wird bald vorbei sein mit der Lebensfreude. Habe ich eigentlich meinen Nachlass geregelt?
Ich philosophiere erneut über Papierflugzeuge, gefaltet aus Kohlefaserverbundpapier. Da könnte ich mich reinsetzen und abfliegen. Ich kenne aber bisher keinen Hersteller von solchem Verbundpapier. Schade.
Am Wochenende bin ich mit einem Außerirdischen vier Stunden lang im Zug gefahren. Er hatte die Gestalt eines promovierten Astrophysikers angenommen, der weltweit mit den Lebensverhältnissen nicht klar kommt. Drei Kinder, alle schon in der Schule, seine Frau mit abgebrochenem Medizinstudium zu Hause, das alles muss er mitschleppen, wenn er zwischen den Universen wandert. Das endlose Gespräch war sicher nur ein Trick, um von mir die grundlegenden Verhaltensmuster der Menschen abfragen zu können. Ich habe mich bedeckt gehalten. Am Ende wäre der mich vielleicht noch um Geld angegangen. Aber er hat mich auf Kohlefaserverbundpapier gebracht. Es kann ja sein, dass das in seiner Galaxis ein verbreiteter Werkstoff ist. 19:59 Uhr trennten sich unsere Wege auf dem Hauptbahnhof in Leipzig, hoffentlich für immer.   
Übrigens, 10:00 heute hat der Regen aufgehört.
Ich habe nicht herausfinden können, warum die gute alte Bockwurstbude aus dem Bild der öffentlichen Flächen gänzlich verschwunden ist. Das ist ein tiefgreifendes Problem, dessen Erforschung ich mich widmen werde. Es handelt sich um ein Kulturgut, dem wieder Refugien geschaffen werden müssen. Bratwurststände kennt inzwischen jeder. Bockwurstbuden sind ausgestorben. Ich bin fassungslos.
Mein Kühlschrank hat am Abend eine Flasche Bier erschaffen. Ich kann mich nicht erinnern, sie gekauft zu haben. Damit ist mein Kühlschrank das erste verbürgte „Tischlein deck dich“ der Neuzeit. Ich muss das der BILD mitteilen. Das ist sensationell. Obwohl ich dem Kühlschrank übel nehme, dass er eine völlig namenlose Billigbiersorte hergestellt hat, die offensichtlich keinen richtigen Werbeetat hat. Dafür werden wir nicht einspringen, der Kühli und ich, nicht für nass.
Mein Nachbar ist seit Monaten nicht mehr in seiner Wohnung gewesen. In meiner aber auch nicht. Ich bin von niemandem mehr umgeben oder wenn doch, dann nur noch von fremden Menschen. Sollte ich umgezogen sein? Ich hätte es bemerken müssen. Andererseits, der Alkoholiker von gegenüber hat mir vorhin das DU angeboten, ganz zwanglos. Eine nette Geste unter Aristokraten. Wenn aber der noch da ist, dann bin ich auch noch da, somit also nicht um-, aus,- oder weggezogen. Ich kann stolz sein auf so viel Logik im Denken.
Der Tag hat mich erneut bis an die Grenze meiner Belastbarkeit gefordert. Ich musste mich auf ein Gespräch mit dem Chef unter vier Augen vorbereiten. Dann kam aber alles ganz anders. Mein rechtes Auge war völlig zugeschwollen. Dafür habe ich keine Erklärung. Eine Disputophobie vielleicht. Inzwischen ist es aber wieder in Ordnung. Das Gespräch verlief übrigens auch unter drei Augen ohne Besonderheiten. Wir haben über die Senkung des Papierverbrauches am Abteilungsdrucker gesprochen. Ich konnte aus eigenem Erleben heraus vorschlagen, künftig endlich mal jene Kollegen zur Rechenschaft zu ziehen, die unsinnige Dinge drucken, manchmal unverschämt gleich vierundsiebzig Blatt.
Dilbert Comics gehören da auch dazu. Die lenken nur ab von den wirklichen Aufgaben, gerade der Dilbert mit seinen führungsfeindlichen Bemerkungen. Ich muss dazu sagen, dass ich schon lange vor Dilberts Zeit aus ähnlichen Gründen einmal eine Abmahnung wegen „Insubordination“ bekommen habe. So gesehen sind diese Bildchen ein bösartiger Aufruf zum Betriebsfriedensbruch. Ich mag sie.
Am Abend ist die Sonne heraus gekommen. Es könnte ein schöner Spätsommer werden. Ich habe noch ein wenig das Wachstum des Löwenzahnpflänzchens zwischen den Steinplatten meines Wohnungszuganges beobachtet. Darüber sind das Billigbier und das Tageslicht zur Neige gegangen.
Prost auch!
Ich gehe jetzt schlafen.


Mittwoch, 16.9.05
Regensburg
Nebliger Morgen mit immerhin 14°C, trocken, fast windstill. Über den Vormittag hin aufklarend bis zum Sonnenschein und 20°C mittags.
Ich bin heute irgendwie zermatscht. Alles nehme ich durch den Schleier der Erschöpfung wahr. Er hat sich aber bis zum späten Vormittag so weit gehoben, dass mir wieder bösartige Antworten auf wohlwollende Fragen aus meiner Umwelt einfallen.
Meine morgendliche Fahrt in die Produktionsstätte habe ich 7:00 Uhr unterbrochen, weil da der Supermarkt öffnet. Ich habe erkannt, warum. Noch vor Schulbeginn, noch bevor Kinder auftauchen, übernimmt er die Erstversorgung der Trinker. Das hat richtig was Soziales. Auch ich habe mich eingereiht in die Schlange am Pfandautomaten, aber unter den Profis bin ich mit meinen Mineralwasserflaschen ein Niemand, ein Weichei, der kümmerliche Exot aus der Randgruppe, der mit seinem von Zahnpasta aromatisierten Atem die restalkoholschwere Luft verpestet. Sie mögen mich nicht. Meine einzelne Billigbierflasche hat als Vorzeigealibi nicht getaugt. Ich sehe die misstrauischen Blicke. Dabei wollte ich nur mein Pfandgeld holen.
Fort, weg, raus, endlich in die Produktionsstätte.
Da welken die Blumen, die auf meinem Schreibtisch. Ich denke, das könnte eine Warnung sein. Der Morgen ist voller Warnungen, ein einziges Voodoo-Erlebnis, grauenvoll.
Über den Himmel zieht nun, da ich den Blick zum Fenster wende, ein silbergraues Kriegsgerät, ein gruseliges Spielzeug mit einem Permanentdonner in der Schleppe, der an- und abschwellend nichts weiter verbreitet als Unbehagen. Dafür zahle ich Steuern, damit mir das mal auf den Kopf fällt. Ich werde eine neue Partei gründen, die Bundestagswahl gewinnen, die nächste, und dann gibt es mich als den Diktator, der alles abschafft, was nicht in diese Welt passt. Flugzeuge zuerst. Mit Flugzeugen reisen alle Seuchen im Stundentakt von Kontinent zu Kontinent, Seuchen wie Bomben, Soldaten, Ebola, Typhus und Terroristen. Das brauche ich nicht. Das braucht niemand. Aber die meisten wissen das noch nicht. Ich, der Diktator der Vernunft, die Inkarnation des Weltgeistes, ich werde es allen sagen und Abstinenz vom Flugzeug verordnen.
Mit diesem Ziel vor Augen stürze ich mich in den Tag und bin sofort wieder müde und erschöpft von so viel großartigem Wollen. Ich ahne schon die verständnislose Ignoranz, die mir wie ein zähes Magma entgegenschwappen wird. Verkannt und namenlos treibe ich einer Zukunft entgegen, in der mir nicht einmal Verachtung zuteil werden kann, weil mich halt keiner kennt. Und dafür zahle ich Steuern!? Das ist eine herrlich blöde Frage. Die passt nie und doch immer. Ich sollte mich mehr in Polemik üben, schon wegen der nächsten Wahl, meiner Wahl zum seligmachenden Diktator, Imperator und Generalissimus Jossif Wissarionowitsch S. C. Gutglaub, der Mann, der stehend sterben wird. Ich muss mir diesen Titel zulegen, weil er mir gerecht wird. Und ich muss ab sofort danach leben, mehr noch, ich muss entsprechend auftreten. Dann werde ich wählbar.


Dienstag, 22. September im Jahre minus4 des Diktimperalissimus JWSCG.
Regenspfalz
Wir haben Kaiserwetter befohlen, mittags wieder 26°C, wie gestern auch.
Unsere Körperlichkeit hat eine Stabilisierung und innere Entfaltung erfahren, die sich aus der meditativ gewonnenen Erkenntnis speist, dass vermutlich nur Gott unser Stellvertreter auf Erden sein kann. Wir haben ihm Quartier bereitet und Speisung eingelagert, dass er sich wohlfühlen möge, wenn er sein neues Amt anritt. Nun muss er nur noch kommen.
Jeden Tag eine gute Tat. Das Vorige können wir so einordnen und beurkunden lassen.
Zwischendurch haben wir noch einmal die Produktionsstätte mit unserem Besuch beehrt. Das waren Perlen vor die Säue geworfen. Unser absehbarer Aufstieg in und über die Weltführungsriege ist durch die dem primitiven Erwerb huldigenden Untertanen noch nicht einmal im Ansatz erkannt oder gar gewürdigt worden. Wir wurden behandelt wie ein einfacher Angestellter. Hier sind noch unerhört viel Arbeit und Aufklärung notwendig. Das können wir nur vor Ort leisten, im Angesicht der Ignoranz.
Und so sind wir auch heute wieder dem Drange erlegen, diese Aufklärung zu betreiben, behutsam, einfühlsam und dennoch konsequent. Unser Gegenüber zum Beispiel wird noch lange brauchen, um die Umkehrung der Abhängigkeitsverhältnisse zu erkennen und zu verinnerlichen. Wir lassen ihm Zeit und reißen ihn nicht abrupt aus seiner vermeintlichen Chefrolle.
Woran werden wir Gott erkennen? Wir wissen es nicht genau. Vielleicht daran, dass er uns ähnlich ist. Unser Vertreter auf Erden sollte uns ähnlich sein, sehr ähnlich. Wir hätten übrigens nie gedacht, dass Gott leicht übergewichtig sein könnte.
Mit dem aus unserer biederen Bürgerzeit überkommenen Fahrrad, noch sind wir nicht offiziell gewählt und berufen, haben wir uns dann nach Hause begeben. Der Alkoholiker stand vor unserer Tür und wollte Geld von uns borgen. Hat er, der niedrigste unter den Verachteten, etwa schon erkannt, wie unermesslich reich und mächtig wir sein werden? So soll er zukünftig, in vier Jahren schon, unser Staatshellseher sein. Bis dahin muss er aber noch durchhalten, besonders seine Leber. Wir vergeben dieses hohe Amt pränatal an ihn (wir erwarten, dass er im Amt wie neu geboren erscheint), werden es ihn aber erst im Jahre Null des Diktimperalissimus JWSCG, des Mannes, der stehend sterben wird, durch Ernennung wissen lassen.
Das ist heute schon die zweite gute Tat. Wir sind wohltätig. Wir geben an diesem milden Septembertag zweihundert Prozent. 
In München ist seit Samstag Oktoberfest. Die besaufen sich dort schon den vierten Tag lang zu Höchstpreisen. Wir müssen da nicht mittun. Wir arbeiten am Aufstieg. Da stören Filmrisse und unpassende Digitalfotos. Deswegen bleiben wir in der Regenspfalz. Aber bis zum Wahlsieg müssen wir uns um eine neue Wohnung kümmern. Der Diktimperalissimus JWSCG, der Mann, der stehend sterben wird, kann nicht im zweiten Geschoss eines straßenbegleitenden Apartmenthauses auf 25 Quadratmetern inklusive Dusche residieren. 


Mittwoch, 23. September im Jahre minus4 des Diktimperalissimus JWSCG.
Regenspfalz
7:00 Uhr waren schon 15°C. Heute wird es noch einmal richtig warm.
Wir sind in keiner guten Verfassung. Gesundheitlich fehlt uns nichts, aber der mangelnde Respekt der zukünftigen Untertanen fordert zunehmend seinen Tribut. Ihnen fehlt die seherische Kraft des Alkoholikers von gegenüber. Vielleicht sollten sie für ihren Erkenntniszuwachs mehr und hochprozentiger trinken. Oder müssen wir vielleicht doch für eine Übergangszeit um der Unversehrtheit willen auf die uns zustehenden Formalismen des Respekts verzichten, um nicht ständig mit der primitiven Geisteshaltung unserer Schutzbefohlenen zu kollidieren? Denn dass ist auch anstrengend, ja deprimierend und auszehrend. Nun gut, wir werden es ihnen nachsehen, wenn sie uns in vier Jahren scharenweise nachlaufen. Aber zunächst benötigen wir für unsere geistige Gesundheit eine Sofortlösung.

Hiermit verfügen wir, der Diktimperalissimus JWSCG, der Mann, der stehend sterben wird, dass wir uns innerlich und äußerlich so zu halten haben, als wüssten wir nichts von unserer Sendung und seien ohne Vision, dies alles jedoch nur, bis durch unsere Bundeskanzlerschaft die von der Vorsehung gewollte Ordnung wieder und dauerhaft hergestellt sein wird.
Gegeben zu Regenspfalz am 23. September im Jahre minus4 durch den Diktimperalissimus JWSCG höchstselbst


Das klingt vielleicht ein wenig überheblich, aber vor den Erfolg von Führungspersönlichkeiten haben die Götter nun mal das Geschwätz gesetzt – oder so ähnlich. Ich stehe durch diese Verfügung jedenfalls erst einmal wieder mitten im unterdurchschnittlichen Leben und kann mich ohne Gesichtsverlust dem tristen Alltag hingeben. Manchmal, denke ich, werde ich zu mir aufschauen, zur Stärkung.
Um doch noch einen Hauch des Elitären zu erhaschen, habe ich mich vorhin bei einem Börsenhändlerverein eintragen lassen, anonym praktisch, über das Internet. Jeder Kurssturz wird mir den Gewinn bringen, nicht daran beteiligt oder davon betroffen zu sein. Sieger ohne Einsatz, das habe ich mir immer gewünscht. Und dann noch der tägliche Newsletter, mit dem ich das so richtig auskosten kann. Ich hoffe, dass sich auch mein bislang ödes Vokabular entsprechend ändern wird. Man ist ja heute gar niemand mehr, wenn man im trade nicht auch locker mal long geht. Hach, ist das aufregend!
Der Tag in der Produktionsstätte war einmal mehr von unglaublicher Hektik erfüllt. Der Kaffee war alle. Damit waren gleich früh die Weichen auf Unmut und, bei einigen Abhängigen, auf Verzweiflung gestellt. Die Teamassistentin sah darin ihre Chance, durch beherztes Eingreifen ihren Wunsch nach einem unbefristeten Anstellungsverhältnis mit Fakten zu untermauern. Sie beauftragte den Burschen vom Schülerpraktikum, im Supermarkt nebenan eine 500g-Packung der Sorte „Brazil mild“ zu holen. Obwohl die Assistentin weder ein üppiges noch ein ausreichendes und schon gar kein angemessenes Salär bezieht, kreditierte sie den Konzern mit einem zinslosen Bargelddarlehen in Höhe einer Kaffeerechnung, das sie ohne Quittung und Kontierungsvermerk an den Schüler auszahlte. Ich denke, dieser Formfehler wird ihr am Ende gewaltig ans Bein gehen und zu einer Abmahnung führen. Allerdings war wenig später tatsächlich das gewohnt aromatische Getränk verfügbar. Das könnte sie vielleicht zur Entlastung anführen, aber da Kaffeekochen nicht in ihrer Stellenbeschreibung enthalten ist, wäre auch eine Strafverschärfung wegen Kompetenzüberschreitung denkbar. Das wird noch spannend. Hier könnte sich dann mal der Betriebrat aus dem Fenster lehnen, aber ob er das ausgerechnet für eine betriebsfremde Leihkraft mit osteuropäischem Akzent tun wird, bleibt abzuwarten.
Am Nachmittag war ich bei IKEA, um mir ein neues Kopfkissen zu kaufen. Das war sehr entspannend, obwohl ja IKEA in Regensburg irgendwie weniger gepflegt wirkt als in Leipzig oder Chemnitz. Aber immerhin, es gab Ein-Euro-Hotdogs und dazu ein Getränk nach Wahl gratis. Auf Rückfrage musste ich allerdings zur Kenntnis nehmen, das Prosecco an der Theke nicht als Getränk erkannt worden war. Ich habe nicht diskutiert. Das Personal dort erschien mir fachlich nicht für die Erörterung von Aggregatzuständen unterschiedlicher Substanzen ausgebildet zu sein.
Das stramme Kissen, das ich erworben hatte, ging mit dem Öffnen der Verpackung zu Hause wie ein Hefekuchen auf und stellte sich plötzlich als gesteppte Bettdecke dar. Ich muss nun darüber nachdenken, ob ich das riesige Stück vielleicht in acht oder zehn Kopfkissen zerteilen kann. Preiswert, gerechnet je Kissen, wäre das, aber manuell aufwändig.
Ich muss jetzt erst einmal darüber schlafen.


Freitag, 25. September 2005
Regensburg
Das Wetter hält sich. Wunderschöner, sonniger Spätsommer. Mittags um die 24°C.
Ich konnte in den letzten beiden Nächten nicht vernünftig schlafen, weil ich zwar zwei Bettdecken aber kein Kissen mehr habe. Das ist gewöhnungsbedürftig. Meine Laune ist durch die gestörte Nachtruhe im Keller. So kann es nicht weitergehen. Ich brauche den erholsamen Schönheitsschlaf, sonst leidet mein Teint.
Außerdem ist Schlafmangel krebserregend. Na ja, vielleicht auch nicht, aber vorbereitet sollte man auf jeden Fall sein. Ich bin gern vorbereitet. Schließlich geht auch die Welt bald unter, so in sechs Milliarden Jahren. Das ist schon mal eine Schlagzeile wert. Da muss ich mich doch nicht mehr um die kleinen Dinge sorgen, wenn eh in Kürze alles vorüber ist. Außerdem hat sich der Terrorist zu einem Besuch angemeldet. Er hat es allen gesagt, ein paar mal, aber mir ist nicht bekannt, ob ihn nun auch einer eingeladen hat. Der Mann weiß doch sonst gar nicht, wo er unterkommen soll, jetzt, wo die Nächte wieder kalt werden. Ich habe aber auch keinen Platz für Besuch in meinem kleinen Apartment. Eine Bettdecke könnte ich vielleicht ausleihen.
Vor mir liegt ein übles Wochenende. Ich habe keine Freundin, weil meine Ansprüche einfach zu hoch sind. Sie sollte alles drauf und dran haben, was ein Mann allgemein so erwartet, aber sie muss dazu unbedingt noch fast so klug, fast so umsichtig und auf jeden Fall mindestens so schön sein wie ich. Das gelingt selbst mir vor dem Spiegel nicht richtig. Deswegen also bin ich gegenwärtig ein Single. Da ich meinen anstehenden Karrieresprung auch noch nicht allen gutaussehenden jungen Frauen erklären konnte, finden mich manche nicht attraktiv. Das kann ich aber wegstecken. In vier Jahren wollen die sowieso alle in mein Bett, um die schwangere First Lady zu werden. Da ist es dann übrigens ganz egal, wie ich aussehe, weil Macht und Geld eine unwiderstehlich sinnliche und aphrodisierende  Ausstrahlung garantieren. Vielleicht werde ich die zweite Decke lieber nicht ausleihen. Die Kandidatinnen müssen ja die Nacht über auch etwas gegen die Zugluft haben.
Ich sollte für das Wochenende ein paar Unternehmungen planen, die mich von meiner Einsamkeit ablenken. Nichts heldenhaftes, eher etwas kulturell bedeutendes. Ach ja, ich werde am besten gleich mit meiner Dokumentation über das Aussterben von Bockwurstbuden beginnen. Das Vorhaben hatte ich ja schon mal angedacht. Mir scheint es ein wichtiger Indikator dafür zu sein, dass wir unsere kulinarischen Wurzeln immer mehr verleugnen, nur weil sie nicht von einer Fast-Food-Kette beworben sind. Meine Dokumentation wird diesen schleichenden Prozess des Kulturverlustes schonungslos bloßstellen. Eine Gegenbewegung liefern Gott sei Dank die Kochshows, die mir persönlich zwar nicht helfen, weil ich entweder die Gewürze nicht kenne oder das erforderliche Geschirr gerade nicht abgewaschen ist, die aber zumindest eine Störung der Gedankenlosigkeit zum Thema Essen auslösen. Vom Pappteller hochzuschrecken, das ist doch heute auch schon was. Ja, gut, ich höre gleich wieder die Kritiker, die jetzt sagen wollen, dass Bratwurststände ja auch nicht beworben werden. Das ist genau das Problem! Hier muss doch geprüft werden, wie es der Schnellfutterindustrie gelungen ist, diese Stände zu installieren, ohne dabei genannt und erkannt zu werden! Da läuft doch eine Sauerei der ganz großen Sorte! Das ist die Anti-Bockwurst-Verschwörung, die bis in die Spitzen von Staat und Justiz vernetzt, verschwägert und verfressen ist. Ein Untersuchungsausschuss muss her, der zunächst auf der Ebene der Lokalpolitik erste Enthüllungen und Erkenntnisse ermöglicht. Das wird mein Einstieg in die Politik. Meine Dokumentation ist der Türöffner für den Weg an die politische und gesellschaftliche Spitze. Ich habe endlich vor Augen, wie ich mich meinem Wahlvolk nähern werde, bis es mich vergöttert.
Liebes Tagebuch, ich bin froh, dass ich dich schreibe. Durch dich komme ich auf Ideen und Zusammenhänge, die vielen anderen vorenthalten bleiben müssen, weil sie beim Schreiben nicht so umfassend denken können wie ich. Sie bedürfen offensichtlich der Lenkung durch Geistesgrößen meines Kalibers.


Montag, 28. September 2005
Regensburg
Das Wetter ist wie seit langem sehr angenehm für die Jahreszeit.
Meine Stimmung ist ausgezeichnet und kampfeslustig. Nur das Knie, das macht mir noch immer Sorgen.
Ich war gestern wählen, das heißt, ich habe es versucht. Aber es war nur eine Sparbüchse aus Pappe da, der ich meine Entscheidung nicht anvertrauen wollte. Jemand versuchte, mir einzureden, dass das eine Urne sei. Ich war oft genug in einschlägigen Geschäften. Ich weiß wirklich, wie Urnen aussehen. Ich lasse mir doch keine Pappsparbüchse aus den Theaterre-quisiten für eine Urne vormachen. Mein Ruf nach den UN-Beobachtern ging ungehört im höhnischen Gelächter einer offensichtlich bezahlten Wahlfälschertruppe unter. Ich kann dieser Demokratie erst wieder trauen, wenn ich sie abgeschafft habe und selbst eine neue führe, die sich nicht in Debatten oder Wahlen verschleißen muss.
Mein Kühlschrank streikt seit Tagen. Er stellt kein Bier mehr her. Ich habe lange in Grimms Kinder- und Hauslexikon gelesen, aber keinen Fall gefunden, in dem das „Tischlein deck dich“ einfach so versagt hätte. Gab es da eine Manipulation? Greift gar die verschworene Bratwurstmafia schon nach mir? Fragen über Fragen. Ich muss noch einmal zu IKEA. Ich brauche eine messerattackensichere und schussfeste Bettdecke. Oder ist das outdoor wear aus dem Sportgeschäft? Egal, ich werde eben suchen, bis ich eine finde.
Ich unterbreche hier, weil ich los muss, bevor die Läden schließen.


Donnerstag, 01. November 2005
Regensburg
Bedeckt, windig, aber kein Regen bei etwa 12°C früh 7:00 Uhr. Tagsüber oft sonnig und bis 20°C. Offensichtlich eine Klimakatastrophe.
Manchmal bekomme ich Schweißausbrüche. Ich bin von Albträumen geplagt, auch am Tage.
Mein Misstrauen reicht inzwischen bis in die Produktionsstätte. Ich vernichte alles, was meine Spuren trägt, um der Bratwurstmafia keine Anhaltspunkte über meinen Aufenthalt und meine Gewohnheiten zu liefern. Auf die Bürotür habe ich den Namen eines bereits verstorbenen Schulfreundes geschrieben. Die inzwischen abgemahnte Teamassistentin schaut mich seit dem etwas verstört an, aber sie sagt nichts. Vermutlich will sie auch die Bockwurstbude wiederhaben und traut sich nur nicht, den Kampf dafür aufzunehmen.
Gestern die Verkäuferin vom Sportgeschäft in den „Arcaden“ hat mich lange gemustert. Sie war meine letzte Hoffnung. Solche Decken, sagte sie dann, würde sie gar nicht kennen. Ihres Wissens gäbe es derartige Produkte nicht im Einzelhandel. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich nur loswerden wollte. Natürlich hätte ich ihr die Hintergründe meiner Suche erklären können, aber damit hätte ich auch wieder neue Hinweise auf meine Aktivitäten gegeben. 
Heute sind vor der Produktionsstätte die Straßenlaternen gereinigt und repariert worden. Das ist ein seltsames zeitliches Zusammentreffen. So eine Aktion ist wie geschaffen für das unauffällige Anbringen von Überwachungskameras. Aber mich überlisten diese Amateure nicht, auch nicht mit offiziell wirkenden Fahrzeugbeschriftungen, wie sie sonst nur die Stadtverwaltung verwendet. Sie suchen mich überall. Der Aufwand, den die Mafia treibt, um mich zu finden, ist ungeheuer. Beim Verlassen der Produktionsstätte habe ich vorsichtshalber mein Gesicht unauffällig hinter einer Zeitung versteckt. Zur Tarnung bin ich dann in die Altstadt gegangen und habe dort eine Bratwurst gekauft, gerade so, als sei ich ein Liebhaber dieses Erzeugnisses.
Während der Rückkehr in meine Wohnung scheint mir niemand gefolgt zu sein. Das erleichtert mich. Ich muss jetzt mit meiner Dokumentation beginnen, ganz konspirativ, aber konsequent.


Mittwoch, 7. Oktober 2005
Regensburg
Nach wie vor herrscht so eine Art Spätsommer mit nächtlichen Regengüssen und Tagestemperaturen bis 25°C
Ich bin viel mit dem Fahrrad unterwegs. Mittlerweile geht es mir auch wieder gut. Ich habe meinen Essenskonsum reduziert, weil ich hoffe, dadurch ein paar Kilo zu verlieren.
Zur Zeit fühle ich mich nicht mehr beobachtet. Die vorgetäuschte Eintönigkeit meines Tagesablaufes hat die Späher wahrscheinlich ermüdet und zermürbt. Allerdings bin ich mit meinen Recherchen auch nicht weiter gekommen. Es gibt kaum auswertbares und belastbares Material über den Wurstvertrieb an Buden und Ständen seit den beiden Staatsgründungen 1949. Auch nach dem Zusammenschluss wurde nahezu nichts in dieser Richtung publiziert. Noch nicht einmal im Internet konnte ich vernünftig Auskunft erhalten. Das Thema ist wegen seiner Brisanz von allen Regierungen offenbar gezielt ausgeblendet worden. Ein weiterer Anreiz, endlich damit in die Öffentlichkeit zu gehen. Die neue Koalition, die sich nach den Scheinwahlen vom September sogar ohne meine Stimmabgabe anmaßt, auch mich international vertreten zu dürfen, hält sich ebenfalls bedeckt. Stichwort Vertretung, also, ich muss Auslandskontakte aufbauen und TV-Shows besuchen, um dort jeweils meine Unabhängigkeit von Wahlergebnissen zeigen, quasi als Vorgriff auf meine Kanzlerschaft. Altkanzler Schröder hat das schon mal versucht, aber er ist damit nicht durchgekommen. Nun, steter Tropfen höhlt den Stein.
Die Produktionsstätte, die ich inzwischen wieder entspannter betrete - die Mittelbayerische Zeitung berichtete vorgestern über einen Akt von Vandalismus, der zur Zerstörung von kürzlich reparierten Straßenlampen führte -  zieht mich stärker in ihren Bann als jemals zuvor. Ich habe sogar eine neue Aufgabe für mich finden können. Ich arbeite an einem Mitarbeitervorschlag, einer Software, die den Papierverbrauch reduziert. Dafür muss ich nur alle Druckaufträge, die der Druckerserver verteilen möchte, gleich dort automatisch löschen lassen. Ein Manko ist derzeit noch, dass ich die Zugriffsbeschränkungen auf die Arbeitsplätze, von denen die Dokumente kommen, nicht geknackt habe. Erst, wenn mir das gelungen ist, kann ich von einer konsistenten Problemlösung sprechen, denn dann kann ich die Originalda-teien gleich mit entsorgen. Das wäre ja wirklich konsequent und neu. Der sich derzeit noch immer als mein Chef fühlende Bürger - ich lasse ihn auch dabei - wird die Lorbeeren ernten, die ich jetzt mühsam kultiviere. Aber da bin ich einmal mehr großzügig. Mit solchen Projekten werde ich meine unerschütterliche Kompetenz beweisen, ohne damit ruhmsüchtig und plakativ herumzuprahlen.
Ich war heute zwei Stunden lang im Gespräch mit dem Geschäftsführer, um den Stand meiner Projektarbeit vorzustellen. Das war erwartungsgemäß schwierig, weil ich mich ihm gegenüber sehr zurücknehmen musste, um ihn als potentiellen Wähler nicht zu verprellen. Inhaltlich haben wir uns prächtig verstanden, denn wir haben so aneinander vorbei geredet, dass daraus schon wieder eine verbindende Gemeinsamkeit wurde. Ich muss mir das für die künftigen Auftritte während meiner Kanzlerschaft merken. Alles in allem wird die Vorstellung meiner Arbeiten vermutlich gänzlich folgenlos bleiben, weil keiner von uns sachliche Gründe für irgend welche Aktionen daraus herleiten kann. Ich werde morgen früh gegenüber den Kollegen in der Produktionsstätte meinen besonders engen Kontakt zur Geschäftsführung herausstreichen. Dazu war der Auftritt allemal gut.
Am Abend hatte ich noch Gelegenheit, einen Vertreter der GEZ in meinem Appartement zu begrüßen. Er hat sich leider auf die halbleere Fischdose vom Abendbrot gestern gesetzt, die ich versehentlich im Sessel abgelegt und dann vergessen hatte. Die Stimmung war deswegen leicht gereizt, zumal er nichts finden konnte, um mich gebührenpflichtig zu machen. Ich habe ihm gleich noch gesagt, dass ich ein Grundrecht auf Information habe und er mir mal erklären soll, warum ich das Recht jetzt zusätzlich von ihm kaufen soll, wo es mir doch per Verfassung schon gehört. Er hat nur verärgert rumgemault und will wiederkommen, wenn ich das Radio aus dem Versteck geholt habe. Da kann er aber warten. Ich habe seit Jahren kein Radio.


Freitag, 9. Oktober 2005
Erstmals seit Wochen ein richtig verregneter Morgen, der mich veranlasst hat, mit dem Bus und nicht mit dem Rad in die Produktionsstätte zu fahren. Trotzdem 14°C und windstill, also immer noch aushaltbar.
Ich habe gestern Sport getrieben, um auch körperlich fit in das Rennen um die Führung der krisengeschüttelten Nation einsteigen zu können. Heute schmerzen bei jeder Bewegung sämtliche Knochen, aber dieses Gefühl von Körper ist nicht unangenehm. Ich muss meine Kondition stetig verbessern. Da bleibt noch jede Menge Spielraum nach oben. Das ist mir wirklich deutlich geworden.
Im dem Bus saßen etliche Leute, die mir als Wähler irgendwie unzuverlässig erschienen. Ich kann das nicht genau begründen, aber es ging schon damit los, dass sie gähnend ins Leere starrten, statt die aktuellen politischen Themen zu besprechen. Da fehlte jede Begeisterung für den anbrechenden Tag und seine Möglichkeiten, sich in die Meinungsvielfalt der Gesellschaft einzubringen. Wie soll ich denn denen mein Programm nahe bringen? Und gerade die wären doch recht zufrieden mit meinem geradlinigen Dogma, das alle geistig sehr entlastet und eigenes Denken oder gar Entgleisungen weder sinnvoll noch möglich erscheinen lässt. Solche Herausforderungen im Umgang mit wenig aktiven Untertanen muss der Diktimperalissimus JWSCG, der Mann, der stehend sterben wird, eigentlich nicht selber bewältigen. Dazu hat er seinen Stabschef, der ihm erst den Wahlkampf und nach dem Sieg die Regierungsarbeit gestaltet. Aha, ich brauche einen Stabschef. Es reicht offensichtlich nicht, nur auf einen Staatshellseher zu bauen. Meine Mannschaft wächst. Ich muss den neuen Posten bloß noch mit einer fähigen Person besetzen. Mit einer Frau vielleicht? Das wäre der Schachzug des Monats! Jede Kritik könnte dann als sexistischer Angriff sogar unter Strafe gestellt werden. Allerdings müsste ich sofort nach der Amtsübernahme das Frauenwahlrecht abschaffen, weil ich sonst unter Umständen Schwierigkeiten in der Argumentation gegenüber weiblichen Kritikern bekommen könnte. Bei dem wachsenden Anteil von Machos im Lande wird sicher nichts dagegen sprechen, die Frauen wieder ins heimische Reich zu holen. Manche sind ja da nie rausgekommen. Nur diese Alice aus dem Wunderland, die dreht dann mit der Emma bestimmt hoch bis auf den oberen Grenzwert der  technisch zerstörungsfrei machbaren Lautstärke. Politik, mein liebes, geduldiges Tagebuch, Politik scheint ein verzwicktes Geschäft zu sein. Aber verzwickt ist das Leben auch so. Davon lassen wir uns doch nicht entmutigen.
Der Arbeitstag verlief eher eintönig. Jemand, der neu sein muss, hat mich nach dem Grund meiner Anwesenheit gefragt. Mit der Antwort, das läge an dem Zeiterfassungssystem, weil das leider keine Vordatierungen erlaube, schien er nicht richtig zufrieden zu sein. Ich weiß auch nicht, was er erwartet hat. Ich jedenfalls halte das wirklich für ein entscheidendes Manko.
Perlenbach, ein guter Freund und bestimmt auch ein angenehmer Bürger, den ich für meine Regierungsmannschaft schon mal mit vorgemerkt habe, war am Nachmittag auf eine Kanne Kaffee zu mir ins Büro gekommen. Heute sei der neue Aufsichtsrat ins Amt gehievt worden, erzählte er. Die Herren seien kurz im Hause gewesen, um die Bedingungen vor Ort ein wenig zu sondieren und sich ein Bild von der Motivation der Belegschaft zu machen. Na, wie das immer so ist, ich werde zu solchen Begegnungen ja nicht eingeladen. Man ahnt vielleicht, dass ich den Auftritt der Chefetage überstrahlen würde. Perlenbach hat die Gabe, sich bei so was still und sichtbar im Vordergrund zu halten. Ich mag ihn trotzdem.
Die Teamassistentin kam, gleich nachdem er raus war. Sie druckste ein wenig herum. Dann rückte sie verlegen mit der Frage heraus, ob ich geheiratet hätte. Wegen dem geänderten Namen an der Bürotür. Den müsse sie im Geburtstagkalender aktualisieren. Und in der Gehaltsliste auch. Vor allem da. Sie hat mir einen mächtigen Schrecken eingejagt. Solche Weiterungen hatte ich nicht bedacht. Möglicherweise wären durch diese Leichtfertigkeit meine Bezüge bald an die Verwaltung des städtischen Friedhofes gegangen. Ich habe ihr schnell eine passende Geschichte aufgetischt, die das Chaos in der Firma für die unhaltbaren Zustände verantwortlich macht, wo nicht mal mehr die Türschilder stimmen. Wir haben das dann gemeinsam korrigiert.


Dienstag, 13. Oktober 2005
Regensburg
Saukalt, verregnet, 6°C
Fühle mich auch so!
Habe ein herbes Wochenende durchlebt. Bei meinen Recherchen wegen der Würste bin ich am Computer eingeschlafen. Der Abdruck der „Alt GR“-Taste ist bis heute noch schwach auf meiner Stirn sichtbar. Bin dann nachts wieder aufgewacht, weil ich Hunger hatte. Ich musste an die Tankstelle gehen, um Nahrungsmittel zu erwerben. Alles andere war schon geschlossen. Regensburg ist eine Konsumwüste mit entmündigendem Ladenschluss. Wie früher im Osten. Läden öffnen nur während der Arbeitszeit, damit keiner hingehen kann. Schon wieder Dosenfisch und Kümmerling. Das hält doch keiner aus.
Sonntag war auch nicht besser. Das Internet ist unterwandert von der Bratwurstlobby. Alle sind gegen mich. Quellen zum Thema sind unauffindbar. Tausende Sites müssen gesperrt oder gelöscht worden sein, seit bekannt ist, womit ich mich beschäftige. Man lässt mein grandioses Werk scheitern, um mir den Weg in die Politik zu verbauen. Ich bin die Bedrohung der etablierten Legislative schlechthin, europaweit. Nach mir ist vor mir. Niemand wird sich meinem Wirken entziehen können.
Darauf einen weiteren Kümmerling.
Gestern war einer von der Personalabteilung bei mir. Er hat nach meinem verblichenen Schulfreund gefragt. Jemand aus dem Aufsichtsrat wolle ihn sprechen. Ich habe keinen Schimmer, woher die den kennen. So bedeutend war er ja nun wirklich nicht. Ich hab nur gesagt, er sei verstorben. Da hat der Personalbearbeiter beinahe die Fassung verloren. Wegen so etwas müsse man sich doch nicht gleich das Leben nehmen, einen neuen Job hätte er bestimmt wieder gefunden und vielleicht sei auch alles nur ein Missverständnis gewesen. Das wiederum konnte ich nicht beurteilen. Mein Besucher war für weitere Gespräche dann nicht mehr zu haben, so nervös war er. Es ist schon seltsam, was in letzter Zeit alles in der Firma passiert.
Die Lampen sind inzwischen wieder instan…


(hier endet das Original, leider)

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (19.08.20)
Um in deinen Worten zu kommentieren: Das ist ein stinklangweiliges Tagebuch, sorry.

 IngeWrobel (27.06.21)
Witzig! Gerne gelesen.
Nur den Bezug zu Christian Morgenstern habe ich nicht entdeckt / erkannt.
LG, Inge

 Schreiber meinte dazu am 25.11.22 um 15:54:
Danke für diese Einschätzung. 
Ja, der Bezug zu C.M. ist indirekt. 
Die Galgenlieder haben mich dazu angeregt, versuchsweise aus einer völlig anderen Position auf Personen und Ereignisse zu schauen als gewohnt, aus einer, die dem Dadaismus nahe stehen sollte, ohne seine flache Nachahmung zu werden.  
Die Darstellung eines Protagonisten, der sich seine Bedeutung selbst und nur nur für sich allein erschafft, schien mir geeignet für dieses kleine Experiment. 
Allerdings ist die Verknüpfung seiner mystisch verzerrten Wahrnehmung mit stalinistischem Machtanspruch und den Ängsten vor Enttarnung etwas, das mir gerade aktueller denn je erscheint.
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