Chicks Dig Scars

Erzählung zum Thema Vergangenheitsbewältigung

von  Mutter

‘Wie weit ist es bis zum Ort?‘, will Molly wissen. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sie sich mir zuwendet.
‚Ein paar Minuten – nicht weit‘, entgegne ich auf ihre Frage. Halte inne. ‚Warum?‘
‚Weiß nicht.‘ Sie ist ebenfalls stehengeblieben, schirmt die Augen mit der Hand ab, obwohl die Sonne nicht zu sehen ist. Sieht sich um. Fährt fort: ‚Ist um diese Zeit jemand wach? Mit dem wir reden können?‘
‚Gute Frage.‘ Grinse sie an. ‚Ich nehme an, die stehen demnächst erst auf. Kochen sich einen Kaffee.‘
Sie schnaubt, als ich ihr zuzwinker. Geht nicht weiter darauf ein, sondern fragt: ‚Wir können uns Zeit lassen?‘
‚Klar, warum nicht. Was hast du vor?‘
‚Zeig mir die Insel. Lass uns spazieren gehen.‘
Meine erstaunte Miene lässt sie hell auflachen. Alleine für dieses Geräusch wäre es mir wert, mich geistig langsam zu fühlen. ‚Warum?‘
‚Weil das vermutlich die einzige Gelegenheit sein wird. Weil ich noch nie hier war. Weil wir zusammen sind. Zeig mir deine Insel‘, sagt sie, die letzten Worte leise gesprochen, gegen den stetigen Wind kaum zu verstehen.
Nachdenklich mustere ich sie. Versuche zu verstehen, was in ihr vorgeht. Was sie will, von mir will. Entscheide, dass es mir für den Moment egal ist. Dass ich ohnehin nicht raffen werde, um was es geht. Fehlt mir meine weibliche Seite, meine Intuition, für.
Sie reagiert auf mein Lächeln, grinst. ‚Los?‘
Ich nicke, orientiere mich kurz. Gehe Richtung Norden, den schmalen Teil der Insel zu überqueren und auf der anderen Seite zu landen. Der wilderen Seite, dem Meer zugewandt. Dort, wo die sanfte Irische See in den mörderischen Nord-Atlantik übergeht. Auf der Seite befinden sich die Felsen.

Eine halbe Stunde später stehen wir am Abgrund. Schwanken, soweit wir es wagen, an der Kante der Klippen und blicken in die Tiefe. Unser Atem geht stoßweise, weil wir bergauf laufen mussten und manifestiert sich weiß und sichtbar vor unseren Gesichtern.
‚Holy shit!‘, entfährt es ihr.
In männlicher Überheblichkeit muss ich grinsen. Vor Jahren hatte mich der Anblick genauso beeindruckt – ich stand mit einem halben Dutzend Männer, denen zusammen mindestens einhundert Jahre Knast gedroht hätten, an diesen Klippen und wartete mitten in einem fürchterlichen Sturm auf einen Lastenhubschrauber. Die Wellen schlugen zu hoch, als dass unsere Boote anlanden konnten. Stattdessen kam eine Speziallieferung aus Schottland, direkt für die Provisional IRA, in diesem Helikopter mitten durch das Auge des Orkans geflogen.
Einige von den Jungs kannten den Piloten – einen legendären Hund, der früher für die RAF geflogen war. Wahnsinnig, meinten sie. Glaubte ich sofort, als ich dort oben stand und versuchte, mich gegen den unglaublichen Wind auf den Beinen zu halten, nicht den Halt zu verlieren.

Heute ist der Wind sanfter, geduldiger. Er zieht an uns, zupft an Jacken, Hosen und Haaren, ohne seine volle Kraft anzuwenden.
Raubt uns den Atem, stiehlt ihn direkt von den Lippen und macht das Luftholen schwer. Als müsste man in den kleinen Augenblicken, in denen er neue Kraft sammelt, nach Luft schnappen.
‚Was ist?‘, fragt mich Molly misstrauisch.
Mir fällt auf, dass ein debiles Grinsen meine Visage ziert. Versuche, ein normales Gesicht zu machen – gelingt mir nicht.
‚Das tut gut.‘
Ich nicke. Verdammt gut. Pustet die Seele durch, lässt mich vergessen. Als würde ich ankommen. Wie habe ich diesen Scheiß-Wind vermisst!
‚Man vergisst, wie es sich anfühlt.‘
Nicke nochmal, fahre mir nachdenklich mit der Zunge über die Zähne. Sehe raus aufs graue Wasser, in die Weite.
‚Warum hat der Kerl derart lange gewartet?‘, fragt sie unvermittelt.
‚Kann ich dir nicht sagen‘, presse ich zwischen den Zähnen und gegen den Wind hervor. Habe mir die gleiche Frage ebenfalls bereits gestellt.
‚Vielleicht wollte er es sich aufheben‘, bietet sie fröhlich an, meine düstere Stimmung ignorierend. ‚Revenge is a dish best served cold.‘
Unwillkürlich ziehe ich die Jacke fester um meine Schultern, um mich vor dem unnachgiebigen Wind zu schützen.
‚Oder …‘, fährt sie fort. Ich bin nicht sicher, ob ich ihre Theorien hören will.
‚Oder er hat dich bloß fett werden lassen.‘
Überrascht sehe ich zu ihr rüber, verstehe nicht, was sie will. Schnaube. Kann gerne versuchen, an meinem Waschbrettbauch eine Unze Fett zu finden.
‚Die Japaner haben eine Philosophie, nach der man den Feind am Leben lässt - ihn wie eine Made reicher, satter, fetter werden lässt. Um ihm dann am Ende noch mehr nehmen zu können.‘ Mollys Stimme wird leiser, sie zuckt mit den Schultern – sie glaubt nicht an ihre eigene Theorie.
Sie hat mit ihren Worten meine Gedanken auf eine andere Schiene gesetzt.
‚Ich habe nichts, was man mir nehmen kann‘, sage ich heiser. Flüster mehr als das ich spreche. ‚Nichts, was ich nicht am Körper trage.‘
Damit habe ich Mollys volle Aufmerksamkeit – hatte weder die Theatralik noch das Selbstmitleid beabsichtigt, erwarte ihren beißenden Spott.
Der kommt nicht.
Stattdessen wendet sie sich mir zu. Ihre Hand berührt meine Wange. ‚Nichts, außer Narben auf Seele und Körper.‘ Lächelt sanft.
Der alte Corker wäre auf eine solche Bemerkung stolz gewesen – hätte ihm die Brust geweitet, den Kamm schwellen lassen. Chicks dig scars, pain fades away and glory lasts forever.
Der neue ist sich nicht sicher. Ahnt, dass er am Abgrund wankt. Das ist ein verfickt schlechter Zeitpunkt, um ins Schwanken zu geraten. Deswegen tue ich das, was alle ängstlichen Seiltänzer tun: Ich schließe die Augen.
Entschlossen nicke ich, bewege damit ihre Hand auf meinem rauen, unrasierten Gesicht. Ich drehe mich zu ihr um, ihre Finger streifen meine Lippen. Zwinge sie mit der Berührung, ihre Hand zurückzuziehen.
‚Absurd daran ist, dass ich bereits bezahlt habe. Einen Riesen-Haufen Kohle.‘
‚Uh?‘ Sie versteht nicht, wovon ich rede.
Nachdenklich verziehe ich das Gesicht, erinnere mich ungern. ‚Dave hat mich bestohlen. Mich um meinen Anteil an einer halben Million Pfund betrogen.‘
Sie pfeift leise zwischen den Zähnen. ‚Das ist eine Menge Holz.‘
Nickend sehe ich weiter raus aufs Wasser.
‚Hast du nicht versucht, die Kohle zurück zu bekommen?‘
‚Natürlich. Er ist über den Teich - ich hinterher. Sieben Monate lang habe ich eine blutige Schneise durch Boston geprügelt, auf der Suche nach dem Drecksack und meinem Geld. Die meisten Iren in der Stadt würden sich noch an mich erinnern – an ‚the axe‘, wie sie mich damals nannten.‘
‚Du hast ihn nicht in die Finger bekommen‘, stellt sie für mich fest.
Mit zusammen gebissenen Zähnen schüttele ich den Kopf. ‚Nein. Seine Spur hatte sich in Nichts aufgelöst.‘
Sie erwidert nichts, starrt ebenfalls geradeaus nach Norden.
‚Lass uns gehen‘, sage ich in hartem Tonfall.
Sie widerspricht nicht, folgt mir durch das hohe Gras und kurz darauf nähern wir uns dem kleinen Ort, indem wir die sanften Hügelhänge herab gehen.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(29.10.09)
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 Mutter meinte dazu am 29.10.09:
:)
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