Es hat keinen praktischen Wert, mit abgeschnittenen Köpfen sudanesischer Kleinkinder Basketball zu spielen. Andernfalls lohne sich die Enthauptung.

Innerer Monolog zum Thema Fortschritt

von  Dieter_Rotmund

Über solche Thesen kann ich mit niemanden diskutieren. Selbst auf dem Stammtisch nicht, den ich halbwegs regelmäßig donnerstagabends besuche. Die Teilnehmer des Stammtischs, die sich in leicht fluktuierender Zusammensetzung schon seit rund 15 Jahren am Abend jedes Donnerstages treffen, sind mit mir älter geworden. Mit dem Alter hält auch ein gewisser gesunder Zynismus Einzug, der eine illusionsloseren und damit realistischeren Blick auf die Welt ermöglicht. Aber das mit den abgeschnittenen Köpfen sudanesischer Kleinkinder kann ich dort nicht diskutieren, auch dort schlüge mir zunächst und zu viel moralische Entrüstung entgegen. Kürzlich eröffnete mir Marcel, dass seine Freundin schwanger sei. Ich war erschrocken und fragte, ob man da noch was machen könne. Er verstand die Frage nicht, weil gerade Benedikt vom anderen Ende des Tisches was hinübergeblökt hatte. Aber Therese sah mich ganz, ganz böse an und sagte, ich sei geschmacklos. Ich sagte ihr, das sehe ich nicht so. Wahr ist, dass ich nicht will, dass sich Marcel „seine Zukunft verbaut“, wie sich unsere Elterngeneration noch gerne ausgedrückt hat und ich nun alt genug bin, um diese piefige Redewendung zu übernehmen. Später haben wir uns über Musicals unterhalten. Ingrid und ich waren der Meinung, dass es immer einen komisch-seltsamen Eindruck machte, wenn ganz normale Menschen plötzlich wie aus heiterem Himmel anfangen zu singen und zu tanzen. Therese sagte, ihr sei es immer ganz natürlich vorgekommen, aber ihre Schwestern haben sie für plemplem gehalten, wenn sie sich Musicals angeschaut habe. Musik, auch so ein Thema. Ich höre keine Musik, außer die, die ich mehr oder weniger zufällig höre, von blechernen Handys albern gekleideter Jugendlicher oder in Cafés oder natürlich im Kino, wo ich ein gute Filmmusik durchaus zu schätzen weiß. Aber ansonsten höre ich keine Musik, ich spüre kein Verlangen danach und habe weder CD-Player noch ein tragbares Abspielgerät. Aber das erzähle ich nicht, weil Menschen, die keine Musik hören, als schlechte Menschen gelten. „Wo gesungen wird, da lasse Dich nieder, denn schlechte Menschen singen keine Lieder“ heißt es und hat noch immer seine Gültigkeit, trotz so widerlicher Menschen namens „Buschido“ oder dem Horst-Wessel-Lied. Auf dem Stammtisch fragt mich glücklicherweise niemand, ob ich Musik höre. Es wird geredet, viele reden für zwei und an manchen Abenden höre ich nur zu oder hake hier und da nach. Das ist angenehm.
Den Einwand, dass die abgeschnittenen Köpfe sudanesischer Kleinkinder nicht zum Basketball geeignet sind, weil nicht elastisch, lasse ich nicht gelten. Darum geht es nicht.


Anmerkung von Dieter_Rotmund:

Inspiriert durch die Bergmanns Freitagskolumne "Klicks und Cliquen" vom 5.März 2010. Mit seiner Erlaubnis einen der Sätze daraus als Titel verwendet.

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Kommentare zu diesem Text


 Bergmann (06.03.10)
Die Provokation wird gut gesetzt. Aber du (oder dein monologisierendes Ich) solltest den Stammtisch meiden, denke ich. Diese Leute bringen keinen weiter. Das wird deutlich. Die stecken total in ihrer Bewusstseinsebene fest.
Eine noch schonungslosere (Selbst-)Analyse wäre bestimmt sinnvoll.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 08.03.10:
Ersteinmal vielen Dank für die Empfehlung, die übrigens hier bei mir nur in der Übersicht angezeigt wurde und nicht direkt am Text, was dazu führt, dass ich nicht weiß, von wem die Empfehlung ist, was aber nicht weiter schlimm ist, weil es hier keinen gibt, von dem ich eine Empfehlung ablehnen würde...

Medias in res:
Mein "monologisierendes Ich" hat sich gewisse künstlerische Freiheiten in der Gestaltung des Textes rausgenommen, will sagen: Sooo brutal ist der Stammtisch nicht, aber grundsätzlich sollte man sich schon Gedanken machen, welche Dynamik, das eigene Leben bzw das des Protagonisten betreffend, solche Stammtisch haben. Ein Thema, ein Motiv, ein Topos (?) von dem ich auch bislang in keinem literarischen Text gelesen habe, den meisten ist es wahrscheinlich zu piefig, glaube ich.
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