Die Brücke

Parabel zum Thema Entwicklung(en)

von  Shagreen

(Kafka's "Die Brücke" aus der Sicht des Wanderers)

Ich war noch naß und mir war kalt als ich an einem Sommertag meinen Berg bestieg. Außer mir verirrte sich nie jemand hierher; es gab weit höhere Berge mit schöneren Blicken. Als Wanderstab diente mir eine eiserne Strebe, die ich am Rande eines Forellenbaches fand, wohl von einem Geländer stammend. Über dem Bach hing nämlich eine Brücke, die sich in schwindelerregender Höhe mit dem Nachbarberg verband. Sie sollte das Ziel meines Aufstiegs sein.

Und die Brücke zu erreichen war schon immer meine Sehnsucht gewesen. Ich weiß nicht, wie oft ich es schon versuchte, doch nie gelang es mir, meinen Fuß auf sie zu setzen. Immer wieder kam ich vom Wege ab, dem ich doch nur nach oben folgen mußte. Bei sengender Hitze und klirrender Kälte stieg ich Tag um Tag, Meter um Meter, doch fand ich die Brücke nicht - ging ich denn im Kreis? Manchmal träumte ich, ich hätte sie endlich nach einem langen, kräftezehrenden Marsch erreicht; völlig außer Atem stehe ich auf ihr, taumele und fasse nach dem Geländer. Aber in demselben Augenblick schrecke ich erschöpft und schweißgebadet aus dem Schlaf und schreie.

Doch heute fühlte ich wie in mir neue Kraft erwuchs. Vielleicht lag es an dem provisorischen Wanderstab, der mich stützte und meine Schritte gerade hielt. Hoffnung keimte in mir auf - welch ein Hochgefühl. Deutlich kerbte der Weg seine Spur in den Berg, auf dem ich vorwärtsstürmte - atemlos. Alle Sinne waren klar. Hörte ich etwa das Rauschen eines Baches?! Und siehe da vorn der Abgrund und da ... die Brücke! Festen Schrittes ging ich auf das Bauwerk zu. Wie hypnotisiert schaute ich in das Tal; ein seltsam vertrauter Anblick: das reißende Wasser umspülte die scharfkantigen Steine und bildete endlose Verwirbelungen. Ein heftiger Rückenschmerz holte mich in die Wirklichkeit zurück. Der Berg fordert seine Tribut, dachte ich; da merkte ich, daß ich mitten auf dem Brückenbogen stand - dieser schwankte gefährlich. Vorsichtshalber legte ich mich bäuchlings auf die Brücke und wurde eins mit ihr. Als ich mich schließlich umdrehte, sah ich in die geheimnisvolle Dämmerung am Abendhimmel.

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Kommentare zu diesem Text


 Bergmann (13.05.10)
Sehr interessant!
Es fehlt: Die "Brücke dreht sich um!" und stürzt zu Tal, den Kieseln im Bach entgegen.
Interessant wäre es auch, Kafkas Parabel umzuschreiben, und zwar so, dass Brücke als Metapher aufgelöst würde (etwa in: Vertrauen, Liebe, Ehe...)
LG, Uli

 Shagreen meinte dazu am 16.05.10:
Ja, lieber Uli, alter Brückenmensch. Blick nur weiter in den Abgrund und laß dich aufspießen. Dir widme ich auch noch den letzten Satz. Weil ich will, daß du lebst und nicht zugrunde gehst
Viele Grüße, Andreas
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