III
Novelle zum Thema Selbstbestimmung
von Lala
III.
Es war Klaus Gang nach Canossa. Und es war nicht komisch. Klaus war siebenundzwanzig geworden, war im fünfzehnten Semester und immer noch nicht Magister Artium. Noch nicht einmal nah dran, einer zu werden.
Sein Vater nannte ihn nur den Nachtschichtenmagister und meinte damit sowohl Klaus Jobs, die vom Aushilfspfleger in einer Geschlossenen, Filmvorführer in einer Nonstopsexkino-Kaschemme bis hin zum Hotelportier reichte. Diese Nachtschichten boten Klaus ein wunderbares Alibi, warum es tagsüber nicht so recht klappen wollte mit dem Studium, warum die Konzentration bei den Vorlesungen über die nationalsozialistischen Stadtentwicklungspläne in der Zeit von 36-39 oder den Gottesbildern der Antike nur suboptimal war, wie überhaupt auch die Konstanz seiner Anwesenheit. Ein Foliant der Monumenta Germania Historiae wirkte nicht nur einschüchternd, sondern auch einschläfernd.
Nicht selten war Klaus in der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz angemacht worden, weil er grunzend über einem Folianten eingenickt war, aber es kam auch relativ häufig vor, dass er, bevor er unangenehm auffiel, von Benno, der ganz zufällig in der Stabi herumgeschmökert hatte, angeschubst wurde und dann ging's ab an den Kicker im Max und Moritz am Moritzplatz und dann immer tiefer in die Nacht hinein.
Benno war viel interessanter, als ein Foliant. Klaus erinnerte sich gerne an den Sommer, wo sie mit diesem Musikstudenten, Raffa, zum Reichstag latschten. Sie drei hatten sich zufällig in der Cafeteria der Stabi, der Staatsbibliothek, getroffen und aus deren Panoramafenstern, den Schwimmbaggern und den sich wie Spargeln aus dem Treibsand herausschraubenden Hochhäusern am Potsdamer Platz zugeschaut und dann spontan entschieden Christos verhülltem Reichstag einen Besuch abzustatten. Der sei „ein visueller Klangraum und absolut kongenial und sowieso Gustav“, wie Raffa, der Musikus immer wieder betonte. Meist beklagte sich Raffa lautstark darüber, wie teuer musikwissenschaftliche Literatur sei, aber wenn er etwas Spitze fand, dann war das schlicht: „Gustav“.
Klaus wusste, mit welcher Selbstverständlichkeit Kommilitone Raffael van der Hogh, Nebenfach Geschichte, zwei Drittel seiner Fachbücher zusammengeklaut hatte, denn der Weg von der Uni zum Café Hardenberg und von da aus zu einer auf Musikwissenschaften spezialisierten Buchhandlung, war sehr kurz. Eigentlich gleich nebenan. Klaus kannte auch die anderen Manien von Raphael: Alles über Enterprise sammeln, den Soundtrack James Horners mit wenigstens einer Mahler Symphonie, elegant verbinden zu können und überhaupt: Mahler. Eine große Mahler Büste stand in seinem familiär geförderten Stuckaltbaustudierzimmer in Charlottenburg und illustrierte seine Verehrung.
Benno dagegen hatte lange rote Haare. Benno hatte sich aus NRW nach Berlin verirrt, immer Bücher und Stoff dabei, liebte Arno Holz, empfahl das Antiquariat „Knesebeck 11“ und liebte eigentlich alles, was sich von links nach rechts auf ein Papier bringen ließ. Wobei die Richtung nicht zwingend vorgeschrieben war.
Und Klaus? Immerhin konnte Klaus Erlebnisse aus der Psychiatrie, Sexkinos und Hotelportalen einbringen und darauf hoffen, dass keiner merkte, dass er weder eine Ahnung von Holz- noch von Mahlerarbeiten hatte.
Aber an diesem Abend, als sie zum Reichstag marschierten, war das auch egal. Das Wetter war herrlich, die Abendstimmung noch besser, der Mond in Sichelform war auch noch da und selbst Mitteleuropäer, die meinten auf Congas rumkloppen zu können, konnten den Zauber nicht stören.
Sie saßen auf der Wiese vor dem Reichstag und sahen auf ein silbern umhülltes Wünscherfüllungskästchen. Obwohl alle wussten, was sich unter diesem silbernen Tuch von Christo verbarg, war es schon ein mystisches Gefühl, sich dem Objekt zu nähren. So als sei es ein UFO. Das neue Kleid des Reichstages verbarg nichts. Es offenbarte den Silberstreif, der wohl jedem die Möhre des Weitermachens ist: Du kannst Dich neu erfinden. Nichts muss so bleiben, wie es ist. Eine solche Tabula rasa in Silberfolie, schienen die Deutschen gebraucht zu haben.
Klaus wusste nicht mehr, worüber sie sich auf der Reichstagswiese unterhalten hatten. Benno ließ einen milden Joint umgehen und Raphael, weil er den Klangraum unter Beweis stellen wollte, setzte jedem von ihnen seinen Monsterkopfhörer auf und faselte, dass es zwar nur Philipp Glass sei, aber zu einem wilhelminischen Klotz passe Gustav nicht, dafür aber perfekt das Konzert für Violine und Orchester von Glass.
Klaus war überwältigt. Jointraum, Visioraum, Audioraum? Alles egal, alles passte. Er sah sich selbst, als die Figur, die Richard Dreyfuss in Spielbergs „Close Encounters“ gespielt hatte. Klaus wartete darauf, dass die Aliens jeden Augenblick die silberne Hülle des Reichstages zerreißen, hervortreten und ihn zur Mitfahrt zum Zentrum der Milchstraße einladen würden.
„Drauf geschissen“ schüttelte Klaus, der Dauerstudent der Schrocks, seine Sentimentalitäten und Erinnerungen ab, wartete, bis sich die Schranke zum Großmarkt hob und er mit seinem kleinen Corsa auf seinem Weg nach Canossa in die Welt fuhr, in der die Firma Schrock & Söhne seit zweihundert Jahren Obst und Gemüse kaufte und mit Gewinn verkaufte.
Es war Klaus Gang nach Canossa. Und es war nicht komisch. Klaus war siebenundzwanzig geworden, war im fünfzehnten Semester und immer noch nicht Magister Artium. Noch nicht einmal nah dran, einer zu werden.
Sein Vater nannte ihn nur den Nachtschichtenmagister und meinte damit sowohl Klaus Jobs, die vom Aushilfspfleger in einer Geschlossenen, Filmvorführer in einer Nonstopsexkino-Kaschemme bis hin zum Hotelportier reichte. Diese Nachtschichten boten Klaus ein wunderbares Alibi, warum es tagsüber nicht so recht klappen wollte mit dem Studium, warum die Konzentration bei den Vorlesungen über die nationalsozialistischen Stadtentwicklungspläne in der Zeit von 36-39 oder den Gottesbildern der Antike nur suboptimal war, wie überhaupt auch die Konstanz seiner Anwesenheit. Ein Foliant der Monumenta Germania Historiae wirkte nicht nur einschüchternd, sondern auch einschläfernd.
Nicht selten war Klaus in der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz angemacht worden, weil er grunzend über einem Folianten eingenickt war, aber es kam auch relativ häufig vor, dass er, bevor er unangenehm auffiel, von Benno, der ganz zufällig in der Stabi herumgeschmökert hatte, angeschubst wurde und dann ging's ab an den Kicker im Max und Moritz am Moritzplatz und dann immer tiefer in die Nacht hinein.
Benno war viel interessanter, als ein Foliant. Klaus erinnerte sich gerne an den Sommer, wo sie mit diesem Musikstudenten, Raffa, zum Reichstag latschten. Sie drei hatten sich zufällig in der Cafeteria der Stabi, der Staatsbibliothek, getroffen und aus deren Panoramafenstern, den Schwimmbaggern und den sich wie Spargeln aus dem Treibsand herausschraubenden Hochhäusern am Potsdamer Platz zugeschaut und dann spontan entschieden Christos verhülltem Reichstag einen Besuch abzustatten. Der sei „ein visueller Klangraum und absolut kongenial und sowieso Gustav“, wie Raffa, der Musikus immer wieder betonte. Meist beklagte sich Raffa lautstark darüber, wie teuer musikwissenschaftliche Literatur sei, aber wenn er etwas Spitze fand, dann war das schlicht: „Gustav“.
Klaus wusste, mit welcher Selbstverständlichkeit Kommilitone Raffael van der Hogh, Nebenfach Geschichte, zwei Drittel seiner Fachbücher zusammengeklaut hatte, denn der Weg von der Uni zum Café Hardenberg und von da aus zu einer auf Musikwissenschaften spezialisierten Buchhandlung, war sehr kurz. Eigentlich gleich nebenan. Klaus kannte auch die anderen Manien von Raphael: Alles über Enterprise sammeln, den Soundtrack James Horners mit wenigstens einer Mahler Symphonie, elegant verbinden zu können und überhaupt: Mahler. Eine große Mahler Büste stand in seinem familiär geförderten Stuckaltbaustudierzimmer in Charlottenburg und illustrierte seine Verehrung.
Benno dagegen hatte lange rote Haare. Benno hatte sich aus NRW nach Berlin verirrt, immer Bücher und Stoff dabei, liebte Arno Holz, empfahl das Antiquariat „Knesebeck 11“ und liebte eigentlich alles, was sich von links nach rechts auf ein Papier bringen ließ. Wobei die Richtung nicht zwingend vorgeschrieben war.
Und Klaus? Immerhin konnte Klaus Erlebnisse aus der Psychiatrie, Sexkinos und Hotelportalen einbringen und darauf hoffen, dass keiner merkte, dass er weder eine Ahnung von Holz- noch von Mahlerarbeiten hatte.
Aber an diesem Abend, als sie zum Reichstag marschierten, war das auch egal. Das Wetter war herrlich, die Abendstimmung noch besser, der Mond in Sichelform war auch noch da und selbst Mitteleuropäer, die meinten auf Congas rumkloppen zu können, konnten den Zauber nicht stören.
Sie saßen auf der Wiese vor dem Reichstag und sahen auf ein silbern umhülltes Wünscherfüllungskästchen. Obwohl alle wussten, was sich unter diesem silbernen Tuch von Christo verbarg, war es schon ein mystisches Gefühl, sich dem Objekt zu nähren. So als sei es ein UFO. Das neue Kleid des Reichstages verbarg nichts. Es offenbarte den Silberstreif, der wohl jedem die Möhre des Weitermachens ist: Du kannst Dich neu erfinden. Nichts muss so bleiben, wie es ist. Eine solche Tabula rasa in Silberfolie, schienen die Deutschen gebraucht zu haben.
Klaus wusste nicht mehr, worüber sie sich auf der Reichstagswiese unterhalten hatten. Benno ließ einen milden Joint umgehen und Raphael, weil er den Klangraum unter Beweis stellen wollte, setzte jedem von ihnen seinen Monsterkopfhörer auf und faselte, dass es zwar nur Philipp Glass sei, aber zu einem wilhelminischen Klotz passe Gustav nicht, dafür aber perfekt das Konzert für Violine und Orchester von Glass.
Klaus war überwältigt. Jointraum, Visioraum, Audioraum? Alles egal, alles passte. Er sah sich selbst, als die Figur, die Richard Dreyfuss in Spielbergs „Close Encounters“ gespielt hatte. Klaus wartete darauf, dass die Aliens jeden Augenblick die silberne Hülle des Reichstages zerreißen, hervortreten und ihn zur Mitfahrt zum Zentrum der Milchstraße einladen würden.
„Drauf geschissen“ schüttelte Klaus, der Dauerstudent der Schrocks, seine Sentimentalitäten und Erinnerungen ab, wartete, bis sich die Schranke zum Großmarkt hob und er mit seinem kleinen Corsa auf seinem Weg nach Canossa in die Welt fuhr, in der die Firma Schrock & Söhne seit zweihundert Jahren Obst und Gemüse kaufte und mit Gewinn verkaufte.