Inhalt 
II. 

I

Novelle zum Thema Selbstbestimmung

von  Lala

I.

„Die Aufklärung, Klaus, hat mit dem Volkspapst Hildebrandt und seinem vom Zaun gebrochenen Streit um die Vergabe der Bischofsmützen begonnen. Ist so. Guck nicht so. Ich sag’s, wie es ist: knallhart. Hildebrandt war der Erste, der durch die Wand gedacht hat. Der hat was beansprucht, was ihm nicht zustand. Aber volle Kanne. Moment mal: Wir hätten gerne noch zwei Halbe.“

Der Satz über den Beginn der Aufklärung, gefallen zwischen dem sechsten oder siebten Bier in einer Kneipe während eines Viertelfinalspiels der Fußball WM 1990, dieser Satz, sollte Klaus sein Leben lang verfolgen. So verfolgen, wie die Kameruner ihre Niederlage im Viertelfinale gegen England. Die Kameruner waren viel besser als die Engländer. Verloren haben sie trotzdem. Sie verloren wegen eines versoffenen Ahns eines Kolonialisten und einem Genie von einem Fußballer, der – da schließt es sich hermeneutisch - wie ein guter Drink heißt: Gascoigne.

Klaus, der vom Satz Verfolgte, hatte die Theorie über die Aufklärung erstmals in der dicken Wirtin am Savigny Platz in Berlin von Benno, dem Dauerstudenten, dem Faktotum aus dem Telefunken Gebäude der Technischen Universität, während einer frühen Form des „Public Viewing“ in einer Ecke des Gastraums der Wirtin, gehört. Irgendwann in der Halbzeitpause des Viertelfinales, verschob Benno, der Erfinder des entspannten Dauerstudiums, den Erfinder der Aufklärung, Descartes, Hunderte von Jahren in die Vergangenheit. Und dabei war Klaus erst im zweiten Semester des Grundstudiums der Geschichte.

Bennos These sollte Klaus mehr verfolgen, als seine pubertäre Furcht, beim Wichsen erwischt zu werden. Aufklärung bedeutete für Klaus, das Durchbrechen selbstgemauerter Denkwände, Moralvorstellungen, Bettdecken und ethischer Prinzipien. Das war Klaus wichtig. Denn am Ende eines solchen Prozesses, Althergebrachtes zu hinterfragen und hinter sich zu lassen, stand, wie Klaus meinte, immer die Entdeckung eines neuen Universums. Jedenfalls hatte Klaus selbst die Erfahrung gemacht, dass sich das Universum der Kindheit auf den Kopf stellt, wenn man die Mittel hat, es zu hinterfragen - oder Geschwister, die stark genug sind, Papas Hausmacht zu brechen.

Während die anderen seiner Kommilitonen sich mit modernen Fragen der Welt, wie AIDS und Umweltschutz oder – weit überwiegend - mit den eigenen Karrierechancen, Sex, Love Parades und Inneneinrichtungen beschäftigten, dachte er, Klaus, über das Weltbild des Mittelalters nach. Es ließ ihm einfach keine Ruhe. Die Griechen waren schwul, hetero, pädophil und irgendwie wie man selbst, die Römer waren hetero, schwul, Sex addicted und noch mehr so wie man selbst, weil sie wie die Modern Talking Version der Griechen aussahen und die Welt erobern wollten. Aber das Mittelalter? Nein, das war nicht wie Klaus oder seine Zeitgenossen. Es war anders. Es sah auf den ersten Blick aus wie ein Zerrbild von Tolkiens trockenem Gelehrtentraum dem „Herrn der Ringe“ – ohne die Orcs, ohne die Elfen, ohne Smaug dem Drachen, Zwerge und Zauberer. Also allem, was von Interesse sein könnte und obwohl alle spannenden Zutaten, alle Gewürze (sic) fehlten, hielt es sich über die Dauer eines Millenniums. Wie konnte das sein?

Im MA, wie die Abkürzung des Mittelalters an der Uni hieß, im MA, schienen alle nur das zu machen, wozu sie berufs- und abstammungsmäßig bestimmt waren. Das Etikett des Berufs oder der Berufung überklebte jeden Namen, jede Individualität. Das kannte Klaus vom Rollenspiel „Das schwarze Auge“. Das schwarze Auge war ein super Rollenspiel, das er bis zum Abwinken mit seinen Mitabiturienten gespielt hatte. Immer dann, wenn er gerade nicht in der Schule war oder verschämt onanierte, weil er von extrem geilen Tittenmonstern träumte, spielte er das schwarze Auge. Beim schwarzen Auge gab es die fehlenden Gewürze; Elfen, Zwerge, Drachen und, ach, ja: Helden. Und jede Menge Spaß. Superviel Spaß. „Hölle-Spaß“, wie sich Klaus, Uwe, Wolf, Andi und Ecki immer wieder versicherten, während sie an den Lippen und den Erklärungen des von ihnen bestimmten Spielleiters hingen, der sich die ganze Story ausgedacht hatte.
Und während der Spielleiter sie durch eine tolle Fantasy Welt führte, träumten sie ganz unabhängig von aller Fantasy, dass der picklige und nasal klingende Spielleiter doch wie Manon aussehen möge, wie die heißeste Braut an der Schule, und ihnen schmutzige Befehle, statt die Erfolgsaussichten eines Angriffswurfes auf ein Drachennest mit diesen kubistischen, dreizehneckigen Würfeln ausrechnete. Gut, vielleicht träumte Ecki nicht von Manon. Vielleicht träumte er von Schwänzen. Jedenfalls war Klaus ganz irritiert, als er zwanzig Jahre nach dem Abitur Ecki wiedersah und Ecki sich ihm als Ulrike vorstellte. „Was für eine Scheiße“ war Klaus unmittelbar durch den Kopf geschossen und noch mal zehn Jahre später, das wusste Klaus aber noch nicht, als er das Viertelfinalspiel England gegen Kamerun sah, ertappte sich der fünfzigjährige Klaus dabei, wie er sich einen runterholte, weil er von der Ulrike im Ecki als Transe mit Titten träumte. Was für eine Scheiße. Zurück zum Thema.

Das Problem am MA für Klaus war, dass er es verstehen wollte, dass er es durchdringen wollte. Allerdings kam erschwerend hinzu, dass er Latein nur dem Abi-Schein nach konnte. Er hatte sich durchgemogelt, weil sein über sechzig Jahre alter Lateinlehrer lieber vom Wüstenkrieg erzählte oder mit Hadi dem Iraner in der Klasse über Wüstenkriegstaktiken debattierte.
Klaus hatte nie den Tag vergessen, als Hadi plötzlich zur dritten Stunde in einer khakifarbenen Uniform auftauchte und berichtete, dass er vom iranischen Geheimdienst verpflichtet worden sei, an einem streng geheimen Untergrundkommando hinter den irakischen Linien teilzunehmen. Henter, ihr Lateinlehrer, vergaß Latein und diskutierte fünfundvierzig Minuten mit Hadi an der Schiefertafel die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten dieses Einsatzes. Klaus war die ganze Stunde über schwer irritiert und wusste sich keinen Reim auf den Auftritt, von Hadi zu machen, bis ihn Andi in der nächsten Pause darüber informierte, dass Hadis Auftritt aus der Verzweiflung geboren war und die Uniform aus einem Kostümverleih stammte. Hadi hätte diesen Auftritt gemacht, um seinen Asylantrag zu verlängern.
Statt Latein lernte Klaus also mehr über den Wüstenkrieg und den Taktiken von Monti und dem Wüstenfuchs sowie der aktuellen Nahostpolitik. Anders formuliert: Er hätte in der Uni einen Vorleser und Übersetzer für die Quellen gebraucht. Da er – wie schon erwähnt - keine Titten hatte und allerhöchstens als Bösewicht im schwarzen Auge geglänzt hatte und nie, niemals, nie nicht die Sado-Barbie in Treblinka war, wusste Klaus, dass es mit der Durchdringung des MA und der Erfüllung seines Lebenstraumes ohne fremde Hilfe oder einer nicht weniger illusorischen Selbstdisziplin, das Versäumte selbstständig aufzuholen, nicht einfach werden würde.

Klaus litt an dieser Unzulänglichkeit. Das Objekt seiner Begierde, sein Sehnsuchtsziel, das MA, es schien ihm in vielen Momenten schlicht unerreichbar. Während Klaus in einer Zeit lebte, in der die modernen Menschen, die modernen Zwerge des zivilisatorischen Farbfernsehauges, fleißig gruben und mehrere kommunizierende Röhren zwischen Frankreich und England erschaffen hatten oder es zumindest schwer vorhatten, während die Entfernungen durch Tunnel, Brücken, Geschwindigkeiten, Kommunikation und vor allem durch standardisierte Containerschiffe auf Tagesausflugsgröße schrumpften, wurde die Vergangenheit, die Distanz zu Chlodwig und seinen Nachfolgern, für Klaus immer größer; immer ferner. Ein schnelle Röhre zwischen dem heiligen Klausreich deutscher Nation und einer mittelalterlichen Insel in der Zeit? Ganz unmöglich. Aber die Verbindung zwischen Paris und London würde bald in vier Stunden machbar sein. Ausgerechnet. In diesen Städten, in diesen Ländern, hatte doch das epische Mittelalter stattgefunden? Da war die spanische Armada, angeführt vom katholischen Darth Vader, in Wind und Wetter zerborsten? Zu Zeiten eines Barbarossas rechnete man noch in Jahren und Jahrzehnten für eine Überfahrt. Alle Filme, die er gesehen hatte, spielten in dieser entschleunigten Welt. Ob Ivanhoe, der Löwe im Winter, Ein Mann für alle Jahreszeiten oder der König der letzten Tage.
Im MA lebten, passierten, regierten, agierten der rasende Roland, El Cid, die Gottesfrieden und Wilhelm der Eroberer. Da herrschte ein Gerangel um Reliquien, Angst vor dem Leben und Furcht nach dem Tode und nicht etwa ein sturer Fahrplan zwischen Dover und Calais, der bei Nichteinhaltung, nur maximale Spannung wegen Darmverhaltung und Blasenfülle ergibt. Die DIN-Norm, die Industrienorm, war im MA Lichtjahre entfernt.

Ja, das MA war anders. Dem Mittelalter dienten tausend Jahre lang die größten philosophischen Schriften der Antike als Schmierpapier, als gerade gut genug, um auf der Rückseite Klosterregeln oder Merseburger Tagebucheinträge mit Schnickedöns einzutragen. Was war geschehen, verfickt noch mal?

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Kommentare zu diesem Text


 Sylvia (26.05.10)
Huhu Lala,

die ersten Absätze erinnern mich eigentlich eher an die 80er Jahre, wo zwischen 6. und 7. Bier die Welt erklärt wurde von den neuen jungen Theoretikern dieser Zeit, obwohl sie bisher wenig Selbsterfahrung sammeln durften.
Das Hochtrabende liegt ihnen eher als das Normale der Zeit (Selbstbefriedung immer noch als Kick des nicht erwischt werdens....welche Tragödie..ich musste lachen)

Das typische daran, die Geschichten mit verschiedenen Fantasien zu mischen und das hast du sehr gut beschrieben...
Klaus stelle ich mir als einen sehr nachdenklichen, schüchternen und verklemmten jungen Mann vor, der es nicht schaffte, dies abzulegen und einfach draufloszuleben...(evtl. sogar in der falschen Zeit geboren?)

Bin gespannt, wie es weitergeht und ob ich mich total irre und als Leuchtwicht zur Zwangarbeit geschickt werde.

lieben Gruß
Sylvia

 Lala meinte dazu am 27.05.10:
Hallo Sylvia,

ich kaann nur hoffen, dass dich der Text nicht irgendwann im Stich lässst bzw. enttäuscht, langweilt oder frustriert. Nicht dass er mir nicht wichtig oder nicht gut genug wäre, nein, aber ich befürchte es ist zu sehr eine Kopfgeburt geworden. Aber es freut mich natürlich, dass es Dich bislang unterhalten hat und hoffe, dass es das auch weiterhin tut.

Gruß

Lala
Muriel (33)
(12.05.13)
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