Halt

Roman zum Thema Sicherheit

von  Mutter

Der Nachmittag verläuft harmonisch – fast, als wäre alles völlig normal. Nur einmal, während wir am Kanal spazieren gehen, fängt Manu plötzlich unvermittelt an zu schluchzen. Die allgegenwärtigen Boule-Spieler entlang des Ufers sehen rüber. Ich nehme sie fest in den Arm, langsam gehen wir weiter. Erklären muss sie mir nichts. Ich habe mich in den vergangenen Tagen oft genug genauso gefühlt. Gerade habe ich die Stärke, um sie halten zu können.
Hinter uns geht die Sonne unter und wirft endlos lange Schatten unserer verschmolzenen Körper auf den hellen Sandboden.
Ich erzähle ihr, was mir Dombrowski gesagt hat. Sie fragt nach Chris, und nach meiner Zeit als Erzieher. Als ich von früher berichte. Vergesse ich fast, was nach früher passiert ist. Ihre nächste Frage holt mich in die Gegenwart zurück.
„Wann redest du mit den Bullen? Wegen dem Tintenblut?“
„Morgen früh. Ich will heute Abend noch mal da vorbei.“
Sie hält inne. Ihre Chucks scharren auf dem Sand, als sie sich zu mir umdreht. Und dabei unsere Umarmung löst. Mit dem Zeigefinger wischt sie sich dezenter Spuren verlaufener Schminke von unter den Augen weg. „Was willst du da?“
Ich zucke mit den Schultern. Sehe rauf aufs Wasser und antworte gedehnt: „Rausfinden, ob er lügt? Das kann ich nicht komplett denen überlassen.“ Mit einem Ruck drehe ich mich zurück zu ihr. Sie macht einen Schritt an das gusseiserne Geländer, das die Uferböschung vom Weg abgrenzt und lehnt sich dagegen. Ich folge ihr, halte aber etwas Abstand. Der innige Moment von gerade eben ist vorbei.
„Im Moment sieht alles so aus, als ob Tiger der Täter ist. Er ist der einzige, der in Frage kommt. Ich meine – er war sogar in Hamburg.“ Sie nickt bei meinen erregten Worten.
„Wenn der Tätowierer wirklich Dreck am Stecken hat, wenn das eine echte Spur ist – die möglicherweise Tiger komplett entlastet, will ich das wissen.“
„Du glaubst immer noch nicht daran, dass es Tiger war, oder?“
Ich kann das nicht glauben, will ich rufen. Weil mich das kaputtmachen würde. Stattdessen schüttle ich kurz den Kopf. „Ich schaue mich heute Abend in dem Laden um und morgen gehe ich zu Wehmeier und sage ihm, was wir über das Tintenblut wissen. Wahrscheinlich ist da ja ohnehin nichts.“
„Ja. Lass uns weitergehen, ja?“ Wir setzen uns in Bewegung und gehen so dicht, dass sich unsere Arme kurz berühren. Bevor ich wieder auf Abstand gehen kann, ergreift sie meine Hand.
Und bemerkt mein Zucken. „Geh nicht weg, Luca. Das hier ist … eine besondere Situation. Wir schaffen das nicht alleine. Ich schaffe das nicht.“
Ich sehe sie von der Seite an, meine Hand immer noch unentspannt in ihrer.
„Hast du das Gefühl, Luisa zu verraten, wenn du mir zu nahe kommst?“
Meine stumme Antwort ist der Schleier, der sich feucht über meine Augen legt. Sie verschwimmen lässt.
Ihre Stimme wird immer leiser, so dass ich sie kaum verstehen kann. „Ich habe nicht vor, Luisa zu ersetzen. Versteh‘ das doch. Aber du bist meine stärkste Verbindung zu ihr. Ihr beide – ich weiß nicht, manchmal habe ich das Gefühl gehabt, eure Verbindung sei stärker als die zwischen ihr und mir. So verrückt das klingt.“
Ihre Worte machen es nicht besser – ich kann kaum noch etwas sehen. Wische mir mit dem Handrücken der Linken über die Augen, aber es ist zwecklos.
„Können wir uns nicht einfach nahe sein? Nur bis wir wieder die Stärke haben, alleine zu gehen?“
Schwach nicke ich.
„Danke.“ Sie klingt erleichtert, ich höre das Lächeln in ihrer Stimme – sehen kann ich es immer noch nicht richtig. „Ich verspreche auch, ich komme dir nicht zu nahe.“
Schnaubend lache ich – die durch das Heulen verstopfte Nase gibt ein wenig appetitliches Geräusch von sich. Unter Lachen reicht Manu mir ein Taschentuch. Der Spruch ist ein Zitat – eine ganz alte Geschichte, die ich in Weinlaune mal den beiden Schwestern erzählt hatte. Damals, kurz nach dem Abi, hatte ich viel Zeit mit einer guten Freundin verbracht – und ich hätte nichts lieber getan, als mit ihr ins Bett zu gehen. Aber aus Angst, etwas kaputt zu machen, hatte ich nie etwas gesagt. An einem Abend, als es wie die Hölle geregnet hatte und wir durchnässt vor ihrer Tür standen, hatte ich versucht, bei ihr zu übernachten. Und jenen Satz gesagt: „Ich verspreche auch, ich komme dir nicht zu nahe.“ Obwohl genau das meine Hoffnung gewesen ist.
Beide Schwestern hatten sich darüber kaputtgelacht und der Spruch war zu so etwas wie einem geflügelten Wort geworden: Um angewandt zu werden, wenn man sich über mich lustig machen wollte.
Jetzt erfüllt er seinen Zweck, das Eis ist gebrochen. Ihre Hand fasst fester zu, ich erwidere den Druck. Als ich fertig bin mit Naseputzen und das Taschentuch sinken lasse, macht sie einen Schritt auf mich zu. Ich kann ihren Duft riechen. Sie öffnet die Arme mit einem Lächeln und ich mache den Schritt hinein. Für eine Ewigkeit stehen wir dort auf dem Weg. Jogger, Spaziergänger und Fahrradfahrer weichen dem natürlichen Hindernis, das wir bilden, widerspruchslos aus.
Irgendwann lösen wir uns voneinander, gehen Hand in Hand nach Hause. Ich bringe sie noch nach oben, um meinen Helm zu holen.
Wir haben die ganze Zeit kaum gesprochen und stehen uns im Flur gegenüber – sie an der Tür lehnend, ich im Türrahmen.
„Ich bin nicht lange weg“, sage ich. Meine Stimme klingt, als wäre sie das Sprechen nicht mehr gewohnt. Als hätte ich nicht eine Stunde, anderthalb nicht gesprochen, sondern einen Monat. Sie antwortet nicht.
„Gehen wir nachher noch was essen? Irgendwohin weg? Vielleicht ein paar Bier?“, biete ich an.
„Mitnehmen willst du mich nicht, oder?“
Ich schüttle den Kopf – heftig, um ihr klarzumachen, dass das nicht in Frage kommt. Sie hat offenbar nichts anderes erwartet. „Ja, lass uns nachher was trinken lassen.“
Wir verabschieden uns mit einem matten Lächeln, bevor sie die Tür sanft schließt.
Auf dem Weg nach unten kommt es mir vor, als hätte ich mich gerade auf unbestimmte Zeit verabschiedet.

Meine Hand tastet nach dem Schalter. Widerstrebend erwacht das gelbe Licht im Keller zum Leben. Der Schein der Birne vorne am Eingang dringt nicht bis in unseren Verschlag vor, deswegen habe ich damals, als Luisa und ich hier eingezogen sind, gleich Kabel verlegt und eine Birne und einen Schalter eingebaut.
Langsam lasse ich den Blick schweifen. Links stehen ein paar Kartons gestapelt, die gesamte rechte Wand wird von einem alten Holzregal eingenommen. Die Wohnung war für mich immer mehr Luisas Reich als meins – wir haben die meisten Entscheidungen gemeinsam getroffen, aber Luisa war es immer irgendwie wichtiger als mir. Ich war zufrieden, einfach mit ihr zusammen in der Wohnung zu leben, ob die Vorhänge dabei blau oder weiß, oder gepunktet waren, hat mich nicht wirklich interessiert. Der Keller war dagegen immer meine Domäne. In den Kartons sind ein paar meiner alten Sachen, für die ich in der Wohnung keinen Platz oder keine Verwendung hatte. Luisa hat immer gesagt, bevor sie Zeug hier unten stapelt, kann sie es gleich wegschmeißen. Ich sauge den leicht modrigen Geruch ein und muss lächeln. Ich weiß, was sie gemeint hat.
Ich mache einen Schritt in den kleinen Raum, geduckt, um mir nicht den Kopf zu stoßen. Im ersten Regal lagern Blades und Schlittschuhe und in der Ecke hinter der Holztür lehnt mein Eishockeyschläger. Keine Ahnung, wo sich die Handschuhe und der Puck befinden.
Etwas weiter rein sind meine ganzen Werkzeuge. Das meiste in stabilen Kästen, aber die größeren Sachen liegen einfach im Regal: Der Bandschleifer, die Kiste mit der Hilti-Bohrmaschine, um die mich Frank immer so beneidet hat. Vielleicht sollte ich sie ihm schenken, wenn diese ganze Sache ausgestanden ist. Unter anderem gibt es dort auch eine Brechstange – ist von irgendeinem Bauprojekt damals im Jugendzentrum übriggeblieben und aus irgendeinem Grund in meinem Keller gelandet. Der rote Lack ist fast komplett von dem dunkel angelaufenen Metall abgekratzt. Ich wiege das Ding in der Hand – würde wohl eine hervorragende Waffe abgeben. Ich verlasse den Verschlag, verschließe die Tür  wieder mit dem winzigen Vorhängeschloss. Nach einem Moment des Zögerns schließe ich wieder auf, krame in einer der Werkzeugkisten. Finde eine alte Billigtaschenlampe, die auf Knopfdruck trüben Schein spendet. Nichts gegen meine fette Maglite, aber die steht oben in der Wohnung im Sicherungskasten – hinter versiegelter Tür.
Auf dem Weg nach draußen schiebe ich mir die Brechstange hinten in den Hosenbund, unter die Jacke. Auf dem Bock kann ich sie ohnehin nicht in der Hand halten.

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