Aleassar

Roman zum Thema Gott

von  Mutter

Am nächsten Morgen warteten ihr Vater und Bragos bereits auf sie, als sie die breite Treppe in die Vorhalle hinunter kam. In der Hand trug sie das schlanke Fechtschwert, das sie vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ihre Eltern hatten früh darauf bestanden, dass Savena ihrem Körper genauso viel Aufmerksamkeit entgegenbrachte wie ihrem Geist, und hatten keinerlei Einwände, als das junge Mädchen die Fechtkunst als sportliche Betätigung für sich entdeckt hatte.
‚Bragos hat schlechte Nachrichten, Savena‘, eröffnete ihr Vater das Gespräch.
Sie legte den Kopf schief und sah ihn an, aber er drehte sich stattdessen zu Bragos und ermunterte diesen mit einem Nicken. Der verzog das Gesicht und brauchte einen Moment um sich zu sammeln, offensichtlich überrascht, die Nachricht Savena gegenüber wiederholen zu müssen. ‚Ich war eben unten am Hafen, um mit dem Kapitän Eures Schiffes zu sprechen. Er sagt, dass er vermutlich nicht auslaufen kann. Die Gilde hat vom Konzil keine Erlaubnis, um das Südkap zu fahren. Eure Passage ist storniert worden.‘
Savena war bei seinen Worten die letzten Stufen herabgestiegen und stand nun vor den beiden.
‚Warum? Was soll das?‘ fragte sie ihren Vater, als Bragos nicht fortfuhr.
‚Es scheint, als gäbe es Ärger mit der Republik von Mantui. Sie haben schon wieder einige Konvois aufgebracht, und die Gilde rüstet Kriegsschiffe aus, um die Schiffe zu schützen. Bis dahin sind die meisten Fahrten untersagt.‘
‚Aber es sind nur noch ein paar Wochen bis zu den Herbststürmen. Wenn ich bis dahin nicht um das Kap bin, muss ich den Winter hier verbringen!‘
‚Es tut mir leid, aber es lässt sich nichts machen. Die Gilde wird jede Passage verbieten.‘
Savena nickte resigniert, unfähig, ihrer Frustration Luft machen zu können. Sie lächelte Bragos kurz zu, der sich für die schlechten Neuigkeiten persönlich verantwortlich zu fühlen schien.
‚Selbst wenn du vor dem Winter keine Passage bekommst, es sind nur ein paar Monate‘, sagte ihr Vater und strich ihr über die Wange.
Savena nickte erneut nachdenklich und starrte auf das schlanke Schwert in ihren Händen. ‚Ich wollte dafür ein Gehenk anfertigen lassen, um es auf der Reise tragen zu können. Sieht nicht so aus, als müsste ich mich damit beeilen.‘
Bragos entgegnete nichts, und nach einem Moment ging sie, um ihren Umhang zu holen.
‚Ihr bringt es trotzdem weg?‘ fragte Bragos, als sie das Schwert mitnahm.
Savena lächelte ihn an und nickte. ‚Vielleicht habe ich Glück, und komme doch noch vor den Herbststürmen hier weg. Ich hätte keine Lust, das Schwert auf der gesamten Reise in der Hand zu tragen.‘
Bragos lächelte ebenfalls, und musste dann seinen Gang beschleunigen, um ihren weitausladenden Schritten zu folgen.

Kurz darauf hatten sie den Sattler erreicht, bei dem ihre Familie üblicherweise alle anfallenden Arbeiten machen ließ. Nachdem Savena beschrieben hatte, was sie sich vorstellte, nahm der Sattler kurz Maß und sie überließ ihm das Schwert. Am nächsten Tag würde das Gehenk fertig sein, versprach er.
Als sie zurück auf der Straße standen, überlegte Savena einen kurzen Moment. Ihr Vater hatte sie gebeten vor ihrer Abreise den Tempel von Aleassar zu besuchen, und obwohl sie für die überheblichen Priester keine Liebe empfand, schien der Gang in den Tempel ein weiterer Akt zu sein, der sich ihrem Verbleiben in Avuto verweigerte.
Sie machte sich auf den Weg in den Bezirk der Neun Götter, und hatte bald darauf den Tempel Aleassars erreicht, der genau in seiner Mitte lag. Aleassar war der Gott des Wissens und der Magie, und obwohl die Götter Lamass und Aartima für ihren Aspekt der Magie, die Heilung, zuständig waren, war sie Aleassar zumindest widerwilligen Respekt schuldig.
Sie betrat die Tempelvorhalle, in der bürgerliches Volk, meist Händler und Gelehrte, ihre Opfergaben darbrachten, und durchschritt sie, direkt auf das große Bronzeportal zu, das den Eingang zum eigentlichen Tempel darstellte. Bragos war zurückgeblieben, und als die schwarz gewandeten Tempelwachen ihren Umhang sahen, traten sie einen Schritt zurück, um sie einzulassen. Sie war schon mehrmals in der inneren Halle gewesen, aber immer in Begleitung anderer Studenten oder ihres Meisters. Diesmal kam sie alleine und als vollwertige Magierin.

Drinnen war der Lärm aus dem Vorraum und der Straße kaum noch zu vernehmen. Die Stimmung in dem großen Raum glich eher der, die sie aus anderen Gotteshäusern gewohnt war, und sie dachte mit leichtem Groll daran, dass die Priester diesen Teil des Tempels ausschließlich für Magiekundige vorbehielten. Sie versuchte, ihre Gedanken zu leeren und sich zu beruhigen. Solche Gedanken mochte sie ungestraft denken, aber kaum in Aleassars Haus.
Mit weiten Schritten ging sie den Mittelgang des hohen Raumes hinunter, auf einem weichen, schwarzen Teppich. Da der Raum nicht von großen Massen an Gläubigen besucht, und auch kaum Messen abgehalten wurden, gab es keine Bänke oder Stühle in dem Tempel, und bis auf die riesige silberne Statue des muskulösen, drachenköpfigen Gottes keinerlei Verzierungen.
Sie kniete nieder und berührte vorsichtig die kühle Oberfläche der Statue. Anders als für die Gläubigen in der Vorhalle gab es im Tempel selbst nur eine Opfergabe, die Aleassar akzeptierte: Magische Energie.
Sie konzentrierte sich und ließ ihre Kräfte in die Statue fließen. Savena verharrte in der unbequemen Position auf ihren Knien, bis sie einen leichten Schwindel verspürte und den Strom unterbrach. Erschöpft musste sie sich aufstützen, um aufrecht zu bleiben.
‚Mächtiger Aleassar‘, flüsterte sie, ‚ich sollte Euch um eine sichere Reise bitten, aber stattdessen möchte ich um die Reise selbst bitten. Ermöglicht mir das Fortkommen, und alles Weitere wird sich zeigen. Keinen weiteren Winter in Avuto. Bitte!‘
Sie erhob sich vom Boden und sah zu dem Götterherrscher auf. Arram hatte einmal gesagt, sein Kopf ähnele eher dem eines Krokodils als dem eines Drachen, und sie musste sich ein Lächeln verkneifen, als sie daran dachte.
Gerade als sie sich zurückziehen wollte, öffnete sich eine schmale Tür an der Stirnseite der Gebetshalle, und ein Priester trat heraus. Ihm folgten zwei große muskulöse Krieger, und Savena verzog verächtlich ihr Gesicht. Kein Priester des Aleassar, der das Rot und Schwarz trug, brauchte den Schutz solcher Hünen. Der Priester selbst war klein und untersetzt und wies seine beiden Begleiter an, ihm zu folgen. Die dünnen Umhänge, die sie trugen, verbargen kaum ihre muskulösen Körper, und ihr langes, schwarzes Haar hing ihnen offen und Öl-glänzend über die Schultern.
Savena beobachtete die drei noch einen Moment, aber als ihr der Priester einen scharfen Blick zuwarf, neigte sie leicht den Kopf und zog sich dann aus der Halle zurück. 

In der Nähe des Portals sah sie plötzlich auf, und verspürte einen leichten Schauder. Direkt vor ihr, sie unverwandt ansehend, befand sich ein Kind - einer der Drachen Aleassars. Ein kleiner Junge, vermutlich nicht älter als vier oder fünf, mit kurzem, braunen Haar und feuchten Augen sah sie unverwandt an.
Sie hatte schon öfter eines der mächtigen Wesen aus der Ferne gesehen, und sie wusste, was der Junge repräsentierte. Eines der Kinder Aleassars, ein Magier mit unvorstellbaren Kräften, die im Laufe der Zeit schwanden, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Es gab nur wenige Drachen, die die Pubertät erreichten. Die meisten von ihnen verausgabten sich irgendwann, nicht wahrhaben wollend, dass ihre Kräfte geringer wurden.
Aber dieser Junge stand in der Blüte seiner Macht, und Savena konnte die Wellen der Energie, die von ihm ausgingen, förmlich spüren. Viel zu spät und sehr schnell verbeugte sie sich endlich, und wartete, dass er vorüber gehen würde.
Eine ganze Weile konnte sie seinen Blick immer noch auf sich spüren, und als er endlich an ihr vorbei in den Innenraum schritt, atmete sie erleichtert auf und erhob sich wieder.
Draußen erwartete sie Bragos, und mit leicht zittrigen Knien machte sie sich wieder auf den Weg zurück. Es blieb nur noch wenig Zeit, bis sie sich mit Kelima und Arram treffen würde, und sie hatte noch einiges vorzubereiten.

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