Kaninchen

Kurzprosa zum Thema Beobachtungen

von  Lala

Kaninchen

Wie so oft spazierte ich am See entlang, auf einem Weg, der sich ganz heimlich unter den Weiden am Ufer entlang schlängelte. Es war ein schöner Sommernachmittag, auch wenn am westlichen Himmel ein schwarzgraues Band begann, das Himmelszelt düster aufzurollen. Mein Blick schweifte hinüber ans andere Ufer und da sah ich plötzlich ein Engelchen.

Ein kleines Mädchen, flachsblond mit neckischen Zöpfen, wohl so um die fünf Jahre alt, hockte am gegenüberliegenden Ufer, wo auch der Spielplatz lag. Sie hockte vor dem Käfig in dem ihre Brüder Fußball mit einer Handvoll Jungs, ja fast schon jungen Kerlen, spielten.
Hin und wieder klatschte sie in die Hände und das Wasser des Sees trug ihr Stimmchen bis zu mir. Sie rief Marius, der war ihr ältester Bruder und sie rief ihn an, denn sie bewunderte und liebte ihn. Sie klatschte auch, wenn Raphael das Leder trat, denn der war ihr nächstälterer Bruder. Die Jungs werden sieben, fast neun Jahre älter als ihre Schwester gewesen sein und hin und wieder machten sie Gesten, zu ihrer Schwester, dass sie die Mannschaft ihrer Brüder und natürlich die Brüder selbst, noch mehr anfeuern sollte. Dabei plusterten sie sich auf und schnitten ihr freundliche Grimassen und dann lachten sie alle herzensgut. Sie liebten sich ganz offensichtlich.

Ein leichter Wind kam auf und mich fröstelte. Die Kleine hatte auch nicht soviel an, dass ihr warm sein konnte. Das sorgte mich doch sehr. Ein dünnes Hemd und ein kurzes Röckchen, dass sie ein ums andere Mal hochziehen musste, dass es ihr nicht runterrutschte. Sie war nicht dick, vielleicht etwas pummelig, was sie nur noch niedlicher für mich machte. Sie freute sich und war beseelt. Ihre Welt war unschuldig und bevölkert von Helden wie Marius.

Ich starrte ganz versunken auf ihre kleine Gestalt und achtete nicht auf den Weg am Ufer. So kam es, dass ich die dicke Kröte, die unglücklicherweise meinen Weg kreuzte, weder hörte noch sah. Zu meinem und zu ihrem Schaden begrub ich sie unter meinen viel zu blanken Sohlen. Wie auf eisigem Grund rutschte ich weg und eh ich mich recht versah, schlitterte ich geradewegs in eine tückische Untiefe des Sees die Uferböschung hinab. Brusthoch stand ich nun im Wasser. Vielleicht hätte ich geschimpft und geflucht und mich gleich aus dem See wieder raus geflüchtet, aber wie magisch zog es meinen Blick, wobei mir die tief ins Wasser hängenden Zweige der Weiden die Sicht erschwerten, zu meinem blonden Engelchen. Zu meinem eigenen Entsetzen sah ich sie nicht mehr. Fort schien sie! Wie durch Geisterhand verschwunden. Die Brüder aber spielten immer noch und hatten anscheinend genauso wenig bemerkt, dass ihre Schwester nicht mehr am alten Platze war. Verzweifelt suchte ich sie mit meinem Blick am anderen Ufer und fand sie endlich an der Seite eines Mannes.
Ein netter, älterer Herr in meinem Alter hielt sie an der Hand und führte sie vom Spielplatz weg in Richtung Bahndamm. Dort gab es doch immer noch die Kaninchenställe und sichere Überdachung auch bei heftigem Sturm? Der Himmel kündete schon von nahem Wolkenbruch und hin und wieder ging eine unangenehm kalte Brise. Die Kleine wird gefroren haben. Ihre Zöpfchen und ihre Unschuld werden ihn angerührt haben und nun führte er den kleinen Engel in sichere Gefilde vor dem drohenden Gewitter.

Tief atmete ich durch. Als ich gesehen hatte, dass alles in der Ordnung war, versuchte ich jetzt erst, mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Meine Füße standen auf keinem festen Grund. Wenn ich sie belastete, so schien es mir, drohte ich noch tiefer in den Schlick zu rutschen. Meine Arme aber konnte ich frei bewegen und suchte einen Weidenast zu fassen, an dem ich mich vielleicht herausziehen könnte. Nach wenigen Versuchen hatte ich einen ergreifen können und dennoch begann ich zu befürchten, dass die Lage brenzliger war, als ich dachte. Denn der Ast schien nicht allzu viel auszuhalten. Bevor ich mein Glück versuchen wollte, sah ich mich noch einmal um und bemerkte, dass der Spielplatz und der Käfig mit den Fußballspielern leer waren. Von meinem eigenen Rettungsplan ließ ich augenblicklich  ab. Nicht weit vom Ort ihres Spieles entdeckte ich die Meute und verfolgte gebannt, wie sie in ihrer Schar von acht, neun Jungen, den Weg zum Bahndamm entlang hetzte.

Etwas übel wurde mir, nicht nur weil eines meiner Beine unerklärlicherweise gegen einen Sog von unten arbeiten musste, als ob ich in Treibsand gefangen sei, sondern meine eigentliche Sorge und meine Übelkeit galt und rührte von der Tatsache, dass die Jungen, die da ganz offensichtlich den beiden hinterher jagten, mir wie von Sinnen schienen.

Als der schwarze Himmel zwar bedrohlich wirkte, aber alles wie in Öl getaucht stillzustehen schien, hatten sie das Gespann eingeholt und eingekreist. Der ältere Herr schien mir vor Angst zu zittern. Doch für einen langen Moment tat sich nichts. Mein Engel immer noch ohne Sorge und rein im Herzen, löste sich plötzlich aus der Hand des Mannes, trat einen Schritt zu Marius vor und ihr Stimmchen trug über den See, dass der Onkel ihr Kaninchen zeigen wollte und einen Unterschlupf, wo es wärmer und trocken wäre. Augenblicklich zerrte der ältere Bruder grob seine Schwester an seine Seite, zischte etwas zu dem Mann und war so ernst und voller Zorn, dass seine Schwester augenblicklich zu weinen begann. Je nun, da begann es auch schon leicht zu regnen und ich durfte nun nicht mehr zögern mich zuvorderst, um mein eigenes Heil zu kümmern. Aber ich scheute doch sehr, die Bande da drüben um Hilfe anzurufen, weil ich meinte, erkannt zu haben, dass Raphael arge Mühe hatte, sich zu beherrschen. Worte und Gesten wurden gewechselt, und das Schlimmste stand zu befürchten. Aber dann löste sich die Runde auf. Die Jungs und die Kleine gingen wieder zum Spielplatz und der alte Mann zu den Ställen.

Wieder fasste ich nach einem Ast und versuchte aufs Neue mich aus meinem eigenen Schlamassel zu befreien und ich fühlte, an dem geringer werdenden Sog, dass mein Plan auch aufzugehen schien. Leider traute ich mir durch den anfänglichen Erfolg zu viel zu und wollte mich mit einem jähen Zug am Aste herausziehen. Aber es folgte ein Fiasko. Der Ast glitt wie nichts durch meine Hände, schürfte sie unnötigerweise auf und ich rutschte noch mehr hinein, ja, war sogar für einen kurzen Moment mit meinem Kopf unter Wasser und verlor die Orientierung.
Wenn mich jemand gesehen hätte, als ich kopfschüttelnd und prustend wieder auftauchte, er hätte mich wohl für den leibhaftigen Wassernöck gehalten. Aber kaum, dass ich selbst mir klar geworden war, wie und warum ich den Halt verloren hatte, geschah es, dass ich am anderen Ufer sah, wie Raphael von einem älteren Jungen einen metallischen Gegenstand zugesteckt bekam.  Raphael wendete augenblicklich und ging dem Mann hinterher. Er schlich sich wie eine Katze heran. Dann traf es mich wie ein Blitz und ich wollte meinen Augen nicht trauen. Der junge Kerl kam unbemerkt in den Rücken des Mannes und – ohne zu zögern, ohne jedwede Form von Moral oder Scham – stieß er das Ding, das Messer, das er bekommen hatte, dem Mann hinten durch den Schritt. Als ob es mich selbst getroffen hätte, ging ich wieder unter vor Schreck. Den Schrei des alten Mannes hörte ich sogar noch unter Wasser.

Wild paddelnd schaffte ich es, meinen Kopf wieder über die Wasserlinie zu bringen und sah eine Traube Jungs, die sich um den Körper gestellt hatten und abwechselnd in ihn rein stießen oder mit Tritten misshandelten. Nur einer von ihnen führte die Kleine vehement wieder zurück zum Spielplatz. Hin und wieder blickte sich mein Engel um und dicke Tränen rannen
seine rosigen Wangen herunter. Ach, mein Engel, warum nur? Warum?

Als ich instinktiv Seewasser ausspie, begriff ich und ich hoffte nun endgültig begriffen zu haben, wie ernst meine Lage war. Aber da ich mittlerweile sehr tief gesunken war, fassten meine Hände immer nur ins Leere und verfehlten stets einen rettenden Zweig. Obendrein musste ich noch mit ansehen, wie, angeführt von den Brüdern, die Jungenschar den Körper des Mannes die Böschung hinunterschleiften und mir genau gegenüber in den See stießen. Das Blut, das überall an ihm klebte, bildete einen unwirklichen Kontrast zu dem Gewitterhimmel. Es war so seltsam, dass ich an meinem entfernten Ort den Eindruck hatte, das Wasser um mich herum, würde sich rot verfärben. Natürlich wusste ich, dass sich das Licht im Wasser wie im Prisma brach und nur so die rote Färbung zu erklären war.

Immer noch hatte ich keinen Ast erreicht, und nachdem was ich beobachten musste, wagte ich nicht mehr, diese Mörder um Hilfe anzurufen. Der andere Mann war in die Tiefen des Sees gesunken und die Jungs waren abgezogen. Ich kämpfte noch verzweifelt, um einen Ast zu erwischen, kämpfte verzweifelt, meinen Kopf über Wasser zu halten und in dem nun starken Regen, gemischt mit Blitz und Donner, nicht vollends unterzugehen.

Wie weiß ich nicht mehr. Aber es war plötzlich alles ganz leicht und ich lag erschöpft aber glücklich, dem Tode entronnen zu sein, am Ufer, wo die Weiden stehen.

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Kommentare zu diesem Text

KeinB (29)
(18.07.10)
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 Lala meinte dazu am 19.07.10:
Hallo KeinB,

erstmal Danke! Danke. Danke. Dann frage ich mich, weil die Diskussion hier kürzlich wieder einmal geführt worden ist, wer etwas dagegen haben kann, dass ihm sein Textchen für lau Korrektur gelesen wird? Und selbst dann, wenn "nur" Rechtschreib- oder Grammatikfehler aufgelistet werden? Dieses nur ist Arbeit. Das ist in meinen Augen ein Liebesdienst am Text und da verstehe ich keinen, der rumheult, dass solches besser doch per PM passieren solle. Quark. Die Antwort an den Kritiker und "Korrektor" heißt in jedem Fall: Danke und nochmal Danke und ich schau mal ob ich was verbessern kann. So, das musste ich loswerden.

Ich habe Deine Anmerkungen und Vorschläge mit großem Interesse gelesen und musste leider zweimal, wegen eines abgestürzten Words den Text bearbeiten. Vieles - ich hoffe formal alles - habe ich übernommen oder nochmal - im jeweiligen Absatz - komplett umgestellt.

Inhaltlich ist die Frage, ob das Verhältnis der Brüder zueinander und deren Namen von Belang sind, berechtigt. Mit dem Namen Marius bin ich auch nicht mehr so glücklich. Einiges was die Brüder betrifft, habe ich jetzt gestrichen, um nicht zu verwirren und hoffe, dass die Nennung, dass es Geschwister seien, ausreicht, um die Geschenisse am anderen Ufer, glaubhafter erscheinen zu lassen.

Ja, wie groß ist der See und was ist das für ein See? Da bleiben Fragen und wahrscheinlich Unverständlichkeiten offen. Ich wüsste nicht wie ich das anders beschreiben sollt? Wobei mir nicht entagangen ist, dass die Geschichte mit dem Kaninchenonkel und den Jungen spannender ist, als das mögliche Ertrinken auf der anderen Seite. Da spielt aber jetzt auch die Frage mit hinein, wieviel muss ich offenbaren und wieviel muss ich verschweige? Bei Dir hätte es wohl weniger sein können, wenn nicht müssen. Aber ich bin im Zweifel ob es nicht noch mehr Hinweise bedarf?

Ach ja, der Text ist am Stück entstanden, dass er sprachliche Brüche hat, ist nicht beabsichtigt. D.h. ich habe es nicht besser gekonnt. Aber trotzdem schön zu lesen, dass Dir aufgefallen ist, dass ich versucht habe die Geschichte in einem bestimmten Tonfall zu erzählen.

Vielen Dank für Deinen ausführlichen und klugen Kommentar.

Gruß

Lala
argot (30) antwortete darauf am 19.07.10:
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argot (30) schrieb daraufhin am 19.07.10:
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 Lala äußerte darauf am 19.07.10:
Hallo argot,

schön zu hören, dass Dir der Text gut gefallen hat und danke an KB, dass sie Dir Deine Fragen schon beantwortet hat. Damit:

Der kontrollierte Teil betrachtet alles aus der Ferne und erlebt seinen Kontrollverlust als Einsinken im eigenen Triebsumpf.

hast Du es auf den Punkt gebracht.Mit dieser Distanz wollte ich auch mir selbst Abstand zum Geschehen schaffen.
Zu dem Einfall tiefenpsychologische Symbole auftauchen zu lassen, muss ich gestehen, dass ich den zwar spannend finde, mir aber dazu jegliches Fachwissen fehlt, um das souverän bringen zu können. Nicht zuletzt deswegen habe ich beim Schreiben gedacht, dass mir auch der Text absaufen wird.

Auch von mir besten Dank und schöne Grüße von

Lala

 mondenkind ergänzte dazu am 21.07.10:
ja. ein faszinierender text mit vieldeutigen bildern. ich habe eine vage ahnung, wie die parallelen zueinander stehen. würde mir trotzdem auch jemand das kaninchengeheimnis verraten? :) *liebplinzel*

 Lala meinte dazu am 23.07.10:
Hallo mondenkind,

was ist denn noch unklar? Ich dächte es sei durch den letzten Komm von argot deutlich geworden? Aber ich "deute" gerne nochmal, sofern gewünscht.

Gruß
Lala

 mondenkind meinte dazu am 29.07.10:
danke lala. ich bin im bilde. es bleibt eine beeindruckende vielschichtigkeit und fabelgleiche deutungsmöglichkeit. klasse.

 Isaban (25.07.10)
Ein bisschen "Der Wind in den Weiden". Ein bisschen "Watership down."

Davon abgesehen, dass der Spannungsbogen gut aufgebaut ist, es sehr gelungen, wie hier mit den verschiedenen Ebenen gespielt wird, während der ERzähler immer im Kinderromanjargon verbleibt.
Bedrückend, diese Anziehungskraft der Unschuld, subtil (und somit um so gelungener) aufgebaut, die nebenher bemerkte Verführung durch den rutschenden Rock und die Rundlichkeit, die der Ich-Erzähler so schätzt, der am Uferauf sein Kröten-Ego trifft/tritt - und wirklich beängstigend, die "harmlose" Guter-Onkel-Sicht auf den Täter.


Ein in jeder Hinsicht spannender Text.


Liebe Grüße,

Sabine

 Lala meinte dazu am 26.07.10:
Hallo isaban,

und wirklich beängstigend, die "harmlose" Guter-Onkel-Sicht auf den Täter.

Da wollte ich hin. Wobei der Täter am Ende auch ein Kaninchen ist. Danke Dir für Deinen Kommentar.

Gruß

Lala
holzköpfchen. (30)
(19.01.12)
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 Lala meinte dazu am 21.01.12:
Hallo holzköpfchen,

erst der Autorenkommentar und jetzt dieser Kommentar. Das sind große Komplimente von Dir und ich bin jetzt high. Du machst mich sprachlos - aber das wäre nicht gut bzw. nicht im Sinne dessen warum wir schreiben, schreiben, singen, reimen uns ausdrücken müssen.

Zum Text: Das "Kaninchen" halte ich auch für einen funktionierenden Text. Sicherlich im Ausdruck nicht immer perfekt oder gekonnt, aber im Großen und Ganzen stimmig. Die Idee war spontan geboren und das typische Monster mochte ich nicht. Der Wasernöck, ich glaube den kenne ich aus irgendeinem W.Busch Gedicht/Stück/Zeichnung, war das Maximale was ich als Monstrosität einbauen wollte. Der Ursprung dieses Textes liegt aber in den Minen meiner eigenen Geschichte. Zwar hatte ich keine Löckchen, noch war ich ein Mädchen, aber vom Spielplatz wurde ich tatsächlich mal ganz harmlos entführt, als zwei meiner zahlreichen Brüder im Käfig bolzten. Glücklicherweise haben die das mitbekommen und und mich und den netten, alten Herren wieder eingeholt und mich nach Hause gebracht - ohne Messerstecherei. Damals war ich verschreckter ob der Aufregung aber ahnte, dass etwas Schlimmes mit mir hätte passieren können. Ahnte, aber wusste nichts. Alles fremd. Ich war sozusagen, obwohl unmittelbar betroffen, in einer Beobachterrolle.

Je weiter sich diese Begebenheit sich von mir wie das sich unaufhörlich ausdehnende Unviversum entfernt, um so beängstigender wirkt es auf mich. Jetzt kennst Du das biographische Erlebnis, welches hinter dieser Geschichte steckt.

Libe Grüße und ein schönes Wochende, wünscht Dir

Lala
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