Wer verläßt wen bei Goethe
Interpretation zum Thema Abschied
von Holzpferd
Das Holzpferd im Januar 2011
Interpretation des Gedichtes „Willkommen und Abschied“, Ausschnitt aus einem Essay über Abschied
Wer verabschiedet wen bei Goethe
Kein Schuldurchlauf in Deutschland ohne Goethes Rührstück „Willkommen und Abschied“, mit dem er seinem tête-à-tête bei Friederike Brion ein unverwüstliches Denkmal setzte. Niemand kann umhin. Was gibt der Text denn heute noch her? Warum gehört das Gedicht nicht nur in Deutsch, warum ist es deutsch. Deutsch wie wir selbst? Ist das Gedicht Sinnbild von Abschied auf Deutsch? Und wenn ja, was tut sich zum Abschied bei Fassung eins und Fassung zwei des Gedichtes, zwischen denen vierzehn Jahre lagen? Freilich will und kann ich dem Gedicht mit seinen beiden Fassungen hier nicht gerecht werden. Ich will ihn nur eben kurz erobern, wie ein skrupelloser Jüngling eine schöne Jungfer vom Lande zu erobern versucht. Will mich in der Abschiedsvorstellung des berühmten Textes suhlen.
Im Anfang rührt der Text ans Herz. Gibt den Rhythmus vor, den Takt, das Tempo. Im Vergleich des Tempos unterscheiden sich die Fassungen in den je zweiten Zeilen:
„Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.“ bzw.
„Es war getan fast eh gedacht.“
Erstere kommt heldisch daher wie `Heute noch auf hohen Rossen, morgen durch die Brust geschossen`. Hiphip. Version eins kann man sich denken: Rauf auf die Frau! So geht’s. Version zwei kennt man irgendwie auch. Es war getan fast eh gedacht, ist wie ein etwas vorzeitiger Abgang, Erguss praecox. Im jugendlichen Sturm und Drange, in die Hose gegangen. Kommt, lasst uns durch den Text stürmen, hin zum Anschied eilen, denn hier soll es um den Abschied gehen.
Die ersten beiden Strophen, die Hälfte des Textes, scheinen unthematisch. Ein ganz mutiger Held des Geschehens schindet das Pferd nach Herzenslust und riskiert Kopf und Kragen durch die verpeilte Tageszeit, wenn Nacht am Berg hängt. Zappenduster, wäre nicht der schläfrig -> klägliche Mond. Goethe beschwört alle möglichen bösen Geister herauf, um das Tun jenes Jünglings hell erstrahlen zu lassen. Es geht mit den Modalitäten voll zur Sache, alles wird angesprochen: Innen- und Außen-Kinästhetik, Optik, Paranoia, Geruchssinn, Gehör. Von Herz zu Herz geht es in den ersten beiden Strophen, dem halben Text zu. Das lyrische Ich ist bei sich und er ist außer sich.
Die dritte Strophe: Das Herz des Stürmenden glühte, wie gesagt, im Finsteren und schon ist das Weibsbild zu sehen. Die Annäherung geschieht mit Herz und Atem. Sie hinterlässt ein rosenfarbnes Frühlingswetter. Zuerst auf ihrem Gesicht, 14 Jahre später nachgefasst als umgebende Aura erinnert. Hintergrundstrahlung. Zärtlichkeit kommt von ihr zu ihm herüber. Mein Gott . „Mein Gott“, sagt er nicht, sondern verlässt mit „ihr Götter!“ ketzerisch den Tugendpfad des Monotheismus. Das ist Klassik!! „Ich hofft es, ich verdient es nicht!“ Hier haben wir den ganzen Helden. Abgenabelt von heimischer Religion ist er doch mit Ethik, mit Gewissensbissen, bepackt. Man kann den kommenden Faust (und das Gretchen) ahnen. Wir entdecken den literarischen Wiederholungstäter. Wir ahnen, dass Goethe es nötig haben wird, noch den „Prometheus“ nachzureichen, um den Göttern dann die Absage zu erteilen: Ich kann ohne Euch.
Gehofft hatte es der Schlingel schon, aber VERDIENT hatte er´s im Angesicht der Götter nicht. Und in ihrem Angesicht, im Angesicht der jungen Frau?? Hatte er es sich ihr gegenüber redlich verdient, dass sie ihm mit milder Freude, gar mit Zärtlichkeit kam?? Das bleibt offen.
Lasst uns lesen:
J.W.v. Goethe: Willkommen und Abschied
Frühe Fassung (1771)
Es schlug mein Herz, Geschwind, zu Pferde!
Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Wie ein getürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah schläfrig aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch tausendfacher war mein Mut:
Mein Geist war ein verzehrend Feuer,
Mein ganzes Herz zerfloss in Glut.
Ich sah dich, und die milde Freude
Floß aus dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Lag auf dem lieblichen Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!
Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz.
In deinen Küssen welche Liebe,
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund und sah zur Erden,
Und sah dir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
J.W.v. Goethe: Willkommen und Abschied
Späte Fassung (1785)
Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!
Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Weiter im Text!
Vierte Strophe. Nun aber Abschied. Wie geht der Abschied zwischen beiden vor? Was ist es, was uns der deutsche Sturm und Drang über Abschied ins kulturelle Erbe eingetragen hat? Oh Schreck. Gerade beim Abschied in der vierten Strophe scheiden sich die Geister zwischen zwischen den Fassungen! Beim Abschied geht die Logik in den Erzählsträngen von Fassung eins und zwei gründlich auseinander.
Gefühlslagen. Wieder bekommen wir es mit dem Herzen zu tun. Fassung eins, sind wir bei ihrem Herzen angelangt, das lyrische Ich war ihr zu Herzen gegangen. Fassung zwei wird sein Herz geschrumpft. Ihr Herz / sein Herz. Der Großmeister durfte damals noch Herz auf Schmerz reimen. Herz – Schmerz. Wichtiger, mit den ersten Zeilen erlangt Abschied Subjektstatus! In der ersten Fassung nimmt er, der Abschied, wie bedrängt, wie trübe Gestalt an, als Überschrift für die Situation. In der zweiten Fassung bedarf es lediglich der Morgensonne, damit er, der Abschied, destruktiv loslegen kann. Der Abschied ist es, der ihm das Herz verengt. Die Morgensonne schafft die Gelegenheit, damit ABSCHIED auftritt. Der Abschied verengt das Herz. Ihre Küsse, seine Wonne sind es, die beendet werden. Ihr Schmerz. Eins nicht ohne das andere zu haben in der Situation die da als Abschied wirkt. Sie will noch. Sie versucht ihn, mit dem Mund zu halten. In der ersten Version waren es bestimmt (auch) seine Wonne und sein Schmerz. In zweiter Version lesen wir Wonne (auch) bei ihm. Aber der Schmerz ist bei ihr angesiedelt, geht von ihr aus. Der emotionale Zustand ist in beiden Fassungen gesetzt und geht dem Unvermeidlichen voraus. Beim ersten Abschied wird er verlassen, beim zweiten Abschied verlässt er selbst:
Erste: „Du gingst, ich stund und sah zur Erden,
Und sah dir nach mit nassem Blick“
Zweite: „Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick“
Wem der Schmerz zugeschrieben war, der geht. In der Erstausgabe für die Damenzeitschrift „Iris“ darf sie die Aktive des Abschieds sein. Im gültigen Lebenswerk Goethes ist es das lyrische Ich, das gehen kann. Gehen können! Abschied ist, wer gehen kann. Jemand muss gehen können. Einer muss weg. Das ist Abschied. Jemand ist der Abscheidende, jemand ist der Abgeschiedene! In erstet Fassung Ich passiv in zweiter Ich aktiv. Hammer oder Amboss sein.
Wer verlassen werden wird, bekommen wir über dies an der Okolomotorik geschildert. Folge den Augenbewegungen und du weißt, was kommt. Blick erst nach unten, dann verheult. In beiden Fassungen triumphiert über Schmerz und Trauer das erlebte Glück, Liebe zu empfangen und zu geben. Beim lyrischen Ich.
Mann oder Frau. In erster Version ist sie es, die geht. Er der verlassen wird. Ja, das schmerzt. Aber wo fand die Begegnung statt, dass sie es ist, die zu gehen hat? Unter freiem Himmel? In einer Liebeslaube, alles fein hergerichtet? Sie entschwindet bei Tagesanbruch und es verengt ihm das Herz. In welcher Rolle muss sie von ihm weichen? Als Magd, als Frau eines Anderen, als sonstige Ehrenjungfer?? Die erste Fassung lässt bei der vorliegenden Geschichte zu viel Raum für Spekulation. Da macht es im Erzählstrang mit der zweiten Version mehr Sinn, dass er es ist, der sich losreißt. Er ist gekommen. Er muss gehen. Er ist der Mann, und es ist die ehrenvolle Pflicht des Mannes, die Frau zu verlassen. Es ihr abzunehmen, dass sie es wäre, aktiv zu werden und zu gehen hat. Sie soll ruhig noch liegen bleiben dürfen. Er wird doch nicht als Schnarchsack zurückbleiben wollen.
Initiative. Wie auch immer. Von höchstem Belang ist nicht so sehr, wer geht, sondern dass überhaupt jemand geht. Wenn keiner initiativ in Vorderhand geht, wird aus dem Abschied wohl nichts werden. Einer muss die Initiative zum Abschied ergreifen. Dass es beide gleichzeitig wären, wäre eine nur schwer vorstellbare Ausnahme. Eine Ausnahme zur Bestätigung der Regel. Denn es würde ein Höchstmaß an Koordinierung verlangen, dass beide gleichzeitig sich aufmachen. Eine Überanstrengung an Koordination genau in dem Moment, wo per Abschied der Zustand bisheriger interaktiver Verwobenheit aufgelöst wird. Aufgelöst werden muss. Aufgelöst werden muss, weil „höhere“ Mächte ins Spiel kommen. Höhere, noch höhere, Mächte als die Liebe. Man mag es nicht glauben, dass es diese gibt. Alles wehrt sich gegen das Schalten und Walten höherer Mächte, als es die intime Zweisamkeit sein konnte. Man weiß nicht aus noch ein. Das ist der Abschied!!
Die Endzeilen dürfen für Goethe in beiden Fassungen dann wieder übereinstimmen. Die Ablösung ist vollzogen. Das erfahrene Glück wird von Herzen mit auf den Weg genommen. Beide können sich trollen. Sie haben voneinander gelassen und können erlebtes Glück nachfühlen. Wer begegnete nicht Menschen in derlei Zustand von Nachklang. Abschied befrachtet sich nicht minder, wie der sehnsuchtsvolle Trieb, der zueinander führt. Willkommen und Abschied sind gefühlsmäßig (gleich schwer) besetzt. Actio gleich Reactio. Mit jeweiliger Stimmung unterlegt. Das erzählt der Meister. Und Goethe wäre nicht Goethe, hätte er für seinen liebestollen Helden nicht einen Fluchtpunkt, an den sich Dankbarkeit wenden kann. Dankbarkeit nach vollzogenem Abschied gegenüber wem? Gegenüber den Göttern natürlich:
„Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!“
Spannungsbogen halten und auflösen. Damit erfährt der Text schließlich noch einmal die Überhöhung. Eine Überhöhung, die ihn aus der alltäglichen Darstellung von Liebe heraushebt. Der Text transportiert etwas Unerhörtes. Aber was?? Wofür stehen die Götter, wofür halten sie her in dieser klassischen Romanze. Der Dichter hat sein Thema: Willkommen und Abschied. Das Thema wurde kunstfertig, kurzweilig und vertonbar, also merkfähig, durchgeführt. Quasi ohne jede Ausschweifung. Das Kommen des Helden wird lang und breit erzählt, um es danach eher kurz machen zu können. Oder gab es danach nicht so viel zu sagen? Das Gedicht hält (s)einen Spannungsbogen. Für uns. Auch nach hunderten Jahren wird uns der Text nicht langweilig. Wie kommt das. Was hält die Spannung aufrecht? Bleibt da im Text etwas unaufgelöst, unerfüllt, dass es bis heute prickeln kann? War da noch was? Und wenn ja, was wollte uns der Dichter damit verschweigen?? !
Ohne lange drumrum zu reden, behaupte ich einfach mal: Es fehlt in „Willkommen und Abschied“ DAS INTIME DETAIL. Wir erfahren nicht, ob sie es getan haben. Das sprichwörtlich gewordene „Es war getan fast eh gedacht“, will mir nicht reichen. Die Zeile und der ganze Text ist mir eher ein Hinweis auf das tunlichst Ausgesparte. Haben sie oder haben sie nicht. Auch wenn es offen bleiben mag, ist es jedem nach seiner Fasson zur Ausdeutung überlassen. Mir jedenfalls ist aus dem Grunde meines Themas nicht gleichgültig, ob sie oder doch nicht. Denn Abschied zu nehmen und es getan zu haben oder zu scheiden und es nicht getan zu haben, macht für mich den Unterschied, der einer ist. Denn im Tun hätte sich genau jene Anspannung erschöpft, die das Treiben bestimmt. Und im Nichttun eben nicht. Dann schleppt sie sich (unerfüllt) fort. Es geht hier schlichtweg um das beiderseitige miteinander Tun. Es dreht sich nicht um einen Vollzug, den einer für sich verbucht. Willkommen und Abschied lebt vom Geben und Nehmen. Willkommen miteinander und den Abschied voneinander. Die überdauernde Spannung des Textes kommt von einer Widersprüchlichkeit, es getan zu haben oder doch nicht. Sage ich. Goethe hat es vollbracht, es zu sagen und es nicht zu sagen. In der behutsamen Anspielung und in der gewissen Aussparung des intimen Details hat Goethe seinen Text unverwüstlich mit einer Andeutung versehen, die ich DIALEKTISCH nennen möchte. Sein Text Willkommen und Abschied wird damit einer Phänomenologie des Geistes und der deutschen Dialektik vom Schlage eines Hegel oder Clausewitz ebenbürtig. So, wie die zweimalige göttliche Überhöhung apropos „GötterN“ dem Text zu spirituellem Höhenflug verhilft, so gibt die im Intimen angesiedelte Undeutlichkeit des Textes moralische Tiefe. Und das gehört in den Deutschunterricht. Da haben wir sowas gern.
„Goethe war gut!
Mann, der konnte reimen!
Wenn ich es versuch,
schwitz ich Wasser und Blut,
und ich merk jedesmal:
Goethe war gut!“
Interpretation des Gedichtes „Willkommen und Abschied“, Ausschnitt aus einem Essay über Abschied
Wer verabschiedet wen bei Goethe
Kein Schuldurchlauf in Deutschland ohne Goethes Rührstück „Willkommen und Abschied“, mit dem er seinem tête-à-tête bei Friederike Brion ein unverwüstliches Denkmal setzte. Niemand kann umhin. Was gibt der Text denn heute noch her? Warum gehört das Gedicht nicht nur in Deutsch, warum ist es deutsch. Deutsch wie wir selbst? Ist das Gedicht Sinnbild von Abschied auf Deutsch? Und wenn ja, was tut sich zum Abschied bei Fassung eins und Fassung zwei des Gedichtes, zwischen denen vierzehn Jahre lagen? Freilich will und kann ich dem Gedicht mit seinen beiden Fassungen hier nicht gerecht werden. Ich will ihn nur eben kurz erobern, wie ein skrupelloser Jüngling eine schöne Jungfer vom Lande zu erobern versucht. Will mich in der Abschiedsvorstellung des berühmten Textes suhlen.
Im Anfang rührt der Text ans Herz. Gibt den Rhythmus vor, den Takt, das Tempo. Im Vergleich des Tempos unterscheiden sich die Fassungen in den je zweiten Zeilen:
„Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.“ bzw.
„Es war getan fast eh gedacht.“
Erstere kommt heldisch daher wie `Heute noch auf hohen Rossen, morgen durch die Brust geschossen`. Hiphip. Version eins kann man sich denken: Rauf auf die Frau! So geht’s. Version zwei kennt man irgendwie auch. Es war getan fast eh gedacht, ist wie ein etwas vorzeitiger Abgang, Erguss praecox. Im jugendlichen Sturm und Drange, in die Hose gegangen. Kommt, lasst uns durch den Text stürmen, hin zum Anschied eilen, denn hier soll es um den Abschied gehen.
Die ersten beiden Strophen, die Hälfte des Textes, scheinen unthematisch. Ein ganz mutiger Held des Geschehens schindet das Pferd nach Herzenslust und riskiert Kopf und Kragen durch die verpeilte Tageszeit, wenn Nacht am Berg hängt. Zappenduster, wäre nicht der schläfrig -> klägliche Mond. Goethe beschwört alle möglichen bösen Geister herauf, um das Tun jenes Jünglings hell erstrahlen zu lassen. Es geht mit den Modalitäten voll zur Sache, alles wird angesprochen: Innen- und Außen-Kinästhetik, Optik, Paranoia, Geruchssinn, Gehör. Von Herz zu Herz geht es in den ersten beiden Strophen, dem halben Text zu. Das lyrische Ich ist bei sich und er ist außer sich.
Die dritte Strophe: Das Herz des Stürmenden glühte, wie gesagt, im Finsteren und schon ist das Weibsbild zu sehen. Die Annäherung geschieht mit Herz und Atem. Sie hinterlässt ein rosenfarbnes Frühlingswetter. Zuerst auf ihrem Gesicht, 14 Jahre später nachgefasst als umgebende Aura erinnert. Hintergrundstrahlung. Zärtlichkeit kommt von ihr zu ihm herüber. Mein Gott . „Mein Gott“, sagt er nicht, sondern verlässt mit „ihr Götter!“ ketzerisch den Tugendpfad des Monotheismus. Das ist Klassik!! „Ich hofft es, ich verdient es nicht!“ Hier haben wir den ganzen Helden. Abgenabelt von heimischer Religion ist er doch mit Ethik, mit Gewissensbissen, bepackt. Man kann den kommenden Faust (und das Gretchen) ahnen. Wir entdecken den literarischen Wiederholungstäter. Wir ahnen, dass Goethe es nötig haben wird, noch den „Prometheus“ nachzureichen, um den Göttern dann die Absage zu erteilen: Ich kann ohne Euch.
Gehofft hatte es der Schlingel schon, aber VERDIENT hatte er´s im Angesicht der Götter nicht. Und in ihrem Angesicht, im Angesicht der jungen Frau?? Hatte er es sich ihr gegenüber redlich verdient, dass sie ihm mit milder Freude, gar mit Zärtlichkeit kam?? Das bleibt offen.
Lasst uns lesen:
J.W.v. Goethe: Willkommen und Abschied
Frühe Fassung (1771)
Es schlug mein Herz, Geschwind, zu Pferde!
Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Wie ein getürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah schläfrig aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch tausendfacher war mein Mut:
Mein Geist war ein verzehrend Feuer,
Mein ganzes Herz zerfloss in Glut.
Ich sah dich, und die milde Freude
Floß aus dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Lag auf dem lieblichen Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!
Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz.
In deinen Küssen welche Liebe,
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund und sah zur Erden,
Und sah dir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
J.W.v. Goethe: Willkommen und Abschied
Späte Fassung (1785)
Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.
Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!
Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!
Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Weiter im Text!
Vierte Strophe. Nun aber Abschied. Wie geht der Abschied zwischen beiden vor? Was ist es, was uns der deutsche Sturm und Drang über Abschied ins kulturelle Erbe eingetragen hat? Oh Schreck. Gerade beim Abschied in der vierten Strophe scheiden sich die Geister zwischen zwischen den Fassungen! Beim Abschied geht die Logik in den Erzählsträngen von Fassung eins und zwei gründlich auseinander.
Gefühlslagen. Wieder bekommen wir es mit dem Herzen zu tun. Fassung eins, sind wir bei ihrem Herzen angelangt, das lyrische Ich war ihr zu Herzen gegangen. Fassung zwei wird sein Herz geschrumpft. Ihr Herz / sein Herz. Der Großmeister durfte damals noch Herz auf Schmerz reimen. Herz – Schmerz. Wichtiger, mit den ersten Zeilen erlangt Abschied Subjektstatus! In der ersten Fassung nimmt er, der Abschied, wie bedrängt, wie trübe Gestalt an, als Überschrift für die Situation. In der zweiten Fassung bedarf es lediglich der Morgensonne, damit er, der Abschied, destruktiv loslegen kann. Der Abschied ist es, der ihm das Herz verengt. Die Morgensonne schafft die Gelegenheit, damit ABSCHIED auftritt. Der Abschied verengt das Herz. Ihre Küsse, seine Wonne sind es, die beendet werden. Ihr Schmerz. Eins nicht ohne das andere zu haben in der Situation die da als Abschied wirkt. Sie will noch. Sie versucht ihn, mit dem Mund zu halten. In der ersten Version waren es bestimmt (auch) seine Wonne und sein Schmerz. In zweiter Version lesen wir Wonne (auch) bei ihm. Aber der Schmerz ist bei ihr angesiedelt, geht von ihr aus. Der emotionale Zustand ist in beiden Fassungen gesetzt und geht dem Unvermeidlichen voraus. Beim ersten Abschied wird er verlassen, beim zweiten Abschied verlässt er selbst:
Erste: „Du gingst, ich stund und sah zur Erden,
Und sah dir nach mit nassem Blick“
Zweite: „Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick“
Wem der Schmerz zugeschrieben war, der geht. In der Erstausgabe für die Damenzeitschrift „Iris“ darf sie die Aktive des Abschieds sein. Im gültigen Lebenswerk Goethes ist es das lyrische Ich, das gehen kann. Gehen können! Abschied ist, wer gehen kann. Jemand muss gehen können. Einer muss weg. Das ist Abschied. Jemand ist der Abscheidende, jemand ist der Abgeschiedene! In erstet Fassung Ich passiv in zweiter Ich aktiv. Hammer oder Amboss sein.
Wer verlassen werden wird, bekommen wir über dies an der Okolomotorik geschildert. Folge den Augenbewegungen und du weißt, was kommt. Blick erst nach unten, dann verheult. In beiden Fassungen triumphiert über Schmerz und Trauer das erlebte Glück, Liebe zu empfangen und zu geben. Beim lyrischen Ich.
Mann oder Frau. In erster Version ist sie es, die geht. Er der verlassen wird. Ja, das schmerzt. Aber wo fand die Begegnung statt, dass sie es ist, die zu gehen hat? Unter freiem Himmel? In einer Liebeslaube, alles fein hergerichtet? Sie entschwindet bei Tagesanbruch und es verengt ihm das Herz. In welcher Rolle muss sie von ihm weichen? Als Magd, als Frau eines Anderen, als sonstige Ehrenjungfer?? Die erste Fassung lässt bei der vorliegenden Geschichte zu viel Raum für Spekulation. Da macht es im Erzählstrang mit der zweiten Version mehr Sinn, dass er es ist, der sich losreißt. Er ist gekommen. Er muss gehen. Er ist der Mann, und es ist die ehrenvolle Pflicht des Mannes, die Frau zu verlassen. Es ihr abzunehmen, dass sie es wäre, aktiv zu werden und zu gehen hat. Sie soll ruhig noch liegen bleiben dürfen. Er wird doch nicht als Schnarchsack zurückbleiben wollen.
Initiative. Wie auch immer. Von höchstem Belang ist nicht so sehr, wer geht, sondern dass überhaupt jemand geht. Wenn keiner initiativ in Vorderhand geht, wird aus dem Abschied wohl nichts werden. Einer muss die Initiative zum Abschied ergreifen. Dass es beide gleichzeitig wären, wäre eine nur schwer vorstellbare Ausnahme. Eine Ausnahme zur Bestätigung der Regel. Denn es würde ein Höchstmaß an Koordinierung verlangen, dass beide gleichzeitig sich aufmachen. Eine Überanstrengung an Koordination genau in dem Moment, wo per Abschied der Zustand bisheriger interaktiver Verwobenheit aufgelöst wird. Aufgelöst werden muss. Aufgelöst werden muss, weil „höhere“ Mächte ins Spiel kommen. Höhere, noch höhere, Mächte als die Liebe. Man mag es nicht glauben, dass es diese gibt. Alles wehrt sich gegen das Schalten und Walten höherer Mächte, als es die intime Zweisamkeit sein konnte. Man weiß nicht aus noch ein. Das ist der Abschied!!
Die Endzeilen dürfen für Goethe in beiden Fassungen dann wieder übereinstimmen. Die Ablösung ist vollzogen. Das erfahrene Glück wird von Herzen mit auf den Weg genommen. Beide können sich trollen. Sie haben voneinander gelassen und können erlebtes Glück nachfühlen. Wer begegnete nicht Menschen in derlei Zustand von Nachklang. Abschied befrachtet sich nicht minder, wie der sehnsuchtsvolle Trieb, der zueinander führt. Willkommen und Abschied sind gefühlsmäßig (gleich schwer) besetzt. Actio gleich Reactio. Mit jeweiliger Stimmung unterlegt. Das erzählt der Meister. Und Goethe wäre nicht Goethe, hätte er für seinen liebestollen Helden nicht einen Fluchtpunkt, an den sich Dankbarkeit wenden kann. Dankbarkeit nach vollzogenem Abschied gegenüber wem? Gegenüber den Göttern natürlich:
„Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!“
Spannungsbogen halten und auflösen. Damit erfährt der Text schließlich noch einmal die Überhöhung. Eine Überhöhung, die ihn aus der alltäglichen Darstellung von Liebe heraushebt. Der Text transportiert etwas Unerhörtes. Aber was?? Wofür stehen die Götter, wofür halten sie her in dieser klassischen Romanze. Der Dichter hat sein Thema: Willkommen und Abschied. Das Thema wurde kunstfertig, kurzweilig und vertonbar, also merkfähig, durchgeführt. Quasi ohne jede Ausschweifung. Das Kommen des Helden wird lang und breit erzählt, um es danach eher kurz machen zu können. Oder gab es danach nicht so viel zu sagen? Das Gedicht hält (s)einen Spannungsbogen. Für uns. Auch nach hunderten Jahren wird uns der Text nicht langweilig. Wie kommt das. Was hält die Spannung aufrecht? Bleibt da im Text etwas unaufgelöst, unerfüllt, dass es bis heute prickeln kann? War da noch was? Und wenn ja, was wollte uns der Dichter damit verschweigen?? !
Ohne lange drumrum zu reden, behaupte ich einfach mal: Es fehlt in „Willkommen und Abschied“ DAS INTIME DETAIL. Wir erfahren nicht, ob sie es getan haben. Das sprichwörtlich gewordene „Es war getan fast eh gedacht“, will mir nicht reichen. Die Zeile und der ganze Text ist mir eher ein Hinweis auf das tunlichst Ausgesparte. Haben sie oder haben sie nicht. Auch wenn es offen bleiben mag, ist es jedem nach seiner Fasson zur Ausdeutung überlassen. Mir jedenfalls ist aus dem Grunde meines Themas nicht gleichgültig, ob sie oder doch nicht. Denn Abschied zu nehmen und es getan zu haben oder zu scheiden und es nicht getan zu haben, macht für mich den Unterschied, der einer ist. Denn im Tun hätte sich genau jene Anspannung erschöpft, die das Treiben bestimmt. Und im Nichttun eben nicht. Dann schleppt sie sich (unerfüllt) fort. Es geht hier schlichtweg um das beiderseitige miteinander Tun. Es dreht sich nicht um einen Vollzug, den einer für sich verbucht. Willkommen und Abschied lebt vom Geben und Nehmen. Willkommen miteinander und den Abschied voneinander. Die überdauernde Spannung des Textes kommt von einer Widersprüchlichkeit, es getan zu haben oder doch nicht. Sage ich. Goethe hat es vollbracht, es zu sagen und es nicht zu sagen. In der behutsamen Anspielung und in der gewissen Aussparung des intimen Details hat Goethe seinen Text unverwüstlich mit einer Andeutung versehen, die ich DIALEKTISCH nennen möchte. Sein Text Willkommen und Abschied wird damit einer Phänomenologie des Geistes und der deutschen Dialektik vom Schlage eines Hegel oder Clausewitz ebenbürtig. So, wie die zweimalige göttliche Überhöhung apropos „GötterN“ dem Text zu spirituellem Höhenflug verhilft, so gibt die im Intimen angesiedelte Undeutlichkeit des Textes moralische Tiefe. Und das gehört in den Deutschunterricht. Da haben wir sowas gern.
„Goethe war gut!
Mann, der konnte reimen!
Wenn ich es versuch,
schwitz ich Wasser und Blut,
und ich merk jedesmal:
Goethe war gut!“
Anmerkung von Holzpferd:
Diese Interpretation von Goethes "Willkommen und Abschied" ist ein Ausschnitt aus einem Essay über Abschied.
Kommentare zu diesem Text
Eure Heiligkeit Elias,
diesmal freut mich Dein Zuspruch besonders. Denn:
Zunächst sind ja meine Formatierungen und Quellenhinwese beim Einpflegen der Interpretation in den KV verloren gegangen. So kann ich echt nicht sagen, ob der Text noch geht.
Und dann hatte ich ja wirklich danach gestrebt, in den Fassungen vom berühmten Gedicht des Herrn Geheimrat etwas Gültiges über "Abschied" zu entnehmen. Auch dabei bin ich ahnungslos, ob das gelang.
Danke, mein Lieber.
Schönen Abend sagt, und
dass Du Dich wieder mal vom Hafer stechen lassen sollst,
das Holzpferd
diesmal freut mich Dein Zuspruch besonders. Denn:
Zunächst sind ja meine Formatierungen und Quellenhinwese beim Einpflegen der Interpretation in den KV verloren gegangen. So kann ich echt nicht sagen, ob der Text noch geht.
Und dann hatte ich ja wirklich danach gestrebt, in den Fassungen vom berühmten Gedicht des Herrn Geheimrat etwas Gültiges über "Abschied" zu entnehmen. Auch dabei bin ich ahnungslos, ob das gelang.
Danke, mein Lieber.
Schönen Abend sagt, und
dass Du Dich wieder mal vom Hafer stechen lassen sollst,
das Holzpferd