NUR NICHT WILD WERDEN

Interpretation zum Thema Natur

von  Holzpferd

April 2010
NUR NICHT WILD WERDEN
Versuch einer Gedichtinterpretation zu einem Text von R.M. Rilke

Es ist ja nicht so, dass der hochstehende Mensch das wilde Tier in sich gezähmt hätte. Er hat es wohl nicht gezähmt. Wie ist er denn mit den wilden Tieren ansonsten umgegangen?? Er hat sie bejagt. Er hat ihnen bis in den letzten Winkel des Urwaldes nachgestellt. Er hat sie gefangen genommen und in seine Arenen gekarrt, um sie schaulustig totzuschlagen. Totzuschlagen, sich selbst zur Ehre, totzuschlagen, anderen Aufrechtgängern zur Mahnung. Das wilde Tier, soweit es überlebte, ist auf der Hut. Es ist nicht wild, sondern tot, allenfalls unnatürlich scheu. Es ist in uns überlebende Aufrechtgänger übergegangen. Aus dem Wald geholt und totgeschlagen stellt sich der Mensch das Wildtier im Prinzip bewegungslos vor, ausgestopft, digitalisiert oder im All bei den Fixsternen als Sternbild vergöttert. 
Das wilde Tier ist weiblich oder männlich und der Totschlag geht gezielt in die eine oder andere Richtung. Dem wilden Tier wird es schwer, sich fortzupflanzen. Es kann wild nicht weiterleben. Nun gut. Im hochstehenden Menschen, dem mit dem aufrechten Gang, haben wir ein tausendfach totgeschlagenes, domestiziertes, ich meine, gepferchtes, unnatürlich furchtgelehriges Un-Tier zu gewärtigen.

Die Episode, die das bisher Gesagte belegen soll, ist jeder und jedem bekannt. Denn jede und jeder Nichtwilde ist schon vor der Schulzeit in den Zoo geschleppt worden. Oft wird man dabei fotografiert, wenn man sich ansehen muss, wie das als Wild bezeichnete eingesperrt gehört. Rainer Maria Rilke hat in drei Strophen mit ABAB abgehandelt, wie es einem gehen kann. Spätherbst 1902 dürfte er in Paris im Jardin des Plantes dies geschaut haben - den eingesperrt tigernden Panther. Das Im-Kreis-Drehen der Wildkatze ist so geläufig, dass es uns der Inbegriff von wildem Leben zu sein scheint: Herumtigern. Und, dem nicht zu nahe kommen! Das haben wir so verinnerlicht, dass mit dem Bild des angeödet den Käfig abschreitenden Raubtiers eigentlich nichts läuft, nichts zu machen ist. Keine Kunst. Bloß Viecherei. Noch keine Kunst. Den Kunstgriff setzt Rilke an, indem er dem Käfig das Leben einhaucht, das dem Tier genommen ist. Der Käfig macht, was es zu sehen gibt.

Der Text hebt im Augenblick der ersten Strophe zutiefst subjektiv an. Der Blick des (weg-)gesperrten Tieres ist ein unwirklicher Blick. Die Welt kann nicht hinein, sie ist gar nicht mehr zugelassen. Weltblick durch Gitterstäbe verstellt. Die zweite Strophe kommt ohne das Außen aus. Rilke wendet sich der Bewegung und dem Körper des Tiers zu. Nicht ruckartig, aber angelegt im gefangen-benommenen  Blick vom Beginn der Erzählung an. Es dreht sich nun um die den Blick tragende Bewegung des Körpers. Bei aller Aussichtslosigkeit des Tiers erlaubt Rilke in der dritten Strophe einen unerklärlichen Augenblick. Das Tier kann sich seiner selbst für einen Moment gewahr werden. Es sei, ein Bild tue sich auf, das die Kreatur zu stärken vermag und es anrührt, da wo sein Begehren haust, im Herzen.

Der Text mutet mit seinen 87 Worten von barocker Strenge an. Er weist den Strophen je 42, 42 und 41 Silben zu. Die Zeilenlänge beträgt bei A-Reimen 11 und bei B-Reimen 10 Silben. Im Metrum folgen wir im Text einem Schrittmaß, das am Zeilenanfang weich und wie mit Auftakt anhebt und bei A weich bzw. bei B hart am Zeilenende abschließt. Da haben wir so etwas wie das Schrittmaß entlang des Käfigs mit unermüdlichen Hebungen und Senkungen, wobei nur mitunter sprachlich die Tatze des Raubtiers (abweichend) sanft sich durchdrückt. So spricht der Text überwiegend den inneren und taktilen Sinn an (müd, betäubt, weich …), aus dem sich die eingeschränkt optische Modalität der Bildentstehung herleitet. Aus der motorischen Körperlichkeit ist der Möglichkeit nach akustischer Ton zugelassen (lautlos, angespannte Stille). Insgesamt bleibt aber der Bogen einer von Bewegung getragenen (Nicht-) Wahrnehmung hin zur tiefsten Innerlichkeit.   

Dieses Gedicht sollte m.E. gesucht und gewählt werden, wenn es eines Ecksteins für die heraufziehende subjektive Psychologie und Anthropologie des begonnenen XX. und des nunmehr auch noch begonnen XXI. Jahrhunderts brauchen sollte. Alles ist ins Bild gesetzt. Eine uns gegenübertretende, geradezu aktionale Wirklichkeit ist eine undurchdringliche Wirklichkeit als das Ergebnis unserer wiederholten zyklischen Bewegungen. Es kreist (im Übersteigerten dann auch „systemisch“) und wir sind, indem wir uns wie toll und losgelöst drehen. Um ein Zentrum, das wir lernen „Ich“ zu nennen, und das uns allein lässt. Rilkes Text „Der Panther“ stellt uns den heraufziehenden Relativismus der Moderne vor und macht uns gleichsam auf dessen bedrohliche Auswirkungen gefasst. Im Muster der Bewegung entsteht bei Rilke „betäubt ein großer Wille“.  Ein in gefangener Wildheit betäubter „großer Wille“ in mitten eines Tanzes von Kraft… Für mich macht Rilkes Jahrhundertgedicht damit die Bühne frei für eine Szenerie überanstrengter Willensausbrüche und reflexiver Einlassungen. Für eine Szenerie, die das moderne subjektverstärkte Wechselspiel von Demokratie mit eingesperrter Wildheit für jedermann und Diktatur hemmungsloser Massenhaftigkeit als politischen Horizont zulässt. Anhand von Rilkes Text lässt sich vielleicht auch noch so etwas wie die ökologisch gewandete Ideologe aushalten.  Eine Ideologie, die uns lediglich vorzuführen vermag, dass das wilde Tier faktisch aufgehört hat zu existieren.  In den 12 Textzeilen seines Gedichtkörpers  wird von Rilke der Totalschaden gebrochener Wildheit mit der Verwunderung des Zoobesuchers gewahrt. Eines Zoobesuchers, bei dem keine Freude aufkommt, sondern … ?? Ein Bild wird eingängig und muss womöglich im Herzen verweilen und als Narbe bleiben. Es sei denn, wir holen das Bild wilden Blicks tief von dort, wo es eingeschlossen (noch) sein kann. Im Herzen, im Körper, hinter Gittern, ohne Weltblick. 

..............

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris

Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.


Anmerkung von Holzpferd:

Ich lasse das mal so unfertig stehen. Will mir nicht die Zähne ausbeißen.

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Kommentare zu diesem Text

Elias† (63)
(04.04.10)
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LudwigJanssen (54)
(04.04.10)
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