Sie ging den weiten Weg, draußen in der kalten Nacht viele Tage danach. Rauer Wind streichelte sachte die Bäume, die Äste bogen sich wie schützende Hände über ihren zitternden Körper. Mit ihren kalten schwachen Händen zog sie sich die Mütze tiefer ins Gesicht und bemühte sich nicht die Fassung zu verlieren und nicht doch noch umzudrehen. Der Weg den sie ging führte durch einen lichten Wald, nicht einmal das Licht der Straßenlaterne erreichte diesen dunklen Fleck. Der Mond schien in dieser Nacht in einem ganz besonderen Licht, erstickte die Landschaft mit seinem silbernen Nebel. Ihre Schatten legten sich auf den kalten steinigen Boden und verflüchtigten sich, als sie an dem kleinen Kirschbaum vorbeiging, den sie seit ihrer Kindheit nur als kleines Pflänzchen in Erinnerung hatte. Zu dieser Jahreszeit hatte dieser Platz nichts schönes an sich: Dürre Äste brachen im Wind und Blätter, die sich vor einiger Zeit unter den Baum niederlegten verrotteten allmählich. Unter ihnen hatte sich Ungeziefer gesammelt und Pilze befielen das Bäumchen. Sie lief an dem alten Zaun vorbei, dessen Anstrich bereits abgeblättert war. Hier und da war eine Lücke vorhanden und da hinter war ein schwarzes Tor, dessen Tür offen stand. Es war vollkommen verbogen. Vermutlich ließ es sich nicht einmal mehr schließen. Sie ging hindurch, an den Steinen vorbei die Namen trugen, hinweg über alte Blumenbeete, die völlig zertreten waren. Die Blume, die sie in der Hand trug war bereits erfroren. Mit schaudernden Händen legte sie die tote Pflanze nieder.
"Hey kleine Maus", sprach sie zu dem Stein, sehr bemüht ihre Tränen zu unterdrücken.
"Ich wollte dich besuchen kommen, schon lange Zeit zuvor, doch mir fehlte einfach die Kraft dazu. Ich hoffe du kannst mir verzeihen, dass ich in den letzten Tagen zu feige war. Ich hatte Angst. Angst du könntest böse auf mich sein. Ich habe es so sehr versucht. Es ist nicht leicht für mich. Ich fühle mich wie lebendig begraben, nehme das Leben nicht mehr war als solches. Es scheint, als hättest du mir ein Teil meiner selbst gestohlen, als dich Gott zu sich nahm. Ich hoffe dir geht es gut da wo du jetzt bist und das du oft nach an uns denkst." Ein tiefes Schluchzen erfüllte die Nacht. "Dein Vater macht es mir nicht leicht. Seit du fort bist ist er verändert. Alles ist verändert. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre mit dir gegangen- Hand in Hand. Wie glücklich wäre ich gewesen oben mit dir zu lachen. Doch es geht nicht, du kannst nicht mehr bei mir sein und ich werde dich nicht ein einziges Mal mehr in meinen Armen halten können. Doch wofür lohnt es sich dann noch aufzuwachen? Sag mir, wofür soll ich kämpfen, wenn doch mein kleines Mädchen ging?"
Mit Tränen in den Augen schrie sie in den Himmel, in der Hoffnung sie zu erreichen: "Sag mir, wofür soll ich kämpfen? Wofür? Ich kann nicht einfach gehen. Ohne deine Wärme schaffe ich es nicht!" Ihr ganzer Körper war von einem heftigen Zittern durchzogen, als der Schnee zu fallen begann. Wie ein Zeichen von ihr legten sich die Flocken auf ihre Schultern und küssten sanft ihr Gesicht. Einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, als legte jemand eine Hand auf ihre Schulter. Eine kleine gebrechliche Hand, kaum spürbar. Tränen benetzen ihr Gesicht. Innerlich war sie gebrochen, doch äußerlich versuchte sie tatsächlich zu kämpfen, sie tat es für ihr kleines Mädchen- Ihre kleine Madeleine.
Wenige Tage später stand auf dem Grabstein geschrieben:
Madeleine
2007- 2011
"Mama, ich liebe dich."
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Kommentare zu diesem Text
seelenliebe (52)
(18.02.11)
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