Auf dem Bahngleis neben toten Tauben steht eine Frau wie meine Mutter, mit hellem, festem Haar und einem Lächeln, das fast gütig scheint, wäre der Blick nicht hart und erbarmungslos in das Wesen der Wesen gerichtet. Daran schürft sich jede zarte Seele Wunden in Herz und Hirn, stößt sich an einer vagen Mauer. Sie streift mit jeder Bewegung Risse in den Himmel und hinaus quillt Rauch und Asche, aber trotzdem zieht ihr Wirbeln wie eine Sonne Menschen an. Mir ist dann kurz, als ginge ich mit ihr durch ihre Tage - Sie kann mich nicht sehen, ich bin ein Hauch hinter ihrem Ohrläppchen, der es sich leisten kann von Liebe zu sprechen. Die Worte würden sanft an ihrem Hals hinab rieseln, wie warmer Wind, vielleicht würde ihre Hand die Haut fahrig berühren und sie würde sich an etwas erinnern, das schön war.
Wie meine Mutter wachte, auch wenn sie schlief. Wie sie beinahe gottgleich in ihrem Bett thronte und doch jede Nacht, die ich mich Heim schlich, schon beim Schlüsseldrehen auf der ersten Treppenstufe stand. Mutter Wolf, auf Jagd, ungesättigt. Mutter Kuh, weich und warm, wenn mein Kopf auf ihrem Bauch ruhen durfte und dann war alles wieder vergeben. Gaia, wie aus ihrer Hand das Leben wächst. Ihre Hände greifen nie in die Leere, immer strömt ein Hauch von Erde in die Welt hinaus, wenn sie ihr Kleid lüftet, ihren Füßen entwachsen starke Wurzeln in andere Welten, sie ist die Schamanin von Heimat. Und meine leichten Luftfinger umkreisen in tanzenden Wolken wie ein Trabant ihre harte Kruste, stoßen sich an Bergspitzen und schießen in Täler hinab, reißen Wellen in den Ozean und spielen in Baumspitzen, als wäre ich noch immer ein Kind.
Später, hinten am Hafen sitzen zwei Raben auf dem Brückengeländer, ferner jaulen die Schiffe. Einer spreizt die Flügel und krächzt, als ich vorüber wehe und springt plötzlich in meine Strömung mit ein. Schwarz sagt sein Schnabel und Federkleid, grob zucken seine Flügel bei den hastigen Schritten und wachsen dann zu einer sich entfaltenden Blume heran, als er in Seide gleitet. Rabe im Seidenkleid, er nennt sich Munin. Spricht von vergangenen Jahrhunderten, tausenden. Mondaugen mit grauem Schimmer, Astfedern, weltmüde sei er. Er suche nach Ruhe. „Ich habe Berge gesehen“, erzähle ich. „Ich habe Wälder und Wolken gesehen, fern von dem Ort, wo ich wuchs, voll von Phönixen und Drachentauben und in der Mitte sitzt der Adler auf Yggdrasil und schläft.“ „Ach,“ seufzt Munin und bremst ab. „All die vielen toten Tauben.“
In den Seen ruhen schimmernde Sterne. Nachts schalten sich die Seelenlichter an, da schwimmen leuchtende Fische und Frösche, da wedeln tausende Halme in Neon am Rande des Weihers wie Leuchtfeuer. Wir klettern an Ästen in die Tiefen des Waldes und legen uns in unseren eigenen Herzen zur Ruh, die Hände blutig. Und auch wenn ich morgens wieder im gleichen weichen Bett erwache, weiß ich dennoch wie dunkler Waldfarn riecht.
Weiter hinterm Hafen. Straßen und Lampen in Schatten und Sonne, Hände und Hüte. Der Nachmittag weilt ewig. Heute will die Sonne nicht untergehen, sie klammert sich mit ihren Lichtfäden violett golden an der Wolkendecke fest, wird groß und rot vor lauter Unwillen und ergießt sich schließlich, da sie nicht anders kann als auf den Horizont zu prallen, noch einmal gänzlich über den Himmel, zieht ihren Schwaden um die Welt in die Häuser der Menschen, schießt Flammen in die Fensterspiegel. Und Hüte heben sich, Hände deuten in den Himmel.
Mutter Reh. Ein Herz, im Wald versteckt, scheu und störrisch. Manche Nacht noch jage ich ihm hinterher, ziele mit stumpfen Pfeilen auf das pulsierende Rot, schieße meine Pfeile vage in das Dickicht. Die Bäume säuseln mir leise einen Weg, doch ich komme immer wieder nur bei mir selber an.