Eigentlich habe ich das Gefühl, dass ich nie vor die Tür gegangen bin.
Vor mir liegen Schrauben, Muttern und Schlüssel, ich habe viel konstruiert, doch nichts kam mir jemals in den Sinn, das ich erfinden konnte. Und die Dinge, die ich sehe, seh ich über tausend Ecken. Sie brechen sich daran. Juni sagte, sie könne meine Seele sehen. Ich würde gerne etwas derartiges glauben. Vielleicht, ja, vielleicht haben manche Menschen solche Begabungen, ich möchte gern dran glauben.
Ich binde mir den Schal um, es wird kälter draußen, Tag für Tag. Ich gehe in die alte Fabrik, klopfe Wände ab und hole Rohre und Drähte aus den Wänden. Zu Hause lagert Kupfer und ich binde Bäume daraus, einen Wald aus Kupferbäumen. Kalter Wind weht, Regen kommt dann und wann, aber jetzt nicht. Mein Regenschirm klickt geschlossen auf den Asphalt.
Das Mädchen, das ich Juni nannte, ich nenne sie immer nach dem Monat, in dem ich sie das letzte Mal sah. Jetzt ist September. Juni reist gerne. Eigentlich verschwindet sie immer ohne etwas zu sagen. Sie steigt dann in ein Flugzeug oder in einen Zug und kommt wieder, wenn sie will. Sie erzählt wenig darüber, aber ich glaube sie reist, um zu sehen. Sie sieht sich Dinge an, allein, lernt keine Leute kennen, steht morgens auf, verlässt das Zimmer und kehrt erst spät abends zurück. Nach Hause kommt sie verändert, braun gebrannt mit bunter Kleidung oder feinen Zöpfen, einmal wie ein Mann gekleidet und mit kurzem Haar. Und doch tut sie jedes Mal, als wäre keine Zeit vergangen, als wäre sie erst gestern in meinem Bett aufgewacht. Ich öffne ihr die Tür, sie streift sich wortlos die Schuhe ab, kocht sich Kaffee in der Küche, setzt sich an meinen Tisch und fragt mich, wie mein Tag gewesen ist.
Und ich berichte ihr.
Ich habe viele Worte für die Tage. Für manche Menschen sind sie nicht zu unterscheiden, aber ich habe jeden Tag immer ganz anders empfunden, selbst wenn ich kaum etwas getan habe. Man muss lernen zu beobachten, die Dinge wechseln, wachsen, sterben und werden geboren, gehen kaputt und verschwinden, erneuern sich.
Ich erzähle dann und wiege jedes Wort ab, damit es sich so wahr wie möglich an hört, ich will alles richtig beschreiben, so, wie es in mich drang. Und mein Bericht kommt einer Beichte dar, Juni hört zu, bis ich ende und dann sitzen wir uns still.
Manchmal verlaufe ich mich in der Stadt. Ich treffe dann auf eine tiefe Angst, ich laufe und laufe und meine etwas zu erkennen, meine, in der Nähe meines Hauses zu sein, nur die nächste Ecke und dann, ich habe mich getäuscht.
Ich traue mich nicht zu fragen. In solchen Momenten ist alles um mich milchig und falsch, keiner darf meine Schwäche sehen, und ich laufe und laufe und halte mich nur damit aufrecht, dass ich mich selbst belüge und meine Angst verleugne. Die Menschen starren mich seltsam an, als würden sie alle etwas ahnen, alle etwas von meinem Innern erahnen, da wo es kein Licht mehr gibt.
Und dann, wenn ich zu Hause bin, bin ich erschöpft wie sonst nie, ich schalte das Telefon aus und setze mich aufs Sofa und wundere mich. Ich erinnere mich genau an diese Angst, dieses Verloren gehen, es widerfährt mir seit meiner Kindheit ab und zu. Es sind Bilder in mir, aufgereiht wie ein Comic und es ist mir fremd, dass ich das bin, aber der Mensch ist vieles.
Der Kupferwald zieht sich durch meine Wohnung, die Bäume sind an den Ästen verflochten, ich hänge Dinge an sie, die ich finde, oder die Juni für mich fand. Es ist ein Wald aus Erinnerung, mit Herzen aus Uhrwerk, Wasserzählern, Dinge, die leben könnten, durch ihre Funktion.
Das Astwerk an der Decke wächst durch Türen und Schränke, es nimmt so viel Platz, dass ich verloren darin gehe, sagt Juni. Manchmal macht sie Scherze darüber, dass sie eine Machete mitbringen würde, um uns einen Weg durch das Dickicht zu schlagen. Ich sehe dann Juni mit Tropenhelm durch den Dschungel ziehen, allein und verbissen, ich höre Affen kreischen und Wasser tropfen, der Boden gibt weich nach und alles ist voll von Fremde, sie wischt sich den Schweiß ab, die Moskitos summen und tief unter den Sohlen pocht das Herz des Waldes.
In meinem Wald bin ich das Herz, bin ich der Baumeister, der Erschaffer, ich bin der Kupferkönig in seiner Festung. Und wenn ich allein bin, so wie jetzt, dann drücke ich den Schalter und die Äste fangen an sich zu bewegen, mit metallischem Klicken dreht sich ein Baum langsam, ein anderer zieht die Zweige zusammen wie Spinnenbeine, die an der Wand tasten, ein Baum beherbergt Vögel und sie kommen alle gleichzeitig aus ihren Häusern raus und pfeifen schrill zu dem metallischem Klicken, dass den Kupferwald leben lässt.
Ich habe für Juni eine Schaukel gebaut und sie an ein Astrohr gebunden, sie steht stumm in all dem Summen. Ich schaue zu und begreife, dass Juni die Schaukel nie benutzen wird, es wird eine andere sein.
Ich will zu viel und habe keine Kraft dafür, die Dinge prallen an mir ab wie Perlen, die ich nicht fange. Ich habe so viel Zeit gehabt. Man sitzt dann nur länger und wird müßiger, man verschmilzt mit dem Boden, die Gelenke werden steif, das Denken stumpf und der Boden ist voll von sich erbrechenden Muscheln und das nennt man dann Einsamkeit. Weil man sich nicht eingestehen will, dass es die eigene Schwäche ist sich gegenüber zu stehen und nur Mitleid zu empfinden. Zweig nannte das die Ungeduld des Herzens. Vielleicht zittern die Hände deshalb irgendwann, man muss das alles kanalisieren, nur. Der immergleiche Küchentisch, die immergleichen Jahreszeiten, Vögel, es ist alles so begrenzt. Die Welt scheint einem so groß und voller Möglichkeiten, aber der eigene Horizont ist schmächtig, man kennt kaum etwas von Allem, nur vom Hörensagen, man muss sich vor der Welt demütig beugen, bis man verschwindet in ihr, bis man eins wird mit ihr.
Ich sitze lange und fühle dem Hallen nach. Ich bewege meinen Zehen langsam, dann die Füße, dann erhebe ich mich. Meine morschen Beine ziehen der Tür entgegen, ich streife meine Rüstung ab, gehe die Treppe hinunter in das Rauschen der Welt und ahne den Dschungel irgendwo. Ich muss jetzt Orte finden, die ich nicht kenne - der Kupferwald bleibt klickend zurück, er soll zur Fremde werden, er soll schmelzen -
ich laufe und laufe und kann mich jetzt nicht verlaufen, denn ich strebe zum Kern, dann Wind, der mit die Arme öffnet, die Straße wird zum Hang, jetzt kommt der Hafen, die See, das Glück.