Eintracht über Pompeji

Text

von  Akzidenz

[..] Die Wahrheit ist, dass nichts an der Seele hängt, was sterblich wäre,
und deshalb kommt alles von ihr, was die Jahrhunderte belebt.

Die Geschichte ist nämlich das Gegenteil der Allegorie; sie ist eigentlich sogar die prima materia der Phantasie. Und wenn wir den Versuch wagen, die Vorwelt von der Gegenwart loszusagen, so ist seither nämlich die Kunst alles Rechtschaffene der Seele geblieben - gleichfalls ihrer Seele, die sie die gegenwärtige hat verstehen lassen. Das größte Artefakt, das uns aber jenseits der Geschichte aufgekommen ist, lässt sich (nämlich) nicht erkennen und ist Gott. Zwischen den Farben hat er sich laviert; und solange die Welt nicht zu Ende ist, ist auch Gott nicht zu Ende. Und solange die Farben der Seele auf der Erde an das Himmlischste gebunden sind, das wir von Gott werden kennengelernt haben, verkreuzen sie die Entelechie der Seele und ihrer Künste für die eigentliche Dingbarkeit Gottes, denn deus absconditus, so lautet die Logik seines über die Ufer tretenden Reichtums. Und so tun wir uns mit allem recht, was Anteil an diesem Reichtum nimmt.

Die menschenwürdigste Ergänzung der Natur ist ihre Seelenbewegung. Wenn uns etwas in Schleiern vorkommt, so ist es das beste, es seiner Natur am nächsten anzusiedeln, wofern es eine Natur ansich hat, um weich zu machen; wo nicht, ist es entbehrlich und nimmt keinen Anfang an Beweisen. Wenn ein Ding natürlich ist, ist es das in medias res, als nämlich ohne Anfang oder Ende, kein Ungetüm, das wir uns auszumessen nötig sehen, wie auch fern von Zeitmessung, sondern selbst im Wandel immer dasselbe [Hauch].

Wäre der Kunst alles Selbstgerechte entzogen, alsgleich die Selbstliebe, die sie so nötig hat, um sich selber zu gebären, was wäre danach noch zum Staunen und Wundern fähig, was wäre dann die Tatsache, die sich darin überhebt, ihrer Idee gerecht zu werden, für eine Makulatur, eine Tantalidenkunst, ein Raub ihres Vorbildes geworden! Denn schlimmer noch, als eine Musik, die insich verkracht ist, ist eine Musik, die nichts mehr begehrt als ihre Hörer. Sie funktioniert nicht im Stillen - und das ist ihre Hölle! [die gleichfalls sie begehrt in einem künstlichen Wandel.]

Wer [aber] glaubt, die Welt sei auf Grund schwierig(st)er Zufälle ineinanderverbaut, und es ließe sich von einem Teil der Erde aus über das Andere genauso wenig evidieren, wie vom letzteren über seinen Antipoden, so wie es der Gegenwart über die Vergangenheit zufällt, der sei dahingehend beraten, dass jede Kenntnis aus ihrem Orte oder Geiste heraus geradeso grenzenlos ist, dass sie, wenn sie keine Seele hätte, den Erdball eine Myriade Mal zu umhüllen vermöchte, und jedwede sapientia, derer wir darum habhaft werden, bloß dem Umstande - also gleichsam dem Wetter - ihrer Anstelligkeit entspricht. Denn ohne das Wetter würde Ich gleichfalls nicht recht schlau aus dem Tage werden, und so ist es jenem Topos und jener Morphologie, und jener Zweckmäßigkeit, die es enthält und uns in unserem Milieu voranbringt, seit jeher mit dem Bewusstsein ergangen: sie wurden nicht harsch ohne Gewitter und nicht toll ohne die Sonne. Solange wir sagen können, was diesem und was jenem entspricht, fällt ihr kein größerer Widerspruch hinzu, als die Möglichkeit, dass es irgendwo eine ganze andere Beschaffenheit habe, als die, die wir erkennen. Nicht vergnüglicher als die Tatsache, wie das, was wir kennen, ebenso wenig von unserem Bewusstsein abzuerziehen ist, als wir uns vorzustellen vermöchten, dass wir etwas nicht wissen, ist es nicht anders, als wenn wir beseelt sind: denn so öffnet die Erde nicht nur alle ihre Kammern für uns, so dass wir von einem Punkt nach unten- und von dem anderen in die Höhe sehen können, und sie uns die Pläne ihrer Weltbaumeisterei und die Kartographien der Kosmologie offenbart, die Nominalismen und die Schätze, und die Zeugnisse des Bahamuts, und die Urkunden des ganzen Erdenreichs, die sie verbindet, in sich birgt, sondern da fürchten wir uns nicht, sondern da verleibt es uns ein, wie die Natur in uns an einem Bergsee - und man wird nicht fragen, was hier die Wahrheit sei und wo ihr Beweis.

Wenn schließlich etwas, was in der Natur sein Vorbild hat, wie fast alles ist, was der Mensch jemals ersann (vierte Augen, fünfte Augen, Schaufeln, Gewaffen, Höhen und Tiefen), muss man ihrem Weg auch darin glauben können, was es mit dem eidolon auf sich hat. Denn die eidola renaturieren das Lichtbild unseres Gedächtnisses als für ein Gefühl, indem sich uns Stimmungen von früher auftun, deren Grund ins Leere geht - sind sie überhaupt die vorgebutliche Seele! [Anamnesis]

Hat man die Melancholie je auf ihren Urgrund untersucht, so steht ihr die mithin fassbarste Vermutung zu, sie habe einen Körper, einen Stoff, ein hypokeimenon: sie habe mithin melás chòle, einen Saft, den man gar trinken könnte, und er entsteht uns durch das Innere, und ist säuerlichen Geschmacks, und er sprieße unter der Haut, wo die Gallenblase liegt vergraben. Desorbiert die dagenannte Blase einen Saft von vieren zu viel, so äußert sich ihr Überschuss in einer Krankheit, wie Gangrän, Blutgerinnung, Verschleimung, Gliederschmerzen. Dies ist eigentlich Dyskrasie genannt worden; ziehen wir in Betracht, dass die Melancholie aber diejenige Seelenkrankheit ist, der wir auch die Künste versinnen und die Dichter, die Kallipädie, das Grauen und Schlafen, das uns so traumähnlich zumute macht und auch so seelenartig, und voller Schlick, so müssen wir (gleichfalls) annehmen, dass ihr eigentliches Konfinium, nicht der Körper, sondern die Stelle bis zu ihrer letzten erkennbaren Instanz der Traum wie ihre Wirkung selbst ist. Wo sich also die Natur des Körpers mit ihr scheidet, und eben die  Physiologie, und deshalb ihre Psychosomatik, da kommt der Stoffeswandel nun zustande. Die eidola, die auch für hauchdünn gehalten werden, weil sie ihrer Natur gemäß zum Körper neigen, sintemal ebenso geformt sein müssen, welche sich uns im Werden der Seele auf den Organismus mögen niedergelegt haben, beinhalten daselbst den Hauch der Wirklichkeit (Erz und Erde eines jeden) und führen ihn auf dem Körper ab, bis er in die Seele sintert. Es scheint die Natur immer so, als wäre ihr der Traum versagt geblieben. Dabei sagen wir ihr alles das Schöne nach, das am nächsten noch dem Traume gleicht, oder der Unbegreifbarkeit des Tieres. Wird man mir hier nicht sagen, hier würde der Sinn des Wortes G e h e i m n i s so natürlich anmuten, als sei sein Begriff der in der Natur enthalten, dass das nähere Gegenteil des Traumes - aber damit auch die Kongruenz - nichts als die Natur eo ipso sei oder umgekehrt, dass das Abbild der Natur immerwie dasselbe, das Naturbild aus dem Traume, die Reverie in der Natur ist? oder hier dereierend, dass die Ausstrahlung der verborgenen Gefühle von der Vorwelt, der pränatalen Seele zeugen, und die Vorwelt von Ausstrahlung zeugt? Was es ist in unseren Träumen, das nach außen geschwommen ist und das Unsichtbare sichtbar macht, die Kunst und die Musik, die Schrift, was es gleichfalls mit den Schlangen und Tigern und den Affen und Hyänen, deren Eigenschaften wir uns nachsagen, wenn wir außer der Vernunft geraten ist; nicht Entzücken über etwas, das der Mensch ganz selber ist?

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Georg Maria Wilke (21.02.12)
Der letzte Teil über die melancholia ist super, hat mir neue Anregungen gegeben - überhaupt ein sehr erstaunlich guter Text ist dir da gelungen. Besonders gefällt mir :"Wäre der Kunst alles Selbstgerechte entzogen, oder die Selbstliebe, die sie so nötig hat, sich selber zu gebären, was wäre danach noch zum Staunen und Wundern, was wäre alsdann überhaupt die Tatsache, die sich darin überhebt, ihrer Idee gerecht zu werden, für eine Makulatur, eine Tantalidenkunst, ein Raub ihress Vorbildes geworden! Denn schlimmer noch, als eine Musik, die insich verkracht ist, ist eine Musik, die nichts mehr begehrt als ihre Hörer, und nicht im Stillen funktioniert. Und das ist ihre Hölle!"
Vielen Dank für diesen Text. Liebe Grüße, Georg

 Akzidenz meinte dazu am 21.02.12:
Ich hatte Deinen Kommentar ganz übersehen,
als Ich Dir die Rückmeldung gab.

Insofern weiß Ich, was Du daran hast,
und Ich danke Dir ganz herzlich dafür!

 Georg Maria Wilke antwortete darauf am 24.02.12:
Lieber Akzidenz, ich habe (vielleicht) noch eine interessante Ergänzung zur Melancholie gefunden- es wäre das Bild von Matthias Gerung "Melancolia" von 1558 und natürlich Dürers Melencolia I, aber der Text von Marsilius Ficinus "De vita triplici", in dem er Saturn und Melancholie beschreibt, nicht nur vom medizinischen Standpunkt aus, sondern aus dem Blickwinkel der damaligen Kosmologie (Astrologie) und seine intensive Berührung zu den Mythen.
Liebe Grüße, Georg

 Akzidenz schrieb daraufhin am 24.02.12:
Lieber Georg,

die Kohärenz zwischen Saturn und Melancholie wurde im Laufe der Jahrhunderte bereits emsig repristiniert. Ficinus' Schriften über die Medizin, Diätetik und Melancholie sind mir indes bloß äußerst bruchstückhaft bekannt. Weniger aber die von Dir genannten Bilder. Marsilius Augenmerk galt der Melancholie im Wesentlichen immer als Erbanlage künstler- und denkerischen Schaffens. Wohl ausgehend von der Frage, die wir, weil der vorgenannte sich selbst dem sogenannten Platonismus zugeneigt sah, vielleicht seit Platon in den Köpfen haben; wie es denn komme, dass sich jeder Geistige immerwie für melancholisch erwies. Bei Marsilius Ficinus wird das medizinisch wunderbar eruiert. Wir wissen, das Mythologem zeigt zwischen Wissenschaft und Esoterik immer schon tiefere Einsichten über die Natur der Sache auf - in diesem Falle angefangen bei Kyparissos, Saturnus/Kronos und anderlei, finden wir auch noch in der Psychognostik etliche Beispiele von griechisch-römischer Konsistenz; vergleichsweise Jung. Man darf nicht einmal in Abrede stellen, dass sich die Wissenschaft sehr vom, nennen wir es, superstitionis ferngehalten hätte; sie ging gleichsam sogar Hand in Hand, und ihr versinnen wir auch die glückliche Serendipität ernstzunehmender Medizin. Wenn wir die Astronomie betrachten, so dürfen wir auch die Astrologie nicht in Acht tun. In der Monastischen Medizin, oder überhaupt im Mittelalter, hat die Vier-Säfte-Lehre an großer Wiederbelebung erfahren; und sie war - sie ist - tatsächlich ein kommensurables Modell für den Körper und die gesamte Physiologie des Menschen. Die Allopathie hier als Schlagwort.

Du bist Antiquariar, Georg?
Mich passionieren vor allem die älteren Schriften:
Galenos' Methodi medendi, die Enzyklopädien,
die Naturgeschichte, vergleichbare Konvolute.
Ob Du mir den Text des Marsilius, auf den Du rekurrierst,
ein wenig tiefer ausführen könntest? (Private Nachricht) Ich kenne, wie gesagt, nur einen Bruchteil desselben.


Liebe Grüße!
Akzidenz
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram