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I.

Text

von  Lala

Der Hirte

Der Hirte schaute aufs Meer, dann auf das Kalb, das er in seinen Armen trug und schließlich auf die Herde. Der Bock der Herde nickte ihm zu. Wiederholte laut und für alle Ohren: „Ersäuf das Kalb im Meer, Hirte!“ Ersäuf das Kalb im Meer, wiederholte der Hirte im Kopf und fragte sich „Warum?“ Aber er entließ das Kalb auch nicht aus seinen Armen. Er lockerte nicht seinen Griff, im Gegenteil und bewegte sich Schritt für Schritt ans Ufer und an die Grenzen seiner Welt. Das Kalb ahnte nichts und schaute treu zu ihm auf. Zu ihm, dem Hirten und dem Vater.



I.

Nichts außer Schafen.

Und Gras. Viel Gras.

Wie lange war er schon auf der Insel? Er wusste es nicht mehr. Zeit spielte keine Rolle. Hatte nie eine Rolle gespielt.

Diese Insel lag in einem Meer von Zeit.

Er priemte.

Das war sein einziger Zeitvertreib. Kauen und spucken. Kauen und spucken, während die Schafe grasten. Er trieb sie mal von der einen, mal zur anderen Wiese und dann wieder zurück. Oder auch nicht. Die Schafe folgten ihm ohnehin, egal, wohin er auch ging. Er brauchte keinen Hund. Seinen Hirtenstab brauchte er auch nur, um sich darauf abzustützen, während er kaute und den Schafen beim Weiden zuschaute. So ging es tagein, tagaus auf seiner Insel zu. Nur das Wetter und das Licht änderten sich. Ansonsten blieb alles so, wie es war.

Aber dann geschah es. Er wusste nicht mehr genau, wann und wie es geschehen war, aber er meinte, sich zu erinnern, dass es eines Nachts gewesen ist, während er hinter dem Feuer stand und selbstvergessen vor sich hinmurmelte. Denn wenn er nicht gerade kaute, dann murmelte er vor sich hin. Kommentierte das Schafsein, das Wetter oder irgendetwas, was ihm gerade in den Sinn kam.

Während er also so hinter seinem Feuer stand, hörte er eine Stimme. Sie war ihm gleich vertraut und er war eigentlich nicht bass erstaunt, dass die Stimme, die er hörte, die Stimme eines Schafes war. Das Schaf musste sich in die Nähe von ihm und dem Feuer getraut haben. Aber das eigentlich ungewöhnliche war: Das Schaf sprach zu ihm. Es blökte nicht. Es sprach. Er konnte jedes Wort verstehen. Das Schaf wollte wissen, ob es etwas für ihn tun könne. Ob es ihm dienen dürfe. Und er möge doch bitte zu ihm sprechen.

Erst dachte der Hirte, das Schaf meine nicht ihn. Er schaute sich um und dachte, dass vielleicht ein anderes Schaf noch hinter ihm stünde und das Schaf vor dem Feuer das Schaf hinter dem Feuer meinen könnte. Aber da war kein Schaf. Doch der Hirte antwortete dem Schaf nicht. Er murmelte auch nichts mehr in seinen Bart. Er verstummte.
Geheuer war ihm die Sache nicht. Daher sagte er nichts in jener Nacht. „Vielleicht bilde ich mir das alles ein?“, dachte der Hirte. „In der Einsamkeit muss ich vorsichtig sein, zu wem ich spreche“, schloss er seinen Gedankengang. Er wollte sich nicht selbst einen Idioten schimpfen, wenn sich alles als Spuk herausstellen würde. Also schwieg er.

Doch in der nächsten Nacht, als er wieder hinter seinem Feuer stand, aufgestützt auf seinem Stab vor sich hinmurmelte, kaute und spuckte, hörte er wieder die Stimme und noch eine zweite. In jener Nacht standen also schon zwei Schafe am Feuer und wollten ihm dienen, wollten, dass er zu ihnen spräche. „Komische Tiere“, dachte er kurz angebunden und wieder schaute er über seine Schultern, ob da nicht doch ein Schaf hinter ihm versteckt sei, welches den Auftrieb verursacht haben könnte.
Aber da war wieder keines. Nicht die Spur eines Schafes. Die Tiere sprachen zu ihm. Das musste er festhalten. Dennoch schwieg er weiterhin. Was seien schon ein Tag und ein Schaf mehr? Er könne durchaus, so sinnierte er stumm, während die Schafe die ganze Zeit in einer Art Singsang zu ihm sprachen, er könne durchaus und das auch noch viel länger. Das sei mal klar. Er sei nun mal kein Bruder Leichtfuß, der nolens volens seine Gewohnheiten ändere, nur weil da jetzt so ein Schaf oder auch zwei zu ihm sprächen. So einfach sei die Sache nicht.

Aber in den darauffolgenden Nächten kamen die Schafe wieder und sprachen zum Hirten und wiegten ihre Körper dabei rhythmisch. Der Hirte aber schwieg und dachte an Bockshörner und ähnlichen Schabernack. Und in jenen Nächten, an denen sich keine Schafe am Feuer einfanden, denn auch die kamen, verfiel der Hirte sofort wieder in sein unablässiges Murmeln, Priemen, Kauen und Ausspucken und dachte: „Grillen. Alles Grillen, alter Freund. Du musst ganz bei Dir bleiben.“ Und der Hirte blieb bei sich. So gut es ging, denn als alten Freund hatte er sich selbst noch nie bezeichnet. Geschweige denn, mit sich selbst in der zweiten Person Singular gesprochen.

Ohne dass es der Hirte bemerkte, hatte sich in seine Sprache eine babylonische Verwirrung eingeschlichen. Schlimmer noch als es eh schon war, wurde es, als auch noch das Wetter schlechter wurde. Es regnete ohne Unterlass auf die Insel und der Filz seines Hutes und seines Gewandes waren nass und schwer. Er fühlte die Nässe und das klamme, kalte Wasser, wie es in ihn hineindrang. Jeden Tropfen Wasser spürte er an sich kleben. Solch Ungemach hatte es auf seiner Insel nie zuvor gegeben.

Das Feuer, den Reisig zu zünden, war eine elende, dornige Plackerei geworden und die Schafe? Sie trieben sich, versprengt in kleinen Gruppen, unter dem Schutz der Bäume oder anderen natürlichen Überdachungen, herum. An seine nunmehr nur noch schwächlich glimmende Feuerstelle kamen sie nicht mehr. Der Hirte bemerkte das auch. „Keine Schafe mehr“, murmelte er. „Keine Schafe“, wiederholte er lauter und dachte: „Was bin ich für ein Hirte?“
Dieser Gedanke, was er denn für ein Hirte sei – warum auch immer – gepaart mit seinen nassen, schweren Klamotten, trieben ihn derart um, dass der Hirte in die von Wind, Wetter und verwirrenden Gedanken zerfetzte Zeit lauthals ausrief: „Welcher Hirte hütet ohne Schafe!“, und zur Antwort bekam: „Ich bin Dein Schaf!“

Als das Schaf ihm geantwortet hatte, dass es sein Schaf sei, verstummte der Hirte. Der Regen prasselte auf die klägliche Feuerstelle und vor dem blassen, durchsichtigen Feuerschein stand ein Schaf. Sein Schaf. Es sah armselig aus. Ausgehungert. „Was bin ich für ein Hirte?“, fauchte es bei jedem Wimpernschlag der durchnässten Kreatur durch seinen Hirtenschädel: „Was bin ich für ein Hirte?“

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (27.03.13)
Hallo Lala,
ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht.

[Er trieb sie mal von der Einen mal zur anderen Wiese ]
von der einen - wird hier klein geschrieben, einfach, weil es noch eine andere Wiese gibt.

[welches den Auftrieb verursacht haben könnte]
hier meinst du sicher den Aufruhr.

Ansonsten hab ich nix zu meckern. Und ich hoffe, du bist einverstanden. ;)

Liebe Grüße
Llu ♥

 Lala meinte dazu am 27.03.13:
Hallo Lluviagata,

und Danke: fürs Lesen und kommentieren.

Korrekt. die Eine schreibe ich an der Stelle klein. Verstanden. Aber den Auftrieb? Den lass ich - wegen des Abtriebs. Aber ich gebe zu, dass ist um die Ecke gedacht.

Gruß

Lala
holzköpfchen (31)
(28.03.13)
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 Lala antwortete darauf am 28.03.13:
Hallo Sockenpuppe!

Vielen Dank für Deine Beiden Kommentare. Es freut mich, dass es Dir der "Hirte" wert war, so viel Zeit zu investieren. Ich habe das übernommen. Danke. Die Absätze wähle ich meist so wie ich das Dingen lese. Siehe den Anfang. Weiteres folgt.

Gruß

Lala

 Isaban (23.04.13)
Hallo Lala, interessante Geschcihte.

Schau noch einmal nach diesem Satz:

[quote}Das Schaf musste sich in die Nähe von ihm und dem Feuer getraut haben.[/quote]

"Die Nähe von ihm" ist kein wirklich schönes Deutsch. Besser wäre hier: Das Schaf musste sich in seine Nähe und die des Feuers getraut haben.

Liebe Grüße

Sabine
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