Flaschenpost

Gedanke zum Thema Leben

von  unangepasste

Je älter ich werde, desto reißender stürzt die Zeit das Flussbett hinab. Früher, als ich ein kleines Mädchen war, bewegte sie sich in feinen Wellen, und an manchen Stellen blickte ich bis zum Grund. Heute sehe ich nur treibende Blätter und aufgewirbelte Gischt.
Damals bestand ein Tag aus einem riesigen Sack. Ich sammelte und sammelte, und immer blieb noch Platz. Nachts füllte ich den Rest in anderen Welten. Dann trat ein Mann aus der Tür der schlechten Träume, die sich in der Wand am Fußende meines Bettes befand, bäumte sich auf und sprach mit finsterer Stimme: "Ich bin der Schokoladenfresser!" Leider war ich nicht schlagfertig und mutig genug, ihm die Marienkäfer vom letzten Osterfest anzubieten. Mir kam noch nicht einmal der Gedanke, dass ich selbst gar nicht aus Schokolade bestand und somit außer Gefahr war, gefressen zu werden.
Später wurden die Säcke immer kleiner, und die alten befanden sich schon so weit hinten, dass ich nicht mehr zu ihnen gelangte. Nur manchmal, wenn ich müde bin, gerate ich für Sekunden in einen Bereich zwischen Traum und Wachen, in dem Erinnerungen wohnen. Gerüche und Orte vereinen sich in dem Moment. Meine Füße befinden sich plötzlich auf Straßen, die ich als Kind entlang lief, in Ecken, die mir gänzlich entfallen waren. In solchen Augenblicken merke ich, dass mein Leben in mir drin ist. Sie sind ein müder Nachklang der einstigen Fähigkeit, die Welt mit allen Sinnen zu erleben. Ein Echo der Kindheit und zugleich ein Tor.
Früher schrieb meine Mutter jedes Jahr einen langen Brief an die Verwandtschaft. Wir durften diese Seiten nie lesen, wussten aber, dass es um uns ging, was uns wütend machte. Einmal fanden mein Bruder und ich Schnipsel im Papierkorb, die unverkennbar von einer Kopie stammten. Jeden einzelnen breiteten wir auf dem Wohnzimmerboden aus. Meine Mutter störte uns nicht bei unserer Tätigkeit, denn sie glaubte offenbar nicht an unseren Erfolg. Bei manchen Teilen sah man sofort, dass sie zusammenpassten. Dann gab es diese weißen Randbereiche, auf denen sich nur einzelne Striche befanden, die nahezu jeden Buchstaben fortführen konnten. Immer wieder probierten wir Teile aus. Doch am Ende waren wir fertig. Es entstand ein Text.
Sekunden im Halbschlaf sind manchmal solche Puzzleteile. Mit viel Geduld lässt sich von ihnen einmal der Text meiner Kindheit ablesen. Dann verstaue ich ihn luftdicht in Flaschen und trage ihn in ein Boot. Das nächste Mal schütze ich ihn vor dem reißenden Fluss.

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Kommentare zu diesem Text

BellisParennis (49)
(25.05.14)
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 unangepasste meinte dazu am 25.05.14:
Danke!

 Ganna (25.05.14)
...ich wünsche mir, Du fährt fort mit Deinen Betrachtungen, sind mir Empfindungen dieser Art doch sehr vertraut...

 unangepasste antwortete darauf am 25.05.14:
Danke. Ich denke, ich werde fortfahren. Vor einigen Jahren habe ich viele Texte dieser Art geschrieben, ich hatte allerdings etwas Bedenken, ob hier das richtige Publikum dafür ist. Habe aber bereits weitere Texte angefangen. Vielleicht stelle ich sie auch hier ein.

 AZU20 (25.05.14)
Gern gelesen. LG

 unangepasste schrieb daraufhin am 25.05.14:
Freut mich!
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