Das Alter ist ein großes Kleid

Gedanke zum Thema Alter

von  unangepasste

Früher hatte ich oft das Gefühl, dass ich äußerlich schneller älter werde als innerlich. Wenn ich die Jahre nannte, die seit meiner Geburt vergangen waren, erschrak ich manchmal selbst. Heute geht es mir anders. Ich empfinde die Zahl nicht mehr als ein Kleid, das mir von außen übergestülpt wurde, das unförmig an mir herunterhängt.
Den Übergang merkte ich kaum, doch auf einmal war es da, das Alter, als hätte sich das Äußere endlich nach innen vorgekämpft. Ganz leise waren die Jahre. Ihr Vordringen hatte ich nicht gehört. Eines Tages stand ich mitten darin und erkundete wie eine Katze die Umgebung.
Ob sich in unserem Körper wohl das Empfinden spiegelt? Früher wirkte ich äußerlich lange Zeit jünger. Damals war ich überzeugt, dass mein tatsächliches Alter meinem inneren weit voraus sei. Dann holte ich plötzlich auf, sammelte den am Ufer zurückgebliebenen Teil von mir wieder ein und trug ihn in das Boot, das auf meinem Lebensstrom vorwärts treibt. Wenn ich heute einen neuen Bekannten frage, wie alt ich bin, herrscht kein Zweifel mehr. Kaum einer vermutet mich noch in den Zwanzigern. Äußerlich habe ich aufgeholt – in meinem Alter keine positive Aussage mehr.
Bereits als Kind oder Jugendliche wurde ich nicht gern für älter gehalten. In mir lebte schon lange eine unbestimmte Angst, nicht zu genügen. Da das Älterwerden immer neue Herausforderungen an mich herantrug, sah ich ihm kritisch und mit Unwohlsein entgegen.
Mit zwölf Jahren lag ich am Abend vor meinem Geburtstag wach und dachte ängstlich und mit innerer Abwehrhaltung: Ab morgen bin ich nie wieder ein Kind. Dieses „nie wieder“ ließ mich innerlich erzittern. Zum ersten Mal sah ich in das harte, grausame Gesicht der Endgültigkeit. 
Viele Jahre zuvor wurde ich mit dem Tod konfrontiert. Doch damals huschte er nur an mir vorbei, ohne finster zu blicken. Vielleicht lächelte er sogar ein bisschen, nicht auf spöttische, überlegene Art, sondern so, als wollte er sagen: Alles hat seine Richtigkeit. In dem Bilderbuch „Die Erdenreise des kleinen Engels“ hatte ich schließlich gelernt, dass es einen Himmel gab, und der christlich-anthroposophische Glaube meiner Mutter ging vom ewigen Kreislauf der Wiedergeburt aus. So weinte ich nicht, als meine Urgroßmutter und wenig später mein Großvater „zu den Englein gegangen“ waren. Von Beerdigungen hielt man mich fern, vermutlich, um mich in meiner magischen Phantasiewelt zu lassen und das empfindsame Mädchen nicht zu früh mit der Härte des Lebens zu konfrontieren. Nun aber, da ich mit zwölf Jahren vor dem „Tod“ meiner eigenen Kindheit stand, konnte ich erstmals erahnen, was „für immer“ bedeutet.
Als ich schließlich mit dreizehn an einer Bushaltestelle wartete, hatte ich ein ähnliches Erlebnis. Eine ältere Dame richtete eine Frage an mich. Zum ersten Mal in meinem Leben sprach mich ein Erwachsener mit „Sie“ an. Ich kann mich nicht mehr an den Inhalt der Unterhaltung erinnern, weiß lediglich noch, dass ich mich falsch fühlte, wie ein Stück Teig, das eine Form ausfüllen sollte, jedoch viel zu klein war und verloren in einer Ecke liegen blieb. Damals trug ich einen Rock, noch ganz im Stil meiner Mutter, und ich weiß, dass ich für einen Augenblick an mir herunterschaute und jenes hellblaue Kleidungsstück beäugte, im Unklaren darüber, ob es der Verursacher des „Sie“ der alten Dame war, das ein flaues Gefühl in meinem Magen ausgelöst hatte.
Auch heute schätze ich mein Alter nicht. Doch ich passe in die Jahre hinein. Ihr Kleid ist mir nicht mehr zu groß. Es schmiegt sich um die Haut, als wäre es für mich geschneidert.

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Kommentare zu diesem Text

janna (66)
(29.06.14)
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 unangepasste meinte dazu am 29.06.14:
Auf dem Profilbild bin ich tatsächlich ca. 8 - 10 Jahre jünger (sind ja zwei Fotos, eins ist älter als das andere). Interessant finde ich, dass ich in meinen Texten jünger wirke. Zu jung fühlte ich mich nie - vielleicht ist das eine Erfahrung, die man als Älteste von 5 Geschwistern in seinem Empfinden bis auf wenige Ausnahmesituationen überspringt.

 Jorge (29.06.14)
Deine Überlegungen zum Alter regen auch mich zur Selbstbeschau an.
Innere Kraft wird geringer, äußere Haut altert inflationär, dennoch gibt es im Inneren einen unbändigen Willen, das Leben zu genießen.
Jeder nimmt sein Alterskleid in anderer Weise wahr.
Felicidades zu deinem Geburtstag.
Jorge

 unangepasste antwortete darauf am 29.06.14:
Danke für die Glückwünsche. Ja, jeder nimmt es etwas anders war und in jedem Alter nimmt man es anders wahr.

 AZU20 (29.06.14)
Mir wird es manchmal zu eng, dann kauf ich mir ein Neues. Interessante Überlegungen. LG

 unangepasste schrieb daraufhin am 29.06.14:
Gute Idee
Mir war es erstaunlicherweise noch nie zu eng.
Graeculus (69)
(29.06.14)
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 unangepasste äußerte darauf am 29.06.14:
Danke für die Glückwünsche. Geburtstage sind in der Tat häufig Anlass für solche Gedanken. Mindestens zwei Texte zu dem Thema habe ich bereits an früheren Geburtstagen verfasst.

 Regina (29.06.14)
Das ist ein interessanter Text über das äußerliche und innerliche Alter. Es sieht so aus, als ob die Anthro-Umgebung das Kindsein bewahren wollte und das Gegenteil erreichte: Das Kind setzt sich schon in früher Jugend mit Alter und Tod auseinander.

 unangepasste ergänzte dazu am 29.06.14:
Danke, freut mich, dass dich der Text anspricht. Ich glaube, die Umgebung hat ihr Ziel durchaus erreicht, denn vor dem Alter von 12 Jahren erfasste ich kaum, was Endgültigkeit war. Mit der Zunahme des eigenständigen Denkens erst entstanden langsam solche Gedanken und Empfindungen. Ob häufiger als bei anderen Kindern / Jugendlichen, wage ich nicht zu beurteilen.
Dieter Wal (58)
(29.06.14)
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 unangepasste meinte dazu am 29.06.14:
Ich fand es selbst mit 18 noch furchtbar. Als ich mit der Schule fertig war, dachte ich: Ab jetzt werde ich nie wieder Leute kennenlernen, die nicht anfangs "Sie" zu mir sagen. Ganz so schlimm wurde es zum Glück nicht.
Dieter Wal (58) meinte dazu am 29.06.14:
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