Dünnes Eis

Short Story zum Thema Begegnung

von  Ultano

Die Story basiert auf dem Lied "Dünnes Eis" von Clueso.
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„Du schwimmst herum
und schwebst auf dünnem Eis.
Dafür schenkt man dir Vertrauen.
Du nimmst dir heraus
was sonst dort unten treibt.
Du bringst Licht in diesen Traum.“


Der noch etwas kindlich wirkende junge Mann hatte sofort ihre Aufmerksamkeit erlangt, als die große Gruppe das vereinbarte Lokal betrat. Er war neu, dass wusste sie sofort. Sie war schon so lange dabei, dass sie jedes unbekannte Gesicht sofort in der Menge erkannte. Die große Gruppe ließ oft wenig Zeit, Intimsphäre und Spielraum um Menschen wirklich kennen zu lernen. Doch sein Blick, den sie durch den Raum hindurch erhaschte, verhieß so viel. Er machte ihr bewusst, dass es dieses Mal anders werden sollte. Er setze sich in ihre Nähe und schien eine geschlagene Stunde jedes ihrer mit anderen gewechselten Worte genau zu verfolgen. Immer wieder trafen sich die Blicke und in ihr wuchs ein eigenartiges Gefühl heran. Sie kannte ihn noch immer nicht, doch seine Ausstrahlung sprach Bände. Ein offener, sehr interessanter, aber dennoch zurückhaltender junger Mann, der mit Sicherheit eine Menge zu erzählen hatte.
Er schien so sehr außen zu stehen und zu beobachten, dass er trotzdem in der Menge verschwand.

„Du sagst 'Hallo'
und man vergisst den Rest.
Für dich steh'n alle Türen auf.
Du hörst gern zu,
weil du was wissen willst.
Man sieht sich selbst in deinen Augen.“


Als die Gruppe sich langsam auflöste rückte er einige Plätze auf und saß auf einmal direkt neben ihr. „Hallo.“ Er lächelte. Es erschien ihr alles so vertraut und unwirklich. Sie vertieften sich in ein Gespräch über Arbeit, Herkunft und allen möglichen Smalltalk Themen, die ihnen gerade in den Sinn kamen. Er war aufmerksam, fragte viel nach und wollte alles bis ins Detail wissen. Er beendete ihre Sätze, wenn sie wieder einmal ins Stocken kam. Obwohl sie viel von sich preis gab war es doch er, der das Gespräch am laufen hielt. Seine Augen machten sie nervös. Und das obwohl sie keinen Grund dazu hatte. Er ließ ihr Platz und Raum zum erzählen und atmen, den sie sonst aus den ersten vorsichtigen Kennenlernen nicht kannte. Sie musste auf ihn unfassbar schüchtern wirken. Ab und an berührte er wie beiläufig Ihren Arm oder ihre Hand. Es schien tatsächlich keine Absicht zu sein, doch sie bemerkte jede dieser kleinen Gesten sofort. Als der Rest der Gruppe sich auflöste gingen auch sie getrennte Wege. Auf dem Weg nach Hause ging sie diese unwirkliche Begegnung noch einmal genau im Kopf durch. Wie hatte dieser Fremde so einen Eindruck bei ihr hinterlassen können? Sie war doch sonst vor jeglichen Versuchen der Annäherung gefeit. Doch er hatte es auf eine so unaufdringliche Weise geschafft sie zum Nachdenken zu bringen. Es war so lange her, dass jemand ihr gegenüber so aufmerksam und interessiert war. So selten hörte jemand wirklich zu.

„Du läufst ohne Schatten durch den Tag,
niemand geht dir aus dem Weg.
Ein jeder sehnt sich, der Berührung hat.
Denn du verzauberst aus Versehen“


Die nächsten Wochen vergingen im Flug. Immer mehr näherte er sich ihr an. Bei den wöchentlichen Treffen saßen sie so gut wie jedes Mal in der selben Ecke und zum Ende hin direkt nebeneinander. Es schien als sei es seine Taktik, sie zunächst aus sicherer Entfernung zu beobachten. Als würde er ihren Gemütszustand und ihre Verfassung jedes Mal aufs Neue ausloten, um sich ihr dann zu nähern und bedacht und situationsabhängig zu Handeln. Doch das alles tat er nicht absichtlich. Er reagierte so unbewusst auf ihre Gefühle und ihre Verfassung, dass sie geplättet war von seinem Einfühlungsvermögen. Sie redeten viel, lernten sich kennen und immer mehr wurde ihr klar wie wundervoll er war. Sehr verhalten und ruhig hatte er sich in ihr Herz geredet. Es kam ihr wirklich so vor als würde er all diese kleinen Gesten und gewählten Worte unbewusst tun und sagen. Er begeisterte sie, und das ganz ohne es zu wollen. Er schien gar nicht zu wissen, welche Wirkung er auf die Menschen in seiner Umgebung hatte. Auch die anderen der Gruppe hatten ihn sehr ins Herz geschlossen, dass wusste sie. Und er hatte sich ohne Vorwarnung angeschlichen und wie selbstverständlich einen Platz in Ihren Gedanken und in ihrem Herz ergattert. Auf jedem Heimweg dachte sie über Gesagtes nach und ließ ihre Begegnungen Revue passieren. Selbst einige Tage später waren diese noch nicht vollständig zerdacht und brannten auf ihr als wären sie täglich aufs Neue aufgefrischt worden.

„Du gibst dich hin
doch kannst nicht bleiben.
Und du gehst los.
Ohne zu warten gehst du deinen
Weg irgendwo.“


Dann teilte er eines Abends halblaut mit, dass er weg ziehen würde. Sie fühlte sich enttäuscht und traurig zugleich. Hätte sie doch nur mehr Zeit mit ihm gehabt. Und so nutzte sie die letzten Wochen um möglichst oft in seiner Nähe zu sein. Er füllte ihren Vorrat an kleinen Komplimenten und Aufmerksamkeiten auf und gab ihr den Stoff, den sie zum Nachdenken für ihre langen Tage brauchte.
An seinem letzten Abend trieb er das Maß auf die Spitze. Das Essen dauerte mal wieder ewig und so fingen die Leute um sie herum an aus Servietten kleine Wunderwerke zu bauen. Auch sie steuerte etwas bei, woraufhin auch er sich eine Serviette aus Papier schnappte und sich von ihr abwand. Um die Zeit zu überbrücken unterhielt sie sich mit ihrer Nachbarin zur linken. Als er sich ihr wieder zu wand und ihr eine kleine, rote Rose aus Papier hinhielt war sie mehr als überrascht. „Ich weiß, sie ist nicht so schön, ich hab mich beeilt. Aber ich möchte sie dir trotzdem gern schenken.“ Als sie die kleine, zarte Rose annahm schien der Funke von seiner Hand direkt auf sie über zu springen. Inmitten der anderen Gruppenmitglieder war es völlig um sie geschehen . Es fühlte sich an als würde der, jahrelang so mühevoll aufgebaute, Eisblock in ihr bis zur Unkenntlichkeit zerschmelzen. Ihr Herz war wie flüssiges Wachs, dass sie ihm am liebsten in die Hände gelegt hätte um es nach seinen Vorstellungen zu formen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein reines, ungebrochenes Herz, wie seines. So unbekümmert und zart wie das ihres Gegenübers war ihres schon lange nicht mehr. Und er schien nichts davon zu bemerken. Er tat solche Dinge einfach, ohne sich darüber bewusst zu sein, was sie bewirkten. Er stürmte, wie eine Windböe einfach in ihr Leben. Zerstreute alles, was sie sich bis dahin errichtet hatte, und verschwand wieder. Genauso schnell, wie er gekommen war.

„Du gibst dich hin
doch kannst nicht bleiben.
Und du gehst los.
Ohne zu warten gehst du deinen
Weg irgendwo.“

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Kommentare zu diesem Text


 Augustus (30.05.14)
Man wünschte der Protagonistin, sie hätte ein Stück weniger Beobachtungsgabe und ein Stück mehr dafür Mut. Jeder, der diese ziellosen, unbedachten, unbeabsichtigten ins Herz gehenden Gesten kennt, ich wette, der hat diesen unbewussten Naturzustand der ihn glücklich machte nicht ziehen gelassen.

Gruß,
Augustus

 Ultano meinte dazu am 11.08.14:
Danke für deinen Kommentar..
Leider gibt es im Leben manchmal Hindernisse, die ein Handeln unmöglich machen.

Liebe Grüße
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