Mischeks Untergrund

Skizze

von  m.o.bryé

Bei Day-after-the-day-after-tomorrow-Stimmung sind offenbar auch Schieferdächer machtlos, nicht mal die prächtigste Wintersonne kriegt hier was Warmes hin. Wollte eben aufstehn. Ein Gesäßpickel blieb kleben. Mir wurde schlagartig schlecht bei dem Gefühl. Wagte das Kotzen nicht. Kopfkino: Eine Säule Erbrochenes, die via Zunge-Dach-Verbindung mich in eine wirbelsäulenbedrängende Krummhaltung zwingt. Wenn man schon nicht mehr kotzen darf vom Klima aus. Irgendwas passt hier gar nicht. Ich weiß nicht, warum mir das so oft in den Kopf kommt. Klima und so. Vielleicht der Gedanke: Das Louvre geflutet mit Salzwasser. Bläschen, die rasch aus den Augenwinkeln der Monalisa ins Licht klettern. Gräulicher Brei, der klumpenweise aus den Toren der Archive der Welt nach oben steigt. Auch Da Vinci und Shakespeare werden vergessen. Und Einstein und Galilei, Jesus, dieses Arschloch von Goethe, das macht mich kaputt. Und irgendwann verdunstet das Wasser. Die Erde ist überzogen mit einem Brei aus Leichenmehl, Bücherstaub und schimmliger Farbe. Dann verglüht alles und Kafkas Manuskripte werden neben Rasputins Scheiße und der Venus Teil eines weißen Zwergs. Ich freu mich drauf. Würde man meine Atome zusammensuchen, käm ich dann wohl ungefähr auf das Volumen eines halben Staubkorns mit einem Tausend an Masse. Ach, müßiger Kram. Ich sollte wieder schlafen. Obwohl. Das mit dem halben Staubkorn war auch übertrieben, nicht? Wie groß ist so ein weißer Zwerg? Und was ist da dann alles drin? Sonne, Merkur, Venus, Erde… Mars? Das ganze Sonnensystem vielleicht sogar? Ich hätte mehr über Astronomie lesen sollen. Oh, fuck that.

Jass: Anson?
Was will ich, glaubst du?
Anson: Den Weltfrieden, die Weltrevolution, die Weltklimakatastrophe.
Jass: Sag im Ernst.
Anson: Du bist der Typ für große Maßstäbe.
Jass: Jeder will das glauben.
Anson: Weil du willst, dass jeder es glaubt. Vogel, echt.
Jass: Weißt du, eigentlich will ich eine Frau zu einem Kaffee einladen, die wie meine Mutter aussieht, und über Monate und Jahre hinweg langsam auf eine Familie hinarbeiten. Mit zwei Kindern und einer Frau, die mich, ganz mich liebt.
Anson: Mach doch.
Jass: Haha. Jede Spießerfrau bombt mich weg, und die Mädchen, die zu mir kommen, die wollen keine Familie, die wollen Spaß, so wie das, was sie für mich halten. Mick jetzt auch wieder.
Anson: Hast du sie gefragt?
Jass: Sie hat mich ausgelacht.
Anson: Vielleicht hast du's falsch gemacht.
Jass: Ich hab sie einfach gefragt.
Anson: Das ist ein sensibles Thema. Vielleicht denkt sie, du findest sie langweilig, wenn sie als Frau von ner Bilderbuchfamilie träumt.
Jass: Aber wenn ich doch frage.
Anson: Vielleicht hält sie es für einen Test.
Jass: Ach, du hast ja Recht. An ihrer Stelle würd ichs auch nicht sagen.
Anson: Wir kämpfen alle mit unserem Part, sofern wir schlau genug sind dazu.
Jass: Wärn wir nur dumm, was?
Anson: Das wär genauso langweilig wie eine Utopie. Mein Freund, mir graut vor dem Gedanken, eines Tages könnte Toleranz allgegenwärtig sein.
Jass: War ja klar, dass du wieder was Dystopisches rauskehrn und verwechseln musst.
Anson: Gut, dass wir vorher tot sind. Vermehr dich, zu deinen Kindern hab ich sicher en guten Draht, die erzählen mir dann, wie das so ist in der Hölle.
Jass: Melodramatischer Sack.
Anson: Und wenn schon.

Ich bin so damit beschäftigt, auf die Nacht zu warten, dass ich die Tage eigentlich gleich wegschmeißen könnte. Ist nicht so "erhabene Schwärze"-mäßig oder so'n Scheiß; einfach weniger Gekicher und Geschwätz und der Mist. Klar, die Öffnungszeiten sind ungünstiger, aber
Und ich fühl mich am Tag auch einfach nackt, irgendwie. Objektiv gesehen: Blödsinn. Meine Bekleidungsüberreste hängen wohl immer noch in meinem eingeschneiten Fenster, wenn nicht irgendjemand inzwischen meine Wohnung besetzt und sie da weg geräumt hat. Aber nachts ist das egaler, obwohl kälter. Nachts ist das alles einfach quite nicer, alles weicher, glatter und so. Wenn man schweigt, sieht man wenigstens nicht schon an den Lippen der anderen, ob's grad peinlich ist. Alles entspannter. Man kann im Schatten verschwinden und von Häuserecken aus lauschen, wenn man mag. Ich mag.
Mich überfordert das, ein Tagesleben. Mit Arbeit, Steuern, Ämtern, Schulen. Bla. Also doch irgendwie symbolisch, ja. Früher Tag, jetzt Nacht. Ich denk an mein Büro mit dem orangenen ergonomisch wertvollen Stuhl, den bunten Post-Its und dem scharfen Glücksgefühl, wenn jemand überfordert das Telefon an mich weitergereicht hat, und rutsch ganz außen an den Rand des Dachfirsts, ein Bein links, eins rechts an den Schiefer gepresst, und am Steißbein tut das eigentlich ziemlich weh, so zu sitzen. Aber ich kann die Hände aufstützen und mich vorlehnen, hinab spähen auf die Straße, die auf dieser Seite frei ist und auf der es noch Menschen gibt, die im Schatten des Schnees weiterlaufen. Ich glaube, es wird bald dunkel, und vielleicht kommt in der Zwischenzeit wieder Petra. Petra heißt Petra, weil sie die gleiche Haarfarbe wie meine Mutter hat. Vielleicht bin ich ja Jass. Ich glaub nicht, aber wer weiß. Petra hab ich jetzt schon ein paar Mal gesehen, wie sie etwas, das nach Papier aussah und also vermutlich Geld ist, in dem Sattel des Fahrrads am Laternenmast da unten versteckt hat. Sie macht es halbwegs schlau, weil sie immer an dem Sattel herumtastet, als wollte sie gucken, dass er noch richtig fest ist, und dann pumpt sie die Reifen auf oder zieht einen Draht nach oder so, bevor sie wieder geht. Aber sie fährt halt nie weg mit dem Ding, das ist schon auffällig, und sie geht auch nicht in eine der Türen, was auch eine Maßnahme wäre. Nunja. Es sind nicht so viele Leute unterwegs, und vielleicht schaut man auch gerade weniger, was andere machen, und denkt mehr an zuhause und so. Mir kommt es so vor, als würden die meisten da unten ziemlich schnell gehen und eher alleine, aber vielleicht war das schon immer so und man sieht es nur von einem Dach aus besser, oder wenn man sich aus den Kleidern herausgeschnitten hat. My, listen, ich fühl mich schon sehr besonders. Ich weiß nicht, ob man stolz darauf sein kann, mit Gänsehaut auf einem eiskalten Dach zu sitzen, nachdem man aus Irrwitz fast erfroren ist. Das war vorher nie eine relevante Frage. Aber es fühlt sich auf archaische Weise schlau an, das zu können. So sitzen. Zu beobachten, aufs Dunkle zu warten und zu überleben. Und wenn ich das Konzept des Verdienens schon hinter mir lasse, kann ich es auch auf den Stolz beziehen. Relevantere Frage: Wie lang werd ich noch so sitzen? Nicht gerade und nicht wegen dem blöden Knochen im Steiß. Aber ob ich in einem Jahr wieder ein Telefon halten könnte. Unten seh ich grad jemanden telefonieren, da dachte ich so. Scheint mir angenehm egal zu sein gerade, oder ich bin einfach gerade blind Angst und Hoffnung gegenüber. Gerade ist die Dunkelheit wie ein Betonklotz vom Himmel gefallen, unten laufen sie jetzt. Meine Augen folgen dem Handydisplay, das durch die Nacht leuchtet, und als das Licht verglimmt oder um eine Ecke gebogen ist oder so, scheint alles still zu sein (wenn man die letzten hastigen Schritte nicht zählt). Ein Tag ohne Petra, das Rad wird traurig sein. Oder sie kam früher oder scheiß sowieso drauf. Ich dreh mich auf dem Dachfirst um, wie ich das früher mit meinen Schwestern auf den bemoosten Baumstämmen im Wald gemacht hab. Ein Bein rüber, anderes Bein rüber, dabei mit den Händen abstützen, damit man sich die Hosen nicht versaut bzw. (aktueller) die Haut aufreißt. Neu ausgerichtet schieb ich mich Richtung Schornstein, erste Hand, zweite Hand, nachrutschen, dritte Hand, vierte Hand,... vom dem roten Bachsteinschlot hängt das Kabel mit dem Pappbecher runter bis zum Schnee, das dämliche Behältnis liegt seitlich auf der schwach schimmernden Decke und lässt sie würdelos zappelnd bis zu mir hochziehen. Der Schornstein raucht nicht, ist aber immer ein bisschen warm. Ich zieh mich daran hoch, den Becher in der Hand, vorsichtig, weil ich oft auf den Schieferschindeln abrutsche und das echt weh tut, egal ob ich slapstickmäßig mit dem Schritt aufs Dach knalle oder mich seitlich überschlagend in den Schnee stürze (mich dabei an dem splittrigen Dach aufschneidend, versteht sich). Beide Füße auf der Kante, das ist gut. Ich werf den Becher in den Kaminschacht, das Kabel bleibt in meiner Hand. Nichts zu hören, wie immer, die Pappe macht zwei drei leichte Geräusche beim Fallen, aber dann nichts, obwohl ich am Kabel merke, dass es Bewegung gibt da unten, und es schnell etwas schwerer wird. Dann hört das Gefuhrwerke auf. Verhältnismäßig langsam hole ich meinen Fang ein, damit ich keinen Ruß von den Backsteinwänden abschabe oder so. Ein warmer Geruch kommt mir entgegen. Ich kann nichts sehen, aber als ich das Ende des Kabels eingeholt habe und der Becher tatsächlich warm, nicht neutraltemperiert wie sonst, in meinen Händen ruht, meine Ellbogen sich am Schlot halten, da rieche ich Gewürze und warmes Gemüse. Mein Mund wird ganz feucht. Ich glaube, meine Hand zittert tatsächlich, als ich langsam in den Becher taste. Vielleicht ein Eintopf oder so, es ist wirklich warm und stückig. Ich schiebe mir ein weiches Etwas in den Mund, das auf unerkennbare Weise toll schmeckt. Vielleicht Curry? Neuerdings esse ich immer blind und erkenne selbst Brot nicht mehr mit Sicherheit. Also vielleicht Curry, auf jeden Fall aber Warm, das mir durch den Hals und den Brustkorb in den Magen rutscht und dort wohlig schnurrt.

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Kommentare zu diesem Text

wupperzeit (58)
(16.07.14)
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