Multitaskingbetrug

Kurzprosa zum Thema Grenzen/ Grenzen überschreiten

von  JoePiet

Gerade führe ich ein intensives Gespräch face to face. Das Experiment besteht darin, dass ich gleichzeitig vor meinem PC sitze und ins Verlagsforum schreibe. Schräg gegenüber eine Frau, die mir Intimstes berichtet. Sie kann nicht sehen, was ich eintippe - der Bildschirm und die Tastatur sind invers aufgestellt. Sie geht davon aus, dass ich ihre Worte feshalte.
Ich reagiere auf sie, versuche adäquat zu antworten; parallel schreibe ich weiter. Ihre Fragen beziehen sich auf ein anderes Thema. Trotzdem lasse ich mich jetzt hier über diese komplementäre Anstrengung aus.

Im Prinzip betrüge ich sie. Halte inne, damit sie meine partielle Abwesenheit nicht bemerkt. Wende den Blick zu ihr und schreibe dann erneut. Sie schweigt, fixiert mich fragend. Bemerkt sie den Betrug?

Ich starre an die Decke und verschränke die Arme. Sie beginnt über einen Bekannten zu sprechen, der eine schwere Kopfverletzung erlitten habe, formuliert synchrone Handicaps.
Ich konzentriere mich auf meinen Text und denke an die Täuschung. Wie würde sie reagieren, wenn die Karten offen auf dem Tisch lägen?

Ich wende mich ihr verstärkt zu und versuche durch einige ausgedehnte Sätze den Eindruck zu erwecken, dass ich ganz bei ihr sei.
In Wirklichkeit bin ich gespalten. Schreibe hier und gebe ihr den Anschein bei ihr zu sein.

Erneut lehne ich mich zurück und verschränke für einen kurzen Moment die Arme, um in der nächsten Sekunde meine Hochstaplerei fortzusetzen. Die Hände auf der Tastatur blicke ich in ihre Augen. Zweifelt sie an meiner Präsenz?

Ich versteife mich auf mein Vorhaben und tippe in die Tastatur. Eine leichte Übelkeit bahnt sich an. Die Hände werden feucht und mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Mein Körper reagiert auf die perfide Masche.

Den Zeigefinger auf den Mund...

Noch fünf Minuten, dann wird sie diesen Raum verlassen. Mit der Merkel’schen Handhaltung versuche ich die Zeit zu überstehen. Fingerkuppe an Fingerkuppe. Gegenwart spüren. Bei sich bleiben. Nicht aufgeben und nachlassen. Weiterschreiben.

Sie schweigt und fragt. Ich muss reagieren und gebe ihr die gewünschte Antwort - ausführlicher, damit sie mich in den letzten Minuten nicht enttarnt. Sie überschreitet das Zeitkontingent und ich finde kein passendes Ende. Ich schwitze unter den Achseln und spüre die steil ansteigende Nervosität. Ich konzentriere mich auf den Schlussspurt.
Nach so vielen fragenden Blicken scheint sie schließlich  - in letzter Minute - ihre einmalige Chance erkannt zu haben, wird ausschweifend und erklärt sich ausladend. Ich werde innerlich extrem ungeduldig und spüre die aufkeimende Wut. Weshalb kommt sie nicht zum Schluss? Sie hatte genug Zeit für ihr Thema. Schweigend fixierte sie mich in meiner "Schreibmanie". Mein Herz pocht wild. Ich erröte.
Die Zeit ist um, ich bin innerlich völlig aufgebracht.
Dieses Experiment bringt mich an die Grenze meiner emotionalen Leistungsfähigkeit:
Ein sehr persönliches Gespräch führen und dabei Prosa dokumentieren.
Ich erhebe mich abrupt und zeige damit an, dass die Zeit um ist.
Die Frau scheint nichts bemerkt zu haben.
Mein Vegetativum durchrollt mich auf Hochtouren.
Nie wieder...
Nie wieder Multitaskingbetrug.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (11.04.17)
Die arbeitsteilige Gesellscchaft lässt den Mutitasking-Betrug alltäglich werden. Es ist wichtig, dass die Sensibilität für die Täuschung nicht verloren geht.
Gruß
Ekki
Graeculus (69)
(11.04.17)
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 Dieter_Rotmund (11.04.17)
Wie läßt sich denn mit "Finderkuppe (sic!) an Fingerkuppe" schreiben/tippen? Und was ist "antwiorten"?

 JoePiet meinte dazu am 11.04.17:
ich habe nicht nur geschrieben, sondern auch "zugehört" - kurz im Merkel-Stil. Der Tippfehler ist dir wohl aufgefallen...Danke dafür - habe ihn jorrigiert.
(Antwort korrigiert am 11.04.2017)

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 12.04.17:
Und die "Finderkuppe" ist korrekt???

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 05.07.20:
"... der Bildschirm und die Tastatur sind invers aufgestellt" ist unverständlich. Kann man aber auch einfach weglassen.
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