Ich bin gerade über einen Gedanken gestolpert. Ich meine, vielleicht ist es gar nicht so weit hergeholt, wenn es irgendwann keine Postmänner mehr gibt. Nein, nicht Merkur oder gar Hermes, das sind Assoziationen, die in eine andere Richtung zeigen. Von Filmen rede ich auch nicht. Ich meine diesen systematischen Archetyp, der vielleicht in einer zukünftigen Mythologie täglich ungefähr eine Million Buchstaben mit imaginärem Mindesthaltbarkeitsdatum eilig in eine Zentrale und wieder hinausbrachte. Ganz so, als handele es sich um verderbliche Symbolwaren, deren Aktualität von jetzt auf gleich, im nächsten Augenblick des Geistes, der sie geschrieben hatte, bereits obsolet sein könnten. In absonderliche Zeichen gepresste Gefühle und Gedanken, mit schwarzer Tinte oberflächlich konserviert und komprimiert in Stapel aus Papier. Dieses Chaos ist schon was Anderes als lauter eingebildete Nullen und Einsen. Aber genau den Postmann meine ich.
Als jener Postmann am Morgen dieses denkwürdigen Tages zielgerichtet auf das besetzte Haus zusteuerte, um dort etwas abzugeben, was er lapidar Brief nannte, sahen seine trüben Augen drei Gestalten vor der leicht demolierten Haustür, welche miteinander im Streit zu liegen schienen. Etwas abseits standen noch zwei Typen, doch die hätte er beinahe übersehen. Vielleicht RecyclingspezialistInnen, die sah er öfter um jene Zeit am frühen Morgen. Bei denen musste man zweimal hinhören, weil sie manchmal Dinge transportierten, deren Haltbarkeitsdatum durch die Etiketten darauf in die Vergangenheit verschoben war. Viele Menschen lasen und glaubten dem Etikett, und er hatte auch schon gehört, dass Menschen sogar das Datum des Poststempels auf seinen Briefen vielleicht nicht argwöhnisch oder misstrauisch, so doch sehr aufmerksam betrachteten. Wahrscheinlich um zu wissen, wie frisch die tintenen Gedanken darin vielleicht sein mögen.
Nach diesem kurzen Gedanken versuchte der Postmann das Gefühl der Verantwortung und damit auch den Impuls, sich schneller bewegen zu wollen zugunsten des Genusses zu unterdrücken, den er in jenen Augenblicken empfand. Seine Briefe stanken nie, auch die nicht, die er für andere austrug. Es mag sein, dass der eine oder andere etwas parfümiert gewesen sein mochte, so dass seine Augen die Absenderadresse kurz streiften. Doch er wollte sich nicht aufhalten lassen. So wie auch heute Morgen.
Als er auf den Hauseingang zuschritt, wandte sich ihm eine Person aus der aufgeregten Dreiergruppe entgegen. Der Postmann begrüßte sie:
Postmann: ""Guten Morgen ... Sagt mir, worüber streitet ihr?"
Person: "Er hat sie beleidigt."
Postmann: "Fragen wir sie, ob dies so ist."
Person: "Sie? Geht nicht."
Postmann: "Und was sagt Er dazu?"
Person: "Er hat auch nichts zu sagen."
Postmann: "Worum ging es?"
Person: "Um einen verbalen Gruß."
Postmann: "Ihr habt alle Recht."
"Und ich möchte gern an die Briefkästen.", fügte der Postmann hinzu, zwängte sich durch die Dreiergruppe hindurch, nickte kurz den anderen beiden im Abseits zu, und in diesem Augenblick wusste er nicht genau, was er empfand. Er dachte flüchtig an all die Briefe, und dass manchmal die Zeit deren schwarzweißen Symbolen schweigsam ihren Dienst erwies, um dem Betrachter mit Abstand ihre Farbenpracht zu enthüllen. Dann, wenn der Tag etwas lichter und die Bilder der Buchstaben besser erkennar sein würden.
An diesem denkwürdigen Tag ergaben sich erste Zweifel am Kalender.
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