Samuel stand ein letztes Mal auf seinem Leuchtturm, der vor zweihundert Jahren auf einem winzigen, der englischen Nord- Ostküste, also in Schottland, der Übergang von Nordsee zum Atlantik, auf einem vorgelagerten Felsenriff errichtet worden war und seitdem hartnäckig der heranbrandenden See trotzte. Wie ein warnender Finger reckte sich das eindrucksvolle Bauwerk fünfundvierzig Meter gegen den Himmel. Der Tidenhub der aufgewühlten See hatte ihren höchsten Wert gerade überschritten. Samuel blickte noch einmal auf die im sommerlichen Glanz strahlenden Häuser des Festlandes hinüber. Sonne und Wind hatten tiefe Furchen in sein braun grau gefärbtes Gesicht gegraben. Die großen, schwarzen Augen blitzten unter den buschigen Brauen wie aus dunklen Höhlen hervor und verliehen ihm ein außergewöhnliches und geheimnisvolles Aussehen. Sein Blick schweifte wehmütig hinauf zu den über ihn hinweg fliehenden, blau- stählernen Wolkenfetzen als wollte er sich von ihnen verabschieden – adieu sagen nach über sechzigjährigem, treuem Dienst hier als Leuchtturmwärter.
Fast täglich hatte er in all den Jahren den Salzhauch sowohl von der Nordsee und Atlantik von der alten Lichtbogenlampen fast täglich gewischt und die genaue Rhythmik des Leuchtfeuers überwacht. Wann immer ihm Zeit blieb, bediente er seine Kurzwellenstation und pflegte mit Funkamateuren aus vielen Ländern freundschaftlichen Kontakt. Natürlich auch zu befreundeten Seeleuten und Schiffen – weltweit, denn er fuhr als junger Mann zur See. Bis ein Unfall ihn zwang an Land zu bleiben und er diese Aufgabe hier gerne übernommen hat, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seine Stimme hatte etwas außergewöhnliches – sogar vielleicht Besonderes. Sie klang wie ein Kontrabass auf den Wellen zu Füßen seines Leuchtturms. So wusste jeder sofort, wer er war, wenn er am Mikrofon saß und sich über große Entfernungen mit Freunden unterhalten hat.
So hat er es zumindest sehr oft mir in unseren Gesprächen geschildert gehabt und ich konnte mich dadurch auch gut orientieren, was um ihn herum so alles passierte, an den ruhigen Tagen und Nächten die wir beide uns um die Ohren schlugen in der Vergangenheit und ich muss sagen er fehlt mir schon – der Sam wie ich ihn nennen durfte und er vieles aus seinem Leben mir anvertraut hat und ich mich sehr um Ihn persönlich sorge, denn er ist wie vom Erdboden plötzlich vor ein paar Wochen einfach grundlos verschollen.
Vor gut fünfundzwanzig Jahren lernte ich ihn auf diese besondere Art und Weise kennen und seinen Sachverstand sehr schätzen. An einem Sonntag- Nachmittag meldete er sich unter seinem Rufzeichen „ Tanga – Bravo - Lima - Delta“. Von da an unterhielten wir uns fast täglich über Jahre hinweg, über alles was sich so Tag für Tag ereignete und den anderen so auch etwas die jeweilige Person näher brachte. Natürlich auch das was ihn persönlich beschäftigte und bewegte, wie beispielsweise seine Familie, die Frau und Kinder die leider bereits verstorben war und die Kinder verheiratet und eigene Sorgen und Probleme zu meistern hatten, als wir beide Seemänner es nun einmal waren. Bis vor ca. einem halben Jahr und wurden wir im Lauf der Zeit wirklich gute und auch feste Freunde, obwohl wir uns noch nie persönlich begegneten. Er kam nicht nach Deutschland, ich nicht nach England um uns zu besuchen oder persönlich kennen zu lernen.
Jetzt, wo er ein letztes Mal auf seinem Leuchtturm stand, fragte er sich, was sein Leben wert gewesen sei, welchen Sinn es gehabt habe? Er war zu früh oder vielleicht auch zu spät in die Welt geboren worden, wo nun alles automatisch funktionierte und ein Computer seine Aufgaben übernommen hat, war er einfach überflüssig geworden und nutzlos. Seine Mutter ließ ihn einfach im Krankenhaus liegen. Er war ein Findelkind, denn auch der Name der Mutter war nicht mehr zurück zu verfolgen und bei der Anmeldung zur Entbindung falsch angegeben, wie sich später erst herausstellte. Sie wollte ihn nicht haben. War er schuld für die Verfehlung der Mutter für eine heimliche Liebesnacht mit seinem Vater den er natürlich auch nie kennen lernen durfte? Der Arzt hatte angeblich seiner Mutter nach der Entbindung mitgeteilt und gesagt, er sei angeblich geistig und körperlich behindert, tauge somit nicht zur Fortpflanzung und am Besten wäre es für Ihn wenn er gar nicht erst die erste Nacht überleben würde. Eine Krankenschwester der Entbindungsklinik adoptierte ihn aber und zog ihn liebevoll wie ihr eigenes Kind auf. Wie sich herausstellte war er kerngesund und auch in der Schule ein sehr talentierter und beliebter Schüler gewesen mit einem zweier Durchschnitt in jedem Zeugnis. Er wollte jedoch nicht studieren und entschied sich für die Christliche Seefahrt später bei der Berufsauswahl, was so ähnlich wohl auch für mich zutrifft und der Grund für unsere Gemeinsamkeit hatte. Nur mit dem Unterschied das ich nicht so ein guter Schüler wie er war und bei meinen leiblichen Eltern aufgewachsen bin. Später heiratete er und bekam eine Tochter, die er abgöttisch liebte und die nicht von seiner Seite wich, bis sie vor einem Jahr dreiundfünfzigjährig, kurz nach ihrer Mutter an einer heimtückischen Krebserkrankung verstarb.
Samuel ruderte wöchentlich einmal ans Festland, wo er einkaufte und auch öfters seine Frau und das Grab seiner Tochter besuchte und frische Blumen hier niederlegte um auch ein paar persönliche Gedanken mit Ihnen zu teilen, wie er immer sagte, war dies bisher seine einzige Abwechslung im Wochenverlauf. Meistens war das am Samstag oder auch Sonntag der Fall, wenn er keine Einkäufe zu erledigen hatte und natürlich auch nach seinem kleinen Häuschen schaute das ja einsam und verlassen war. Seine Tochter und auch seine frau mochte den Turm nie und dessen Hundert Stufen nicht und hatte ihn nie erklommen, um ihren Mann an seiner Arbeitsstelle zu besuchen. Er habe sich nur dorthin verkrochen, mutmaßte sie immer, um dem normalen Leben zu entrinnen. Er sei angeblich der größte Nichtsnutz, sei zu nichts zu gebrauchen. Keinen Nagel könne er gerade in die Wand schlagen. Alle anderen Männer, von denen seine Frau anscheinend sie reichlich viele kannte, seien in allem geschickter als er. Er habe sie sogar angeblich vor langer Zeit im Stich gelassen und werfe nur Augen auf andere Frauen oder sei nur für seine Tochter da. Wenn er einmal einer anderen Frau zulächelte, schickte sie ihn mit ihrer Eifersucht regelrecht in die Hölle. So knabberte sie Stück um Stück von seiner Liebe zu ihr aus dem Herzen. Trotzdem besuchte er sie treu und brav immer wieder auf dem Friedhof. Er brachte nicht den Mut auf, sich ihr gegenüber zu behaupten oder gar zu widersprechen, denn er wollte seine Ruhe haben und war froh wenn er seinem Beruf nachkommen durfte. Seine Ehe war weder Fisch noch Fleisch und hing sehr oft an einem sehr dünnen Faden, der stets zu reißen drohte. Hätte er seinen Beruf nicht mehr ausüben können oder nur ein Bein verloren, wäre seine Ehe wie ein morsches Boot im brausenden Meer zerschellt. Er hielt sie jedoch aufrecht, wo er sie hätte längst lösen müssen und verlor nicht nur die Achtung seiner Bekannten und Freunde, sondern auch die, vor sich selbst, denn er wusste das sie Ihm nie eine treue Frau gewesen war und verschwieg dies auch nicht wenn er sie danach fragte, auf Grund der Gerüchte die er aufschnappte wenn er im Dorf unterwegs war zum einkaufen. Er war immer über alle Amouren seiner Frau bestens informiert.
Am Ende sprang er einmal fast von seinem Turm als sie sich angeblich von Ihm scheiden lassen wollte und zusammen mit einem Zigeuner über Land ziehen wollte. Aber auch das verzieh er seiner Frau wie er mir anvertraute in einem ganz persönlichen Gespräch vor ein paar Jahren. Er erzählte mir weiter, wie er sich es vorstellt wenn er so einmal handelt. Im Fallen überwältigte er seine Schwäche und es wurde ihn dabei ganz federleicht. Niemand zerrte mehr an ihm – außer die Erde, die ihn zurückhaben wollte. Doch Samuel breitete die Arme, die inzwischen im Flug bei Ihm zu Flügel geworden waren, weit aus – wie er es schon tausendfach bei den Silbermöwen beobachtet hatte. So wenn sie den Aufwind an den aufgeheizten Mauersteinen seines Turmes nutzten, und sich wie in einer Sänfte in die Höhe tragen ließen. In einer elegant durchzogenen Linkskurve schwang er über seinen Turm hinweg in die Höhe und schon bald kam ihm dieser wie eine bedeutungslose Winzigkeit vor, welche er unter und hinter sich zurückließ. Er überwand seine, diese eigenen kleine Welt und segelte in immer größerer Höhe der untergehenden Sonne entgegen, deren Glanz seinen Blick weitete für ein Wiedersehen mit der geliebten Tochter, die er in seiner Phantasie immer noch in den Armen hielt.
Als ich ihn jetzt vor ein paar Wochen selbst spontan einmal besuchen wollte und nach ihm vor Ort fragte, sagte man mir, Sam wie ich ihn immer nannte, sei schon seit einem viertel Jahr wie vom Erdboden verschwunden. Man habe nichts mehr von ihm gehört, nur sein Boot sei leer und leckgeschlagen vor ein paar Wochen am Strand vor dem Leuchtturm gesichtet worden. Alle vermuteten das er wohl bei einem Wintersturm vor Weihnachten umgekommen sei denn seit Januar hat man ja die neue Technik im Einsatz wo er viele Jahre zuvor für die Menschen hier und natürlich auch die vorbeifahrenden Schiffe immer ansprechbar war, wurde es auf einen Schlag ganz still….
Sehr gerne hätte ich ihn persönlich kennen gelernt, was nun ja leider nicht mehr möglich ist und sollte er vielleicht irgendwo wieder auftauchen und so aus Neugier nach mir frage, so lasse ich Ihn gerne grüßen und würde mich freuen wenn er sich wieder einmal meldet mit: „ Tango – Bravo - Lima – Delta“ und natürlich unserem Geheim Zeichen das nur er und ich kennen, denn das er noch lebt ist sicher für mich – doch leider weis ich nicht wo das ist, denn vor ein vorgestern habe ich deutlich seine Stimme am Telefon erkannt. Leider ist das Gespräch plötzlich unterbrochen worden und da die Rufnummer unterdrückt war konnte ich auch nicht zurück rufen. Weder in seinem Haus hatte er ein Telefon, oder in seinem Heimatort, wo ich danach versuchte Ihn zu erreichen wurde er je wieder gesehen – der alte Leuchtturmwärter, der er ein für allemal bleiben wird und mir auch so in Erinnerung bleiben wird.
Copyright: F. May bei KV veröffentlicht am 03.03.2018
mein Buch Nr.: 006