Reisen ohne Elfenbeinballon (8) - Im Schatten des großen Organs

Lyrischer Prosatext

von  autoralexanderschwarz

I
Wir sind wieder Legion. Wir sind viele geworden:
Unsere bloße Masse überflutet alle Burggräben,
durchspült problemlos die verwinkeltesten Labyrinthe,
reißt alle Hindernisse mit sich
in die Belanglosigkeit;
wir machen mobil,
wir erzwingen den Gleichschritt,
finden einen verlorenen Takt,
marschieren, marschieren,
ausgezogen sind wir, um das große Organ zu zerfleischen:
alles flüchtet schon jetzt vor unseren Spähern.

Manch einer von uns bleibt unterwegs auf der Strecke,
die Idealisten desertieren schon in den ersten Tagen,
Expressionisten erhängen sich seufzend auf Bahnhofstoiletten,
Romantiker flüchten sich in die Einsamkeit,
Kreise schließen sich und einige von uns
vergehen in der Savanne vor Heimweh.
Doch wir sind immer noch genug und zäh;
abends verteilen wir Musikinstrumente
und weiche Kissen für die Nacht.

II
In der Dämmerung besetzen wir die umliegenden Hügel,
Bogenschützen und Speerwerfer bewegen sich in Position,
Krieger entlegener Barbarenstämme tanzen sich schreiend in den Blutrausch,
Messer werden gewetzt und ausgehungerte Hunde zerren an ihren Ketten.

Wir sind unserem Ziel ganz nah, spüren unsere Hybris tief unter dem organischen Fleisch, wir sind wer wir sein wollen, japanische Generäle, die über die Fahnenschwenker mit kleinsten Gesten die Massen bewegen. Unser Heer füllt nun die anliegenden Täler und als sich der Nebel lichtet, sehen wir endlich das große Organ, das noch nichts von unserer Streitmacht weiß und verträumt-naiv-ahnungslos Blut durch seine riesigen Kammern pumpt.

III
Unser Angriff steht kurz bevor,
aus sicherer Entfernung bestaunen wir das große Organ,
das an den Felsen emporgewachsen diese um ein Vielfaches überragt;
wenn man den Kopf auf den Boden legt, spürt man,
dass die ganze Erde pulsiert,
„es ist so einzigartig groß“, sagt der Steuermann mit trauriger Stimme,
„und es ist so schön, so unschuldig, so hilflos.“

Mit verträumten Augen betrachten wir das große Organ,
das so frei in alle Richtungen gewachsen ist,
wir haben es nie erkannt,
doch wir haben es bereits vor langer Zeit in unseren Träumen gesehen,
das große Organ,
das sich mit seinem feinen Aderwerk
an unserer verlorenen Hybris satt getrunken hat.
Selten wohl fand ein Gefühl so reiche Nahrung.
Wir zögern, doch wir haben keine Wahl
und mit feuchten Augen
geben wir das Signal
zum Angriff.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Der obenstehende Text ist Teil der Textsammlung „Reisen im Elfenbeinballon“, die im Athena-Verlag erschienen ist.  Reisen im Elfenbeinballon

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram