Reisen ohne Elfenbeinballon (7) - Dojo

Lyrischer Prosatext

von  autoralexanderschwarz

I
Als wir in einem entlegenen Dorf unsere Lebenslinien vergleichen,
überrascht uns eine Wahrsagerin mit einer ernsten Botschaft.
Nachdem sie erst gelangweilt
und dann mit wachsender Bestürzung
in ihre Kugel geblickt hat,
redet sie zu uns in fremden Zungen:

„Ihr werdet eure Hybris finden“,
sagt sie mit milchigen Augen,
„ihr werdet wieder schweben“, flüstert sie,
„aber es wird nur gelingen,
wenn ihr zuvor das große Organ erschlagt,
das im Abglanz eurer Hybris gewachsen ist
und nun alles Andere überwuchert.“

Damit beißt sie sich in die Zunge, spuckt Blut über ihre rechte Schulter
und verschwindet in Schall und Rauch.

Wir bleiben zurück, meditieren und erkennen:
unsere Prosa ist für den Moment zu aristokratisch geworden,
noch immer hassen wir alle Patrizier aus tiefstem Herzen
und wir brauchen die breite Masse,
um das große Organ bezwingen zu können.
Wir beschließen eine einfachere Form zu wählen:
wir denken uns zurück bis in die Zelle,
dann teilen wir uns.

II
Wir sind wieder viele und
wir planen am Reißbrett,
stecken die Köpfe zusammen,
wir hecken Pläne aus, ahnen,
wie wir das große Organ bezwingen können.

Im Dojo stählen wir uns zwischen jungen Drachen und alten Meistern,
wir hantieren mit schweren Worten und vulgären Zischlauten,
zertrümmern Epenthesen mit bloßen Schienbeinen,
wir mischen Tränke, die unsere Prosa verjüngen
und spalten syntaktische Steinplatten
mit rhythmischen Handkantenschlägen.

Wir werden mit jedem Tag stärker,
bis irgendwann
niemand mehr
unsere Pratze
halten möchte;
wir kämpfen für uns allein
und mit unseren eigenen Schatten.

Schließlich sind wir so stark,
dass wir den Mond
mit unserem Chi
beeinflussen können.

In den frühen Morgenstunden sammeln wir uns,
um mit unserer Streitmacht
dem großen Organ
entgegenzuziehen.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

Der obenstehende Text ist Teil der Textsammlung „Reisen im Elfenbeinballon“, die im Athena-Verlag erschienen ist.  Reisen im Elfenbeinballon

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