Der Duft der Frau

Schundroman

von  unangepasste

Schon seit einer Stunde sitzt er über dem Formular. Mit seinen neunzig Jahren fällt ihm das Lesen schwer. Seine Hände zittern, als er mit dem Vergrößerungsstab über die Zeilen fährt. Alter: Wie auf dem Foto, plus 5 Jahre … Mehr als zwanzig hält der Vordruck nicht als Option bereit, doch dann wäre der Unterschied zwischen seiner künftigen Frau und ihm immer noch riesig. Würde er sie überhaupt wiedererkennen, immer noch lieben? Vielleicht hat sie sich seit dem Foto verändert. Lange hat er mit seiner sorgfältig vorbereiteten Entscheidung gewartet. Zu lange? Als er versucht hatte, die Frau zu küssen, in jüngeren Jahren, konnte er keine Gefühlsregung an ihr wahrnehmen. In Zukunft liegt alles in seiner Hand. Noch einmal will er an seine uralte Sehnsucht anknüpfen und spüren, was es damit auf sich hat, mit dem eigenartigen Wort „Glück“.   
Es ist nicht leicht gewesen, alle Informationen über sie zu sammeln, denn er wusste nur wenig über sie und traf sie selten. Eine Fotografie zu bekommen, war noch am einfachsten. Aber eine Aufnahme ihrer Stimme, eine Geruchsprobe … Er erinnert sich gern daran, wie er sich Punkt für Punkt an der Liste entlangarbeitete, damals, als er noch Zug fahren konnte. Jede noch so kleine Beute war ein Triumph, ließ ihn aufgeregt werden und seine Augen funkeln wie die eines Kindes.
Erschöpft setzt er das letzte Kreuz, verstaut alle Informationen in einem Paket und legt es in den Flur zu den anderen Briefen, die er morgen dem Pflegedienst mitgeben wird. 

Die Lieferung kommt früher als erwartet. Als es klingelt und er auf den Türöffner drückt, hört er Schritte die Treppe heraufkommen. Der Rhythmus ist ihm vertraut. Schon Jahrzehnte zuvor war ihr Gang einen Hauch zu schnell. 
Ein wenig irritiert ihn, dass er bei jedem Schritt ein Quietschen vernehmen kann. Doch es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn sie steht bereits vor ihm. Mit einer festen Umarmung begrüßt er sie, versenkt seine Nase in ihren Haaren und versucht, ihren unverwechselbaren Duft wiederzuerkennen.
Sie weicht von ihm, blickt verunsichert zu Boden und sucht sich einen Platz auf dem Sofa. Vor lauter Aufregung hat er vergessen, die Taste zu betätigen, die er zusätzlich bestellt hatte, um die Gewöhnungsphase zu deaktivieren. Er packt die Fernbedienung aus; zunächst sträubt sie sich und will das Gerät für sich behalten, doch am Ende gelingt es ihm, es an sich zu nehmen. „Zum Ausschalten menschlicher Vorsicht muss der Menüpunkt ‚Unromantisches Verhalten‘ ausgewählt und deaktiviert werden“, steht in der Bedienungsanleitung.
Am liebsten hätte er seine neue Frau sanft über die Schwelle gehoben, ins Schlafzimmer getragen und auf dem schwarzen Laken niedergelegt, doch dafür ist er zu schwach. Er hält nur ihre Hand und tippt ihr mit der anderen an den Rücken, um die Richtung anzuzeigen. Immer noch ist er verwundert über das Quietschen, das er jetzt ihren Knien zuordnen kann, doch die Sehnsucht nach Nähe ist größer und gewinnt nach all den Jahren die Oberhand.
Seine Hände sind überall. Sie liegt teilnahmslos auf dem Bett, doch er merkt es nicht. Als er ihre rechte nimmt und auf seinen Rücken legt, beginnt sie, ihn zu streicheln. Ein metallischer Geruch strömt von den Fingern aus, und die Bewegung ist mechanisch. Er küsst sie, erst auf die Wangen, dann tiefer. Irgendetwas stimmt nicht, denkt er, denn seine Lippen schmecken Öl. War mit der Geruchsprobe etwas schief gelaufen? Das konnte nicht sein, hatte er sie doch Jahre verschlossen in einer Tüte im Kleiderschrank verwahrt. Es war nicht leicht gewesen, seiner Angebeteten den Pullover zu entwenden, und diese Probe war sein ganzer Stolz. Er hatte sie nie wieder hervorgeholt bis zu jenem Tag, als er den Nachbau bestellt hatte, denn er hatte Angst, dass der Duft verfliegen könnte.
„Darf ich deinen Pullover ausziehen?“ Sie streckt die Arme nach oben, während er zieht. Eng aneinander gelehnt liegen sie da. Noch einmal versucht er, sie zu küssen, stützt sich mit beiden Händen ab und lehnt sich über sie. Sein Gebiss rutscht im Mund hin und her. Dann sind nur noch der Atem und das Ticken des Weckers zu hören.
„Ich muss mal ins Bad“, sagt sie. Das sind die ersten Worte, die sie spricht. Sie klingen nicht nach ihr – doch, die Stimme erinnert entfernt an sie, aber sie hört sich an wie eine Tonaufnahme und ihr fehlt jeder natürliche Rhythmus. Der Abstand der Wörter entspricht den Zugansagen der Deutschen Bahn.
Die Frau schließt die Tür hinter sich, holt eine Pappschachtel aus ihrer Handtasche, öffnet sie und beginnt, ein Gelenk nach dem anderen mit Getriebeöl zu bearbeiten. Anschließend rastet sie die Klappen ihrer Gelenke mit einem verhaltenen Klicken ein. Als sie damit fertig ist, kehrt sie zurück und legt sich neben ihren Mann. Sie riecht strenger, denkt er. Um eine Reklamation wird er wohl nicht herumkommen. Noch einmal drückt er sie an sich und flüstert: „Ich bin gleich zurück“.
Im Nebenzimmer greift er nach dem Telefonhörer. „Herr Haifisch am Apparat.“
„Was kann ich für Sie tun?“
„Ich habe bei Ihnen eine Spezialanfertigung bestellt, die nach menschlichen Proben und meinen Angaben gebaut wurde. Leider quietscht das Modell und hat einen penetranten Geruch. Ihre Angaben besagen, dass Ihre Roboter menschenähnliche Qualitäten haben und sogar den Duft der angebeteten Person verströmen. Das ist bei meinem Exemplar leider nicht der Fall.“
„Haben Sie es schon einmal neu gestartet?“
Er verneint und geht zurück ins Schlafzimmer. Seine Frau streckt die Arme rechtwinklig vom Körper, als sie ihn empfängt. Er lässt sich dort nieder und drückt unauffällig die Reset-Taste der Fernbedienung. Ein leises Schnarchen beginnt, hört jedoch nach fünf Minuten wieder auf und wird durch ein metallisches, kaltes Reiben auf seinem Rücken ersetzt. Er beginnt erneut, Küsse zu verteilen, erst auf den Hals, dann wird er immer wilder. Sein Puls steigt, sein Atem wird unruhig. Auf einmal stürzt er nach unten.
Wäre noch jemand im Raum gewesen, hätte es gewiss so ausgesehen, als hätte sich der Roboter erschreckt. Da die Frau jedoch allein ist, springt das Programm zur Simulation von menschlichem Verhalten nicht an. Sie setzt sich an die Bettkante, legt die Beine übereinander und fragt, was sie als nächstes tun soll. Dann hebt sie seine Hand und lässt sie aufs Bett fallen. Diese Bewegung wiederholt sie dreimal hintereinander. „Tot“, sagt sie, ebenfalls mehrfach, auf der Suche nach der richtigen Tonlage, und klingt dabei wie eine Störungsansage der Deutschen Bahn.
Sie verlässt den Raum, schließt leise die Tür, greift nach dem Telefon und wählt die Nummer des Service-Technikers.

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Kommentare zu diesem Text

Marjanna (68)
(21.04.18)
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 unangepasste meinte dazu am 21.04.18:
Möglich wird es bestimmt in nicht allzu ferner Zukunft.
Dieter Wal (58)
(21.04.18)
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 unangepasste antwortete darauf am 21.04.18:
Meinen Geschmack trifft es nicht ganz Der "Vorteil" wäre ja die Abwesenheit von eigenem Willen. Dieser Roboter scheint mir nicht ganz willenlos. Einer der Punkte, der den Herstellern wohl beim Imitat gelungen ist - im Gegensatz zum Ölgeruch.
Dieter Wal (58) schrieb daraufhin am 24.06.18:
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 Isaban (21.04.18)
Mich würde selbst ein Roboterhund gruseln, der nach Hundepups duftet, aber die Träumen-Roboter-von-elektrischen-Schafen-Ära ist vermutlich nicht mehr fern, schließlich sollen ja bald alte Menschen von Robotern gepflegt werden...

Den blinden Al Pacino vor Augen (Frauen, wer hat sie erschaffen, diese herrlichen Wesen - Gott muss ein verdammtes Genie sein. Ihre Haare, Haare sind das Wichtigste. Titten, huah! Manche sind groß, andere klein, Brustwarzen, die dich anstarren, als wären sie kleine Scheinwerfer. Beine, egal, ob sie lang und schlank sind oder richtige Kartoffelstampfer, denn dazwischen liegt der Weg ins Paradies.), ein eher schüchterner, sehr menschlicher Roboter (bisschen Nase pudern muss sein!), ein eher unmenschlicher menschlicher Kunde (Fernbedienung für "seine Frau", da würden selbst Russ Meyer und Ira Levin erblassen!) und die Stimme der Deutschen Bahn - gruseliger geht es kaum mehr!

Lieben Gruß

Sabine

Kommentar geändert am 21.04.2018 um 11:17 Uhr

 unangepasste äußerte darauf am 21.04.18:
Vielleicht müsste man mit einem Roboter-Hund nicht Gassi gehen Aber im Ernst, mich würde es auch gruseln.
Wer weiß, vielleicht bekommt meine Generation schon so einen Roboter-Pfleger im Heim - zu Hause selbstverständlich nicht, da in der Herstellung zu teuer. Dann dringt die einzige menschliche Äußerung, die man am Tag noch hört, wohl aus dem Fernseher.
Lieben Gruß zurück!
Dieter Wal (58) ergänzte dazu am 24.06.18:
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 princess (21.04.18)
Kein schlechter Tod. Oder bin ich zu unromantisch?

Liebe Grüße
Ira

 unangepasste meinte dazu am 21.04.18:
Ich glaube, aus Sicht des alten Herrn hast du Recht
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